Rechtsextremismus: Wie es sich lebt in einer von Rechten dominierten Stadt?
In meiner Heimatstadt Zwickau hat sich der Rechtsextremismus so breitgemacht, dass er bei den Anderen Angst verbreitet. Höchste Zeit auch für mich, darüber zu sprechen.
Im siebten Jahr als Journalist in Sachsen fühle ich zum ersten Mal Angst. Und was viel schlimmer ist als das, ist die Scham darüber. Ich habe viel über Rechtspopulismus und Rechtsextremismus berichtet. Häufig habe ich dabei meine Heimatstadt Zwickau als Beispiel verwendet. Aus zwei Gründen: Zwickau ist eine Stadt, an der man langfristig sehr gut beobachten kann, wie sich der Rechtsextremismus in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewandelt hat, wie er sein Gesicht verändert und wie er seine Methoden variiert hat. Wie er gewuchert ist.
Von Typen in Bomberjacken zu Blood&Honour-Strukturen und internationalen Kontakten; von Rekrutierungen in der Fußball-, der Musik-, Security- und Kampfsportszene über gescheiterte Versuche, die Hartz-IV-Proteste zu vereinnahmen, bis hin zu erfolgreichen Versuchen, die Asylpolitik zu beeinflussen; von der Parteianbindung über autonome Strukturen bis zur Terrorzelle und schließlich die mustergültige Nutzung der sozialen Netzwerke und das endgültige Comeback im Mainstream. Zwickau war fast immer Avantgarde, wenn es bei den Nazis etwas Neues gab.
Zum anderen ist Zwickau die Stadt, in der ich mich am besten auskenne, in der ich geboren wurde und aufwuchs und aus der ich mittlerweile auch schon zweimal weggezogen bin. Zwickau war auch immer Avantgarde, was das Weggucken anging. Viele der wichtigsten Figuren der rechtsextremen Szene sind deshalb auch immer noch da, sie sind mit den Trends gegangen, sind nicht viel mehr geworden, aber spezialisierter und besser integriert und besser trainiert. Sie nennen sich jetzt Identitäre Bewegung, Reichsbürger, III. Weg, AfD, alternative Medien, Bürgeroffensive, „Zwickau wehrt sich“.
Der NSU-Prozess wird keine Gesinnungen läutern
Zehn Jahre hat der „Nationalsozialistische Untergrund“, der NSU, hier gelebt, seine Morde hier geplant und vorbereitet, von Untergrund kann man kaum reden. Das alles wieder und wieder zu schreiben fühlt sich an, wie an einem Geschwür zu kratzen: Etliche Mittäter leben weiter unbeschwert unter uns, unzählige Mitwisser sind unbehelligt geblieben, und erleuchtet wurden sie sicher auch nicht seitdem. In dieser Woche ist der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere mutmaßliche Mitglieder des Terrornetzwerks weitergegangen. Im mittlerweile sechsten Prozessjahr soll das Urteil fallen.
Es wird weder Rechtsfrieden herstellen, noch dafür sorgen, dass Rechtsextreme mehr Respekt vor dem Rechtsstaat bekommen oder die Familien der Opfer auch nur ein wenig Versöhnung erfahren. Das Netzwerk des NSU besteht weiter, die Versager und Kollaborateure sitzen weiter in den Behörden und Ministerien, statt den mehr als 100 mutmaßlichen Mitwissern und Mittätern werden nur fünf auf der Anklagebank gesessen haben.
Und selbst von denen ist nicht gesagt, dass der Prozess sie in ihrer Gesinnung geläutert haben könnte. Der Angeklagte zum Beispiel, der mutmaßlich Scheinidentitäten und Tatfahrzeuge für das Kerntrio beschafft hat, hat zwar noch keinen Ton im Münchner Gerichtssaal gesagt. Aber in Zwickau ist er mit seiner Neonazi-Partei III. Weg schon wieder durch eine Neubausiedlung marschiert, und zuvor hatte er einen 18-Jährigen massiv verprügelt und gedroht, ihn umzubringen.
Im Jahr 2011 schätzte das Landesamt für Verfassungsschutz, dass etwa 2600 Rechtsextreme in Sachsen leben. Die jüngste Schätzung des Amtes geht von 2700 Rechtsextremen aus. Das sind 100 mehr als zum Zeitpunkt der Enttarnung des NSU. Und die Zahl der Reichsbürger, die in Sachsen leben, hat das Landesamt erst vor wenigen Tagen von 718 auf 1275 nach oben korrigiert.
Sechs Jahre nachdem der NSU aufflog, ist die rechte Szene nicht etwa kleiner geworden, sondern größer und besser vernetzt. Nur: Dass Zwickau ein echtes Problem mit Rechtsextremismus hat, will bis heute kaum jemand in dieser Stadt sagen. Die Formel heißt immer nur: nicht mehr als andere Städte. Und es muss doch auch mal wieder gut sein mit der ganzen Kritik an unserer schönen Stadt.
