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Ein Standbild aus dem Video der italienischen Küstenwache.
© Reuters

Flüchtlingstragödie vor Lampedusa: Wie Europa bei illegaler Zuwanderung versagt

Die jüngste Tragödie vor Lampedusa macht schmerzlich bewusst: Europa hat noch immer kein schlüssiges und humanes Konzept für den Umgang mit illegalen Einwanderern. Wie ist die Lage – und was muss getan werden?

Die Tragödie vor der italienischen Insel Lampedusa stellt Europa einmal mehr ein vernichtendes Zeugnis in der Flüchtlingspolitik aus. Änderungen sind nötig – doch für wirklich einschneidende Maßnahmen finden sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht bereit. Und die Staaten an den europäischen Außengrenzen fühlen sich allein gelassen.

Wie geht Italien mit der Tragödie um?

Der Tag danach ist in Italien der Tag der Staatstrauer. Es ist der Tag, an dem die schwarze Integrationsministerin Cecily Kyenge – geboren im Kongo – ausruft: „Unter den Toten hätte auch ich sein können.“ Es ist der Tag italienisch-europäischer Schuldzuweisungen, und der Tag, an dem Politiker die Bewohner von Lampedusa für den Friedensnobelpreis vorschlagen.

Es kommen absurde Widersprüche ans Tageslicht. Wer auf dem Meer unterwegs ist, muss laut Seerecht allen Schiffbrüchigen helfen. Laut italienischem Einwanderungsrecht lässt er es besser bleiben: Dann wird er – wie es Fischern vor Lampedusa bereits passiert ist – „wegen Förderung der illegalen Einwanderung“ ins Gefängnis geschickt. Drei Fischerboote, erzählen Überlebende, seien in der fatalen Nacht zum Donnerstag an ihnen vorbeigezogen.

Die vor Lampedusa Ertrunkenen sind von Libyen aus aufgebrochen. Italien fragt sich, was aus den sechs Wachbooten geworden ist, die Regierungschef Berlusconi vor ein paar Jahren dem libyschen Herrscher Ghaddafi überlassen hat, damit Flüchtlingskutter noch in afrikanischen Gewässern zurückgewiesen werden konnten. Und die damals teuer erkauften Verträge mit der Staatsmacht in Tripolis, nach denen Libyen seine annähernd zweitausend Küstenkilometer auf verdächtige Bewegungen überwachen sollte, sind nichts mehr wert, wo Stammesmilizen ihre eigenen lukrativen Geschäfte mit dem Flüchtlingshandel machen und wo Rom, wie geschehen, im innenpolitischen Wirbel die Außenpolitik schleifen lässt.

Experten widersprechen aber der oft geäußerten Ansicht, dass Italien alleingelassen werde mit einem eigentlich europäischen Flüchtlingsproblem. Die Zahlen des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, sagen anderes. Von 2008 bis 2012 haben in Italien 107 000 Flüchtlinge um Asyl gebeten, in Deutschland nahezu die doppelte Zahl: 201 350. In Frankreich waren es gar 232 680. Und die Zahl der Asylsucher in Italien ist von 2011 auf 2012, also nach dem „Arabischen Frühling“, auch noch um mehr 50 Prozent gesunken, in Deutschland hingegen um fast die Hälfte (41 Prozent) gestiegen. Unter den 44 Industrieländern auf der UNHCR-Liste nimmt Italien nur den zwölften Platz in der Asyl-Nachfrage ein.

Das Unbehagen, rügen Leitartikler, rühre auch daher, dass Italien kein Konzept in der Ausländerpolitik habe. Die Aufnahme von Bootsflüchtlingen werde nur lokal und nach dem Feuerwehrprinzip geregelt; Vorsorge, Bedarfsermittlung: Fehlanzeige. Das Aufnahmezentrum in Lampedusa ist seit dem Brand 2011 nur zum kleinen Teil wiederaufgebaut worden. So manches Übergangslager auf dem Festland wird nur lax überwacht: Wer weglaufen kann, läuft weg. Dass illegale Einwanderer abgeschoben werden, ist unwahrscheinlich: Die Rückführung in die Heimatländer ist, wie man im Innenministerium zugibt, zu teuer.

Wie ist die Flüchtlingsfrage in Europa geregelt?

