Krawalle beim G20-Gipfel: Wie gefährlich ist die linksextremistische Szene?
Das andere Extrem: Jahrelang standen Taten von Rechten im Fokus, die Vorfälle von Hamburg rücken plötzlich linke Gewalt in den Blickpunkt. Fragen und Antworten.
Verletzte, Verhaftungen, Verwüstungen: Die Bilder vom Krawallexzess in Hamburg gingen um die Welt – und Deutschland diskutiert über linken Extremismus. Vergleichbar mit den Debatten um rechtsextreme Gewalt nach dem Ende der Terrorzelle NSU oder nach den rassistischen Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre richtet sich der Blick auf die Szene der Autonomen und sonstigen linken Militanten. Seit dem Terror der Roten Armee Fraktion gab es nicht mehr soviel Aufmerksamkeit für linksextreme Gewalttaten. Eine Rolle spielt auch der prominente Anlass der heftigen Proteste. Da der G-20-Gipfel weltweit Beachtung findet, sind die Angriffe der militanten Gipfelgegner ein globales Medienereignis – sogar mehr noch als die auch schon heftigen Ausschreitungen im März 2015 während der Eröffnung der EZB-Zentrale in Frankfurt am Main.
Welche Linksextremen agierten in Hamburg?
Treibende Kraft bei den Krawallen war offenkundig die heimische Szene der gewaltorientierten Linksextremisten. Die Demonstration mit dem Motto „Welcome to Hell“ war eine Art Auftakt. Donnerstagabend bildeten am Fischmarkt etwa 2000 Autonome und Antiimperialisten einen schwarzen Block, es folgten 8000 weitere Protestierer. Die Gipfelgegner aus Hamburg, dem Bundesgebiet und dem Ausland wurden allerdings früh von der Polizei gestoppt. Kurz darauf begann die Randale und setzte sich bis tief in die Nacht fort.
Angemeldet hatte die Demonstration einer der Hamburger Autonomen-Anführer, Andreas Blechschmidt. Er agiert von der Roten Flora aus, dem seit 1989 besetzten, ehemaligen Theater im Schanzenviertel. Das zweistöckige Autonomenzentrum liegt an der Straße Schulterblatt. Sie war in der Nacht zu Sonnabend das Epizentrum der Ausschreitungen.
Die Autonomen agierten mit einer Doppeltaktik. Hamburger und Auswärtige traten geballt auf, wie bei der Demo „Welcome to Hell“ und in der Krawallnacht im Schanzenviertel, sowie in Kleingruppen, die durch Straßen zogen, Autos anzündeten und Graffiti sprühten. Die einheimischen Autonomen scheinen aber nur teilweise in der Lage oder willens gewesen sein, die angereisten Militanten zu dirigieren und auch unter Kontrolle zu halten.
Als Freitagabend im Schulterblatt Läden geplündert und zerstört wurden, waren offenbar mehrheitlich zugereiste Chaoten aus dem In- und Ausland aktiv. Blechschmidt sagte am Sonnabend, die Stimmung sei gegen 21.30 Uhr gekippt. Da brannten schon längst Barrikaden, aber die Attacken auf die Geschäfte waren offenbar nicht im Sinne der Roten-Flora-Leute, die sich als Institution im Kiez empfinden und bislang auch von einem Teil der Anwohner toleriert wurden.
Sicherheitskreise sagen, aus mehreren europäischen Ländern seien militante Linksextremisten nach Hamburg gefahren; allein 200 aus Italien, heißt es, dazu Autonome aus Skandinavien, Frankreich, Griechenland, Spanien und weiteren Staaten. Es sei aber noch nicht ermittelt, wie groß der Anteil in- oder ausländischer Linksextremisten an den Krawallen war.
An der friedlichen Großdemonstration am Sonnabend beteiligten sich neben autonomen Gruppen auch viele andere Linksradikale. Zu sehen waren unter anderem Symbole der gewaltorientierten deutschen Gruppierungen „Interventionistische Linke“ und „ums Ganze!“, der kurdischen Terrororganisation PKK und ihres syrischen Ablegers YPG, der türkischen Devrimici Yol, der deutschen Maoistentruppe MLPD, der DKP und der trotzkistischen SAV.
Sind die Randalierer überhaupt links?
In der Masse ja. Auch wenn vermutlich unpolitische Leute mit Ballermann-Mentalität beim Plündern zugegriffen haben, sind die Krawalle klar linksextrem. Dafür spricht schon die Vorgeschichte. Die Autonomen haben mit antikapitalistischen Parolen zum militanten Protest gegen den G-20-Gipfel aufgerufen und ihre Drohungen dann auch umgesetzt. Dass Action wichtiger zu sein scheint als Reflektion, spricht nicht dagegen, dass es sich um politisierte Gewalt handelt. Autonome Militanz lässt sich oft als „Propaganda der Tat“ interpretieren.
