Koalitionsstreit über Flüchtlingspolitik: Wie groß ist der Widerstand gegen Angela Merkel?
Die Bundeskanzlerin steht in der Flüchtlingsfrage unter ungewohnt hohem Druck. Wie positionieren sich die Unionsparteien und der Koalitionspartner SPD? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Druck von allen Seiten: In der eigenen Partei rumort es, die CSU will schärfere Grenzkontrollen per Verfassungsklage erzwingen, der Koalitionspartner SPD setzt sich ab. Für Angela Merkel brechen schwere Zeiten an. Die Kanzlerin und CDU-Chefin kommt womöglich nicht mehr umhin, ihre Flüchtlingspolitik zu korrigieren – zumal sie auch zunehmend den Rückhalt in der Bevölkerung verliert.
Wie ist die Stimmung in der Union?
Grottenschlecht. Bei den Sitzungen der Bundestagsfraktion sitzt die Kanzlerin zunehmend auf einer Art Anklagebank. Zur Not, so tönen bereits einige der besonders Erzürnten, müsse man das Problem eben ohne Merkel lösen. Der hessische CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch fordert ganz offen eine andere Einwanderungspolitik und ergänzt dies mit der Bemerkung, dass sich viele freuen würden, „wenn das mit Angela Merkel möglich ist“. Die frühere Vertriebenenchefin Erika Steinbach warnt Merkel davor, „die Demokratie in ihren Grundfesten zu erschüttern“.
Und die drei CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Christian von Stetten und Ingo Wellenreuther haben dem Kanzleramt eine Aufforderung zur Sicherung der deutschen Grenzen zukommen lassen, zu der sie zum Wochenbeginn noch eine Unterzeichnerliste nachreichen wollen. Deutschland stehe vor einer „Überforderung“, heißt es darin, das Land könne auch rechtlich nicht zu „Unmöglichem“ verpflichtet werden.
Die von der Regierung angestrebte europäische Lösung sei „in absehbarer Zeit“ nicht erreichbar, „jedenfalls nicht so schnell, wie das angesichts des anhaltenden Zustroms von Flüchtlingen unbedingt notwendig wäre“. Und deshalb halte man „eine Änderung der derzeitigen Zuwanderungspraxis – aus humanitären Gründen – durch die Rückkehr zur strikten Anwendung des geltenden Rechts für dringend geboten“. Unterzeichnet haben den Brief nicht nur die üblichen Querulanten, sondern auch wichtige Innenpolitiker wie Armin Schuster (CDU) oder Stephan Mayer (CSU).
Selbst CDU-Abgeordnete, die bisher hinter Merkel standen, wie der Wirtschaftsexperte Michael Fuchs oder Fraktionsvize Ralph Brinkhaus, gehen auf Distanz. Wenn man bei einer europäischen Lösung nicht weiterkomme, müsse man „neue Wege gehen“, drängt auch Hessens Regierungschef Volker Bouffier. Unterstützung kam am Wochenende nur von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Merkels Kurs sei „auf Dauer der einzig tragfähige Weg“, beharrte sie gegenüber der „Bild“-Zeitung. Allerdings forderte auch sie mehr Tempo bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise.
Welche Rolle spielen die bevorstehenden Landtagswahlen?
Eine ganz erhebliche. Am 13. März wird in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt gewählt. Und die Umfragewerte verheißen nichts Gutes für die Union. Laut Infratest zum Beispiel kommt die CDU in Mainz grade mal auf 37 Prozent, für Schwarz-Gelb und eine Ablösung von Malu Dreyer (SPD) würde das nicht reichen. Und die prophezeiten 35 Prozent im Südwesten machen dem grünen Regierungschef Winfried Kretschmann auch nicht so richtig Angst.
Außerdem könnte die rechtspopulistische AfD mit Umfragewerten von acht bis elf Prozent in alle Landtage einziehen. Für deren Zuwachs machen in der Union viele die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin direkt verantwortlich. Laut Politbarometer steht die Kanzlerin bei den Bürgern inzwischen so schlecht da wie seit über vier Jahren nicht mehr. Laut Emnid halten nur noch 37 Prozent ihren Kurs in der Flüchtlingsfrage für richtig.