In der EU werden gerne Verteilungsschlüssel erstellt – nicht jedoch bei Flüchtlingen. Das Land, in dem ein Flüchtling die EU erreicht, ist für das Asylverfahren und die Unterbringung verantwortlich. Erst in diesem Frühjahr ist in der sogenannten Dublin-II-Verordnung die Drittstaatenregelung auf europäischer Ebene bestätigt worden. Wenn es ein Flüchtling bis nach Italien schafft und von dort etwa nach Deutschland gelangt, kann die Bundesrepublik ihn wieder nach Italien abschieben – das Land, in dem er zuerst europäischen Boden betreten hat.

Eine Verteilung der Ankömmlinge auf alle EU-Staaten gibt es aufgrund hartnäckiger Weigerung einer Reihe von Staaten wie Deutschland nicht. Mittelmeerstaaten wie Griechenland, Spanien, Italien und ganz besonders das kleine Malta sehen sich daher übermäßig betroffen und mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Immer wieder werden katastrophale Lebensbedingungen der Flüchtlinge in diesen Ländern kritisiert.

Kritiker werfen der EU vor, sich und ihren Reichtum gegen Flüchtlinge abzuschotten und sie somit in die Hände von kriminellen Schleuserbanden oder Staaten mit geringen Menschrechtsstandards zu treiben. Als Symbol dieser Politik gilt Hilfsorganisationen die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Menschen unter anderem im Mittelmeer an der illegalen Einreise hindern soll. Tatsächlich begünstige Frontex aber das Geschäft der Schlepper und Schleuser. Die EU-Kommission hingegen weist darauf hin, dass Frontex in den vergangenen beiden Jahren 16 000 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet habe.

Wie reagiert die Europäische Union?

Italien hat beantragt, dass sich die EU-Innenminister am Dienstag in Luxemburg mit der jüngsten Flüchtlingstragödie befassen. Aber zu konkreten Ergebnissen wird dieses Treffen wohl nicht führen. Die EU-Kommission verwies darauf, dass man bereits beim Grenzschutz im Mittelmeer helfe, alles andere sei Sache der Mitgliedsländer.

Die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström hat in diesem Zusammenhang drei Forderungen erneuert, bei denen es allerdings teilweise schon seit Jahren kaum Fortschritte gibt. Dazu gehört es, „neue Kanäle für die legale Einwanderung zu öffnen“. Doch die bereits 2007 angestoßene europäischen „Blue Card“ kommt in vielen Mitgliedstaaten in der Umsetzung nicht voran oder gilt wie in Deutschland seit vergangenem Jahr nur für Hochqualifizierte. Die Forderung, in den Herkunftsländern mehr für die Menschen zu tun, wird durch die Kürzung der Entwicklungshilfe konterkariert.

Was ist von dem neuen EU-weiten Datennetzwerk zu erwarten?

Am kommenden Donnerstag soll ein EU-Gesetz zum neuen Eurosurveillance, abgekürzt Eurosur, im Europaparlament endgültig verabschiedet werden. Auf den ersten Blick scheint es ein Fortschritt zu sein. Durch Austausch und gemeinsame Nutzung von Informationen soll ein Datennetzwerk entstehen, das eine besseres Bild der Lage im Mittelmeer zeichnen soll. Die Logik dahinter: Wissen Europas Behörden genauer, wo sich auch kleine Flüchtlingsboote befinden, kann das helfen, wie die EU-Kommission schreibt, „die Zahl illegaler Einwanderer zu verringern“ und „die Todesrate unter den illegalen Einwanderern zu senken, indem mehr Menschenleben auf See gerettet werden“.

Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es die Seenotrettung nicht in die eigentlichen Vorschriften, sondern aufgrund des Widerstands vor allem südlicher EU-Staaten nur in die sogenannten „Erwägungsgründe“ geschafft hat. Eurosur „sollte“, so heißt es, „die Reaktionsfähigkeit der Mitgliedstaaten beträchtlich verbessern und damit einen Beitrag zur Rettung des Lebens von Migranten leisten“. Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit dafür, das Paket zu ergänzen, das im Dezember in Kraft treten soll.

Viele Experten befürchten, dass der Fokus durch Eurosur und neue Rücknahmeabkommen etwa mit Libyen erst recht auf der Flüchtlingsabwehr bleiben wird. Schließlich können Behörden über Satelliten und Drohen künftig bereits sehen, wenn ein Boot an der afrikanischen Küste ablegt, und ihre Kollegen auf der anderen Seite des Mittelmeers informieren, damit die dortige Küstenwache die Flüchtlinge aufhält. „Das erspart ihnen vielleicht eine tödliche Überfahrt, rettet aber nicht unbedingt ihr Leben“, sagt die grüne Europaabgeordnete Franziska Keller, „sie haben ja einen Grund zu fliehen.“ (mit AFP)

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