Der Wurf von Farbbeuteln gegen ein Haus mit Luxuswohnungen, die Brandflasche gegen ein Fahrzeug der Polizei oder der Angriff auf einen Neonazi sind Taten mit Signalwirkung. Ein klassisches Feindbild von Linksextremisten wird getroffen. Das macht die Tat zu einem politischen Delikt, so primitiv es auch wirken mag. Markantes Beispiel sind die vielen Straftaten, die Autonome aus dem Szeneobjekt in der Rigaer Straße in Berlin verüben.
Wie stark ist die linksextreme Szene?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spricht in seinem kürzlich vorgestellten Jahresbericht 2016 von 28500 Linksextremisten. Das sind 1800 mehr als 2015. Das „Personenpotenzial“ sei sogar so hoch „wie seit 2012 nicht mehr“, so das BfV. Und es fällt auf, dass beim Wachstum der Szene die Fraktion der gewaltorientierten Linksextremisten kräftig dabei ist. Der Verfassungsschutz registrierte 2016 einen Anstieg um mehr als zehn Prozent auf 8500 Autonome und andere Militante.
Wie kriminell sind Linksextreme?
Auf den ersten Blick überrascht dann, dass die Zahl der einschlägigen Straftaten im vergangenen Jahr sank. Die Polizei meldete 9389 politisch links motivierte Delikte, darunter 1702 Gewalttaten. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor waren es insgesamt 9605 Delikte mit 2246 Gewalttaten. Der Verfassungsschutz erklärt die Diskrepanz zwischen dem Wachstum der Szene und dem Rückgang der Kriminalität so: „Im Jahr 2016 fehlte es an Ereignissen, die Linksextremisten zu großen überregionalen Protestdemonstrationen nutzen konnten. Nicht zuletzt deshalb war die Zahl der Straf- und Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr rückläufig.“
Das dürfte 2017 anders sein. Angesichts der gewaltsamen Proteste gegen den G-20-Gipfel wird die Zahl der Delikte vermutlich in die Höhe schnellen. Auch wegen der vielen Straftaten, die Linksextreme schon vor „Hamburg“, aber mit Bezug zum Gipfel verübten.
Ist die linke Szene härter als die rechte?
Trotz der gruseligen Bilder aus Hamburg lautet die Antwort: nein. 2016 stellte die Polizei bundesweit 1698 Gewalttaten von Neonazis und anderen Rechten fest – das sind nur vier weniger als bei der linken Szene. In den neun Jahren zuvor waren die Zahlen zu linker Gewalt regelmäßig weit höher als bei den Rechten. Deren Militanz, vor allem die rassistische Hasskriminalität, hat jedoch während der Flüchtlingskrise stark zugenommen.
Und: Rechte Gewalt ist viel öfter tödlich. Seit der Wiedervereinigung haben Neonazis, Skinheads und andere Gewalttäter der Szene der Polizeibilanz zufolge 76 Menschen erschlagen, erschossen, erstochen, ertränkt, verbrannt. Die reale Zahl der Todesopfer rechter Gewalt ist jedoch, das ergeben jahrelange Recherchen des Tagesspiegels, mindestens doppelt so hoch.
Linke Gewalttäter haben, so sagt es das Bundeskriminalamt, in Deutschland seit 1990 sechs Menschen getötet. Zwei Taten gehen auf das Konto der RAF, das sind das im April 1991 verübte Attentat auf Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder in Düsseldorf und die tödlichen Schüsse im Juni 1993 auf den GSG-Beamten Michael Newrzella in Bad Kleinen.
Wie groß ist die Gefahr linken Terrors?
Den „traditionellen“ linksextremen Terrorismus mit Mordserien, Entführungen und Bombenanschlägen gibt es derzeit nicht. Die 1970 gegründete RAF löste sich 1998 auf, eine vergleichbare Nachfolgestruktur blieb aus. Die linksextreme Szene hatte begriffen, dass die Taten der Terroristen keine Revolution auslösen, sondern staatliche Repression anschieben. Der Verzicht auf Morde bedeutet aber kein Ende von Militanz. Sie reicht von Massenaktionen wie jetzt in Hamburg bis zu Sabotage. Ein Beispiel sind die kombinierten Brandanschläge auf Kabelschächte der Bahn, die G-20-Gegner im Juni in fünf Bundesländern begingen.
Wurde Linksextremismus wegen des NSU-Terrors unterschätzt?
Von Polizei und Verfassungsschutz nicht. Teile von Politik und Gesellschaft gehen allerdings punktuell Bündnisse mit Linksextremisten ein, wenn es gegen Nazis geht. Ob das nach „Hamburg“ so weiterläuft, ist offen.