Und wie blank die Nerven liegen, zeigte sich am Wochenende in der Rigorosität, mit der die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Julia Klöckner den CDU-Honoratior und Finanzminister Wolfgang Schäuble abmeierte. Einige Telefonate, schon durfte sie verkünden: Schäubles Vorschlag, die Flüchtlingskrise über eine Benzinsteuer mitzufinanzieren, sei vom Tisch.
Wie verhält sich die CSU?
Schon am Mittwoch muss Angela Merkel wieder zur CSU nach Wildbad Kreuth, diesmal zur Klausur der Landtagsfraktion. Und die bayerischen Abgeordneten werden die CDUChefin dort aller Voraussicht nach noch deutlich harscher angehen als die Landesgruppe der CSU-Bundestagsabgeordneten, die ja in Merkels Unionsfraktion eingebunden ist und ihr vor zwei Wochen dennoch die Leviten las. Man werde der Kanzlerin einen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung der geforderten Obergrenze für Flüchtlinge überreichen, hieß es.
CSU-Chef Horst Seehofer hat an diesem Wochenende bereits klargemacht, dass er sich nicht länger hinhalten lassen will. Via „Spiegel“ stellte er Merkel ein neues Ultimatum. „In den nächsten 14 Tagen werden wir die Bundesregierung schriftlich auffordern, an den Grenzen wieder rechtlich geordnete Verhältnisse herzustellen“, sagte er dem Magazin. Und wenn dies nicht geschehe, werde „der Staatsregierung gar nichts anderes übrig bleiben, als vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen“.
Mit dem Gang nach Karlsruhe hatte Bayerns Regierungschef dem Kanzleramt schon im Oktober vergangenen Jahres gedroht. Aufgrund von Gutachten der ehemaligen Verfassungsrichter Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier fühlt er sich für diese Konfrontation jetzt juristisch gestärkt. Der Bund sei „verpflichtet, wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder einzuführen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“, heißt es in di Fabios Resümee. Auch finanziell droht Seehofer der Bundesregierung. Weil deren Politik möglicherweise nicht rechtmäßig sei, müsse man auch „darüber nachdenken“, ob sich der Bund nicht verstärkt an den Flüchtlingskosten zu beteiligen habe.
Inwieweit steht die SPD noch hinter Merkels Flüchtlingspolitik?
Auf die Solidarität der Sozialdemokraten kann sich die Kanzlerin nicht mehr verlassen. Zwei Monate vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt gehen die Genossen auf größtmögliche Distanz und schieben der Regierungschefin die Verantwortung für die unvermindert hohen Flüchtlingszahlen zu.
Den Anfang machten Ende vergangener Woche Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und Altkanzler Gerhard Schröder mit kaum verklausulierten Forderungen nach einem Kurswechsel. Wenn es Merkel nicht gelinge, die EU-Außengrenzen zu sichern, um den Flüchtlingszuzug zu drosseln, werde es ein „Comeback der Binnengrenzen“ geben, prophezeite Weil. Schröder ging noch weiter, warf Merkel vor, den unbegrenzten Zuzug zur Normalität gemacht und die Bedeutung nationaler Grenzen infrage gestellt zu haben. Die sei „falsch und gefährlich“.
SPD-Chef Sigmar Gabriel kommt das offenbar gerade recht. In SPD-Kreisen wurde am Sonntag gemutmaßt, Weil und Schröder hätten ihre Attacken mit dem Parteivorsitzenden abgestimmt. Gabriel selbst, als Vizekanzler zu einem Mindestmaß an Koalitionsdisziplin verpflichtet, vermied es, Merkel direkt zu kritisieren.
Aber er erhöhte den Druck. Bis zum Frühjahr, spätestens bis zum Frühsommer müsse es „ein wirksames Abkommen mit der Türkei“ zur Sicherung der EU-Außengrenze geben, sagte er zu Beginn der SPD-Vorstandsklausur am Sonntag in Nauen bei Berlin. Jeder wisse, dass der Flüchtlingszuzug in diesem Tempo nicht anhalten dürfe. „Wir brauchen eine Verringerung der Zuwanderungszahlen. Wir können mit Sicherheit im laufenden Jahr nicht noch einmal eine Million Menschen integrieren.“
Warum gehen die Genossen auf Abstand?
