Syrien: Wie die Türkei im Machtpoker mit Rebellen ihre Interessen verfolgt
Die Türkei verfolgt im Konflikt in und um Syrien eigene Interessen. Flüchtlingsunterbringung und wechselnde Kooperationen sichern ihren Einfluss.
Im nordwestsyrischen Idlib, einer Rebellenhochburg nahe der türkischen Grenze, baut der Türkische Rote Halbmond ein Auffanglager für 10.000 Menschen aus Aleppo; insgesamt will die Türkei Notunterkünfte für 80.000 Flüchtlinge schaffen. Das Engagement der Türkei, die bereits 2,7 Millionen Syrer aufgenommen hat, wird weltweit mit großem Respekt registriert. US-Präsident Barack Obama rief seinen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan an, um ihm für die Bemühungen der Türkei um einen Waffenstillstand in Aleppo zu danken.
Ministerpräsident Binali Yildirim führte in den vergangenen Tagen Gespräche mit dem iranischen Vizepräsidenten Eshaq Jahangiri und dem russischen Premier Dmitri Medwedew, Außenminister Mevlüt Cavusoglu konferierte mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. Die Gespräche mit den iranischen und russischen Verbündeten des syrischen Präsidenten Baschar al Assad dienen nicht allein humanitären Motiven – wie der Aufnahme mehrerer zehntausend Menschen aus Aleppo in der Türkei –, sondern folgen auch einem regionalpolitischen Machtkalkül der türkischen Regierung.
Mit einer Schlüsselrolle bei den Bemühungen um eine Evakuierung von Zivilisten und Rebellenkämpfern aus der nordsyrischen Stadt Aleppo will Ankara seinen Einfluss in der Region auch konkret stärken: Zumindest ein Teil der aus Aleppo fliehenden Kämpfer soll an der türkischen Militäroperation „Schild des Euphrates“ in Nordsyrien teilnehmen, bei der die Türkei gegen den "Islamischen Staat" (IS) und die syrischen Kurden vorgeht. Der erste Einsatzort der kampferfahrenen Milizen aus Aleppo unter türkischem Kommando soll die Stadt Al-Bab rund 40 Kilometer nordöstlich von Aleppo sein, wie ein Rebellenkommandeur der Nachrichtenagentur Reuters sagte.
Türkische Soldaten haben einen Grenzstreifen erobert
Seit dem Beginn der türkischen Militärintervention in Syrien im August haben die türkischen Soldaten und pro-türkische syrische Kämpfer einen rund 80 Kilometer langen Gebietsstreifen auf syrischem Gebiet von Azaz im Westen bis nach Jarablus im Osten erobert. Diese Geländegewinne sollen nicht nur den IS von der türkischen Grenze fernhalten, sondern auch das Autonomiestreben der syrischen Kurden stoppen.
Mit der Evakuierung der Zivilisten und der Rebellen aus Aleppo den türkischen Einfluss im Norden Syriens zu zementieren, ist aus Erdogans Sicht besonders wichtig, weil sein Langzeitziel, die Ablösung von Assad, durch die Niederlage der Regimegegner in Aleppo einen empfindlichen Rückschlag erlitten hat. Aleppo werde „zum Friedhof der Hoffnungen und Träume des Schlächters Erdogan“, hatte Assad schon im Sommer vorausgesagt.
Kritiker werfen der Türkei aber vor, selbst zu dieser Niederlage beigetragen zu haben. In den vergangenen Monaten hatte Ankara den Abzug einiger Rebellenverbände aus Aleppo angeordnet, um sie in den Krieg gegen den IS und die Kurden weiter nördlich zu schicken. Dies „trug zur Schwächung des Aufstandes in Aleppo bei und ermöglichte so den Vormarsch der syrischen Armee“, sagte der Journalist Régis Le Sommier dem Nachrichtensender France24.
Mehrmals tauchten in jüngster Zeit Berichte auf, in denen von einer Verständigung zwischen der Türkei und Russland für Nord-Syrien die Rede war. Demnach erklärte sich Moskau mit der türkischen Intervention in Syrien einverstanden, während Ankara sich mit Kritik an der syrisch-russisch-iranischen Offensive in Aleppo zurückhielt. Offiziell bestätigt ist dies nicht. Doch die Türkei und Russland haben ihre bilaterale Krise nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe an der syrischen Grenze im vergangenen Jahr überwunden und arbeiten wieder zusammen, soweit es die gegensätzlichen Interessen in Syrien erlauben. Die Türkei will sich ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen über die Zukunft Syriens sichern. Nach der Schlacht von Aleppo ist der Kampf um Macht und Einfluss in Syrien längst nicht vorbei.