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Erinnerung an den Obsthändler Mohamed Bouazizi, der sich vor zehn Jahren in Tunis selbst anzündete.
© REUTERS

Zehn Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings: „Wie ein einsamer Baum in der Wüste“

Als Ursprungsland der Aufstände ruft Tunesien Europa zu mehr Hilfe auf - auch um die Gefahr islamistischen Terrors zu verringern.

Zehn Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings ruft Tunesien als Ursprungsland der damaligen Aufstände die europäischen Staaten zu mehr Hilfe auf. Politisch sei Tunesien zwar eine Erfolgsgeschichte, sagte Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi dem Tagesspiegel in einem Telefon-Interview aus Tunis. Wirtschaftlich brauche das nordafrikanische Land aber mehr Hilfe. Wenn Deutschland und andere europäische Länder in Tunesien investierten, zahlte sich das auch für sie selbst aus. Bundesaußenminister Heiko Maas stellte weitere Hilfe in Aussicht.

Die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 löste zuerst in Tunesien selbst und dann in der ganzen arabischen Welt eine Serie von Aufständen aus, die zur Entmachtung autokratischer Herrscher führte. Als erster wurde der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt. Auch in anderen Ländern stürzten langjährige Staatschefs, doch ein grundlegender demokratischer Wandel in der Region blieb aus. Syrien und Libyen versanken in Bürgerkriegen, die bis heute anhalten.

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Tunesien ist das einzige Land des Arabischen Frühlings, in dem der Übergang zu einer demokratischen Ordnung einigermaßen funktioniert hat. Das Land mit seinen rund zwölf Millionen Einwohnern hat seit 2015 eine neue demokratische Verfassung; ein Quartett aus Organisationen der Zivilgesellschaft erhielt damals den Friedensnobelpreis. Ghannouchis islamisch geprägte Ennahda-Partei ist mit 52 von 217 Sitzen die stärkste Kraft im Parlament. Die Partei sieht sich selbst als eine Art tunesische CDU, die Islam und Demokratie vereint. Kritiker werfen ihr jedoch eine islamistische Agenda vor.

"Die einzige Demokratie in der arabischen Welt"

Sein Land stehe politisch besser da als alle anderen Staaten der arabischen Welt, sagte der 79-jährige Ghannouchi. „Wir sind das einzige Schiff, das noch den Wellen standhält, die einzige erfolgreiche Demokratie in der arabischen Welt. Natürlich haben wir unsere Herausforderungen – wir sind wie ein einsamer Baum in der Wüste, aber wir haben keinen Schutz um uns herum, der uns vor den Winden und den Herausforderungen schützt.“ Wenn die Demokratie in Tunesien weiterhin Erfolg habe, „wird sie auch anderswo in der Region erfolgreich sein“.

Ghannouchi sieht die politischen Forderungen der Revolution von 2010 weitgehend erfüllt. Wirtschaftlich läuft es aber weniger gut. Die hohe Arbeitslosigkeit von 16 Prozent treibt viele Menschen aus dem Land. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex registrierte in den ersten zehn Monaten 2020 im zentralen Mittelmeerraum rund 28 400 Flüchtlinge und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. 40 Prozent der Flüchtlinge waren Tunesier.

„Freiheit ist zwar wichtig, reicht allein aber nicht aus, um die Menschen zu ernähren“, sagte Ghannouchi. Sein Land brauche eine Reform des öffentlichen Sektors, der sozialen Sicherheitssysteme und des Subventionssystems, Start-ups, Innovation und eine Digitalisierung zur Bekämpfung der Korruption. „Deutschland und Europa haben viel für uns getan, aber sie könnten noch mehr tun. Nicht zu investieren würde mehr Instabilität bedeuten, und diese Instabilität würde auch die Terrorgefahr erhöhen.“

Von Deutschland erhielt Tunesien im vergangenen Jahr knapp 295 Millionen Euro im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Die EU stellte Tunesien 2019 Finanzhilfen von 305 Millionen Euro in Aussicht.

Maas erklärte auf Anfrage unserer Zeitung, er habe „höchsten Respekt vor dem friedlichen demokratischen Wandel, den Tunesien in den letzten zehn Jahren vollzogen hat“. Allerdings seien die positiven Effekte besonders wirtschaftlich für viele in Tunesien noch nicht ausreichend spürbar. Maas rief Tunesien zu weiteren Reformen auf. „Deutschland steht fest an der Seite Tunesiens auf dem weiteren Reformweg, sowohl politisch als auch finanziell.“

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