Es ist am Rand der Propaganda, was man über den NSU sagt
Ich bin das erste Mal zurückgekehrt, nach dem das letzte Versteck des NSU in Zwickau in die Luft flog, sich die Terrorgruppe um Beate Zschäpe und die beiden Uwes selbst enttarnte, wie das so oft heißt. Ich habe das auch oft so geschrieben: „selbst enttarnt“. Heute denke ich manchmal, dass das eigentlich eine Verniedlichung ist. Dass man aber das, was vermutlich wirklich passiert ist, auch nicht wirklich schreiben kann: Zwei Neonazis haben sich lieber erschossen, als verhaftet zu werden oder zu flüchten. Ihre Sache war ihnen wichtiger als ihr Leben. Es wäre Propaganda, das zu schreiben. Trotzdem ist es (wahrscheinlich) wahr. Ihre Sache war das Töten im Namen eines Volkes, das sie selbst definieren wollten. Und sie waren ganz offenbar besonders entschlossen. Denn dass sie – der einzige andere Grund, sich in dieser Situation zu erschießen – besonders verzweifelt waren, das kann ich nicht glauben.
Mich beschäftigt das, weil ich mich heute häufiger frage, wie entschlossen die Leute sind, die mir drohen. Die in meinem Privatleben rumschnüffeln, die mich dokumentieren und indexieren und in rechtsextremen Facebook-Gruppen zur Schau stellen. Wie entschlossen sind die Leute, die kommentieren: „Wenn der Tag X da ist, kommt dieses ganze linksgrünversiffte Gesindel keine vier Kilometer weit. Wir haben Fotos und Adressen von allen“? Sind das nur leere Drohungen?
Wie viele der Neonazis der Partei III. Weg, die in Zwickau inzwischen abends manchmal Streife läuft und auf dem Weihnachtsmarkt Plätzchen verteilte, kennen mein Gesicht schon von Facebook, Youtube oder VKontakte? Was passiert, wenn ich denen nachts auf dem Hauptmarkt begegne? Was passiert, wenn die meiner Freundin begegnen, die nicht deutsch aussieht, weil sie nicht deutsch ist?
Ich habe das nie verstanden, wenn mir jemand sagte: Das ist aber mutig, was du machst. Ich empfand es nicht so, und ich fand das auch ein bisschen pathetisch. Ich mache meine Arbeit, und sowieso: Wer Angst zulässt, der lässt die Nazis gewinnen. Wenn ich jetzt in meiner Küche sitze, seit Tagen, und nichts anderes zu schreiben weiß als das hier – was heißt das? Wie gehe ich mit diesem neuen, seltsamen Gefühl der Angst um? Was bedeutet es, darüber zu schreiben – für mich und für andere?
Wozu noch berichten, wo der Rassismus so verwurzelt ist, dass er gar nicht mehr auffällt?
Eigentlich sollte man es besser lassen. Die Bedrohung ist zugleich abstrakt und real. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass mir selbst etwas passiert. Die Bedrohung ist zudem geplant und sie soll ja genau das erreichen: dass ich Angst bekomme. So funktioniert Terrorismus nun mal. Aber es fällt mir immer schwerer zu glauben, dass die Androhung von Gewalt lediglich ein Selbstzweck ist. Oder jemals war. Je näher ich mir die Akteure und die Strukturen und das Staatsversagen bei der Aufklärung dieser Strukturen anschaue, desto mehr werde ich überzeugt, dass es lediglich eine Frage der Möglichkeiten, der Machbarkeit ist: der Tag X.
An diesem Punkt setzt die Scham ein. Das ständige Gefühl, im Schatten eines Monsters zu sitzen, das ich selbst beschrieben habe und das mir ins Ohr flüstert: Du bist der Einzige, der mich sehen kann. Das ständige Gefühl, dass das, was ich beschreibe, eine Skandalisierung der tatsächlichen Verhältnisse ist. Dass ich vielleicht zu einseitig auf dieses Thema abonniert bin. Übertreibe ich?
Vor Kurzem hat der MDR den neuen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zum „Bürger-Check“ nach Chemnitz eingeladen. Einer der Bürger, die Kretschmer checkten, war der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in Nordsachsen, und der hatte sich über so einiges zu beschweren, aber am Ende sagte er: „Immerhin haben wir jetzt zum ersten Mal einen Sachsen als Ministerpräsidenten.“ Kretschmer und die beiden Moderatoren schauten sich etwas ungläubig an, wieso „erstes Mal“? Sie alle wussten es besser, aber sie sagten nichts, und der Bürgermeister erklärte dann selbst: die ersten beiden, Biedenkopf und Milbradt, das waren ja Wessis. Und der letzte, also Stanislaw Tillich, das war doch ein Sorbe.
