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Die sogenannten Rosenholz-Dateien, die im Jahr 2003 aus den USA nach Deutschland zurückkehrten, enthalten Angaben zu Spionen, die von der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) geführt wurden, sowie zu zahlreichen Personen, an denen die Stasi interessiert war.
© ddp

Unter fremder Flagge: Wie die Stasi West-IM an der Nase herum führte

Nicht alle Spitzel, die in der Bundesrepublik und anderen westlichen Staaten für die Stasi spionierten, wussten, wohin ihre Informationen gingen. Sie waren von Auslandsspionagechef Markus Wolf und seinen Leuten unter falschen Vorzeichen angeworben worden.

Von Matthias Schlegel

Von den 1553 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die für die Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland spionierten, wissen wohl etliche bis heute nicht, dass sie Stasi-Chef Mielke in die Hände spielten. Neue, bislang unveröffentlichte Forschungen der Stasiunterlagenbehörde belegen, dass rund 60 Spitzel unter „fremder Flagge“ geführt wurden. Das wäre etwa jeder 25. der zum Ende der DDR noch für die HVA aktiven West-IM. Das heißt, dass diese Leute von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unter falschen Vorzeichen angeworben worden sind. Sie waren somit auch nicht „wissentlich und willentlich“ für das MfS tätig, was gemeinhin als Kriterium für strafwürdiges Handeln gilt.

Die Werber gaben sich als Mitarbeiter westlicher Geheimdienste wie der CIA oder des BND, als Angestellte von Großkonzernen oder Vertreter von (West-)Parteien aus, wie Helmut Müller-Enbergs von der Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde erklärt. Einige stellten sich auch als Vertreter von Medien oder Verbänden vor. Die Spitzel-Anwärter seien „in der Regel fest in das imperialistische System integriert und lehnen jegliche Zusammenarbeit mit sozialistischen oder anderen antiimperialistischen Beziehungspartnern ab“, heißt es in einem internen Papier der HVA. Mit offener Werbung wären diese Personen für die Stasi also nicht erreichbar gewesen.

Die Werbung und Führung der IM „unter fremder Flagge“ war nach Erkenntnissen Müller-Enbergs, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema West-IM befasst, die aufwendigste Methode im Umgang mit Spitzeln überhaupt. Denn die Anforderungen waren besonders hoch. Es sei ein „Höchstmaß an Konspiration und Wachsamkeit durchzusetzen“, verlangten die Stasi-Obristen von den Verbindungsleuten. Die Vorspiegelung falscher Tatsachen erforderte auch einen hohen materiellen Einsatz.

Doch aus Sicht des MfS lohnte sich der Aufwand allemal. Das belegen Umfang und Qualität der von den Spitzeln übermittelten Informationen. So lieferte etwa IM „Sänger“, ein Beamter aus dem Berliner Senat, für kulturelle Angelegenheiten zuständig, 273 operativ relevante Informationen. „Rödel“, Angestellter im Bundesverteidigungsministerium, reichte 1419 Informationen weiter. „Jack“ und „Korb“, beide Arbeiter in der Druckerei des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), übergaben seit 1973 exakt 2339 beziehungsweise 203 Informationen an ihre Kontaktpersonen. Zum Vergleich: Kanzleramtsspion Günter Guillaume lieferte „nur“ 45 Berichte an seinen Stasi-Arbeitgeber, und selbst diese waren für die HVA nicht über die Maßen wertvoll.

IM „Schwarz“ hingegen, Journalist mit exzellenten Verbindungen zum Bundesnachrichtendienst, konnte 1121 Informationen beibringen, eine davon („Geheimdienstliche Analyse zur Stimmung in der DDR-Bevölkerung“) wurde mit der internen Bestnote 1 (sehr wertvoll) bewertet. 63 erhielten die Note 2 (wertvoll). „Schwarz“, der für die Stasi zu den drei Hauptquellen im BND zählte, war unter französischer Flagge angeworben worden. Sein Verbindungsmann hatte sich als Mitarbeiter im Büro des französischen Ministerpräsidenten ausgegeben. In Wahrheit stammte der Stasi-Mann aus Sachsen, versuchte seinen Dialekt hinter angelerntem Französisch zu verbergen und profitierte davon, dass sein IM noch schlechter französisch sprach als er selbst.

Bizarre Züge nahm der Fall „Rose“ an. Sie war Sekretärin der Verbindungsstelle der Nato beim belgischen Militärattaché in Brüssel. Die strenggläubige Katholikin, Jahrgang 1938, lernte 1963 einen dänischen Journalisten kennen und ließ sich auf vorehelichen Sex ein – nicht wissend, dass die Stasi diesen Mann auf sie angesetzt hatte. Der Frau bereitete die Affäre Gewissensbisse, sie bestand auf Beichte und Familienanbindung. Mielkes Truppe fahndete in den eigenen Reihen nach dänischsprachigen Mitarbeitern und inszenierte in Dänemark selbst eine filmreife Familienzusammenführung: mit fürsorglichen (Stasi-)Eltern in einem gemieteten Haus und einer Beichte vor einem (Stasi-)Pfarrer in einer Kapelle.

„Rose“ ist einer der ganz wenigen Fälle, die nach der Wende aufflogen, weil sich der deutsche Geheimdienst dafür interessierte und die Frau aufsuchte. Nahezu alle übrigen IM „unter fremder Flagge“ blieben unbehelligt, weil es staatlicherseits keine juristische Handhabe gibt, gegen sie vorzugehen. Manche arbeiten heute noch in maßgeblichen Positionen in Konzernen, Parteien oder Verbänden. Dass ihre Namen in einem riesigen Ostberliner Archiv aktenkundig sind, wissen sie nicht.

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