Merkel muss liefern – das ist die Botschaft der SPD zu Beginn des Wahljahres 2016, in dem in gleich fünf Bundesländern Weichen für die Wahl im Bund 2017 gestellt werden. Gelingt es der Kanzlerin nicht, den Zuzug zu drosseln, soll sie, und nur sie, den politischen Preis bezahlen.
Es ist auch eine Flucht nach vorn, die Gabriel da antritt. Die SPD steht in der Flüchtlingskrise selbst unter erheblichem Druck. Auch ihre Anhängerschaft setzt sich mehrheitlich nicht aus Verfechtern einer Willkommenskultur zusammen, im Gegenteil. Bei vielen SPD-Wählern, etwa aus dem Facharbeitermilieu, herrscht große Skepsis, weckt die Flüchtlingskrise Ängste vor Verteilungskämpfen und Überfremdung. Gabriel weiß nicht erst seit der Kölner Silvesternacht um diese Vorbehalte, jetzt trägt er ihnen mit einer Kurskorrektur Rechnung.
In Nauen gab er das Leitbild vom starken Staat aus, der nicht nur für soziale, sondern auch innere Sicherheit garantiert. Passend dazu ließ er sich noch vor Beginn der Klausur von der „Waz“ mit Sätzen zitieren, an denen der rote Law-and-Order-Innenminister Otto Schily helle Freude gehabt hätte. Die „chaotische Zuwanderung“ müsse ein Ende haben, bessere Grenzkontrollen seien unabdingbar. „Einfach durchwinken, keine vernünftige Registrierung und kein Datenabgleich in Europa – das führt eben dazu, dass sich selbst Kriminelle und Terroristen wie der Paris-Attentäter unerkannt durch Europa bewegen können.“
Wie geschlossen steht die SPD hinter Gabriels Kurswechsel?
Mit seiner härteren Gangart in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik riskiert der SPD-Chef neuen innerparteilichen Streit. Dass er Merkel und deren Innenminister Thomas de Maizière die Verantwortung für die Senkung der Flüchtlingszahlen zuweist, wird von den meisten Spitzengenossen noch mitgetragen. Auf dem linken SPD-Flügel wecken Gabriels harsche Töne aber Misstrauen. Die SPD-Linken haben den Vorsitzenden ohnehin im Verdacht, die SPD im Parteienspektrum nach rechts schieben zu wollen.
SPD-Vize Ralf Stegner warnte in Nauen denn auch hinter verschlossenen Türen, die SPD dürfe die Union jetzt nicht rechts überholen. Sollte sich dieser Eindruck im linken Flügel verfestigen, droht Gabriel auch öffentlicher Widerspruch. Ein solcher Richtungsstreit würde wiederum die SPD-Wahlkämpfe in den Ländern belasten, von deren Ausgang Gabriels politisches Schicksal abhängt. Gehen alle drei Landtagswahlen im März verloren, steht er als SPD-Vorsitzender zur Disposition.
Wie reagiert Angela Merkel auf die zunehmende Kritik?
Nach außen hin prallt sie an ihr ab. Die Grenzen komplett abzuriegeln, kommt für Merkel ebenso wenig infrage, wie das Recht auf Asyl mit einer Obergrenze auszuhöhlen. Bei beidem würde sie auch politisch ihr Gesicht verlieren. Allerdings werden, nachdem eine bessere Umverteilung von Flüchtlingen in der EU nicht vorankommt und auch die Verhandlungen mit der Türkei auf der Stelle treten, in ihrem Umfeld längst auch andere Ideen durchgespielt.
So gebe es Überlegungen, an den deutschen Grenzen wenigstens bestimmte Flüchtlingsgruppen, wie etwa Afghanen, abzuweisen, berichtete der „Spiegel“. Außerdem erwäge man in der Unionsspitze, Slowenien und möglicherweise auch Kroatien mit deutschen und österreichischen Polizisten bei der Sicherung ihrer Außengrenzen zu helfen. Asylbewerber ohne gültige Papiere sollten dort dann zurückgewiesen werden. Über einen entsprechenden Vorschlag habe Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner am vergangenen Mittwoch mit der Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Emily Haber, verhandelt.