Der Ex-Ministerpräsident wird zum Ausländer erklärt. Niemand widerspricht
An dieser Stelle gefror dem neuen Ministerpräsidenten Kretschmer kurz das Gesicht. Sein Vorgänger Tillich, der in Sachsen geboren worden ist und neun Jahre Ministerpräsident dieses Bundeslandes war, zudem Vorsitzender der sächsischen Union, also so was wie der Pate des Freistaats, der wurde gerade vor laufender Kamera aus der Familie verstoßen. „Sorbe“. Endlich weht die grün-weiße Flagge zurecht über der Staatskanzlei, sagte der Bürgermeister noch (wenn schon, dann wäre es die weiß-grüne Flagge übrigens).
Kretschmer sagte nichts, auch wenn bei ihm die Alarmglocken geschrillt haben. Er kennt die Situation der Sorben in Sachsen natürlich, die, obwohl sie seit Jahrhunderten in der Oberlausitz leben, seit Pegida und AfD wieder vermehrt mit fremdenfeindlichen Attacken zu kämpfen haben. Aber Kretschmer sagte nichts. Und das ist exakt das, was Opfer von Rassismus, Fremdenhass, Homophobie und Rechtsradikalismus in diesem Bundesland erwarten dürfen: nichts.
Was mit den beiden MDR-Moderatoren los war, weiß ich nicht. Vielleicht geschockt. Vielleicht fanden sie das kurios, aber nicht weiter wichtig. Sie haben jedenfalls auch nichts gesagt, als aus Tillich ein Ausländer wurde. Dem alltäglichen Rassismus in Sachsen zu widersprechen, ist eine Aufgabe, die für den MDR offenbar zu groß ist. Die letzte Sendung, die ich vor dem „Bürger-Check“ gesehen hatte, war ein Heimspiel des Fußballdrittligisten FSV Zwickau, das der MDR live übertrug. Da sagte der Reporter über einen Spieler aus Halle, der sich gerade beim Schiedsrichter beschwerte: „Man sieht, da ist durchaus emotionales Blut mit drin, er hat afrikanische Wurzeln.“
Wenn Rassismus so tief verwurzelt ist, dass er nicht mehr auffällt, schlimmer noch, dass ihm nicht widersprochen wird, wenn er auffällt, nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, nicht vom Ministerpräsidenten, dann sind Rechtsextreme so tief in der Gesellschaft verankert, dass ich mich frage, ob die Berichterstattung über Rechtsextreme nur noch weiter zu deren Vernetzung beiträgt. Und zur Verbreitung ihrer Ideen, ihrer Sprache, ihrer Methoden. Zur Tröpfcheninfektion der Angst, die sie verursachen.
Heute ist Rechts die dominante Kultur – und zwar so dominant, dass sie kaum noch wahrgenommen wird. Außer von denen, die sie beschreiben, die sie kritisieren und die versuchen, ihr etwas entgegenzusetzen. Und von denen, die ihre Feindbilder sind natürlich.
Sie bilden das Rückgrat der Zivilgesellschaft - und werden verhöhnt
Denn das wird oft vergessen: In fast allen sächsischen Städten und Gemeinden setzen Menschen ihre physische und psychische Gesundheit aufs Spiel, um sich Rechtsextremen entgegen zu stellen, um Flüchtlingen zu helfen, um eine pluralistische, offene Gesellschaft am Leben zu erhalten. Was normal sein sollte, ist zur äußersten Herausforderung geworden.
Diejenigen, die das Rückgrat der Zivilgesellschaft bilden, werden oft noch doppelt verhöhnt. Wenn von den Sachsen als besonderem Völkchen die Rede ist zum Beispiel. Wenn der Säxit mal wieder nahe gelegt wird.
Über die Angst zu reden, das heißt, mit der eigenen Scham zu kämpfen. Angst müssen nämlich nur die haben, die anders sind. Angst müssen nur die haben, die nicht der dominanten Kultur angehören. Über diese Angst zu reden heißt aber auch: sich lächerlich machen und sich bloßzustellen. Über die Angst zu reden heißt auch, einzugestehen, wie groß das Problem ist, heißt auch: sich selbst zur Zielscheibe machen. Das hat nichts Befreiendes. Es fühlt sich widerlich an, entwürdigend. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich muss es wenigstens einmal aussprechen, denn so viele sprechen aus den genannten Gründen nicht darüber, und wenn man nie darüber spricht, fühlt man sich irgendwann noch einsamer und seltsamer damit. Die Angst ist nämlich nicht das Problem. Das Problem ist, damit allein zu sein.
Vor der Wende lebten 120 000 Menschen in Zwickau. Heute sind es noch rund 90 000. Die fehlenden 30 000 sind an Weihnachten gefühlt alle gleichzeitig zu Besuch in der Heimat gewesen. Für ein paar Tage fühlte sich die Stadt wieder lebendig und urban an. Und stellte mich wieder vor die Frage: Auf was kann man eher verzichten? Aufs Weggehen oder aufs Wiederkommen?
Christian Gesellmann