Wie weiter mit Erdogan?: Wie die EU ihre letzte Glaubwürdigkeit in der Türkeipolitik verspielt
In einer Tour wird die EU überrumpelt, provoziert, hintergangen - trotzdem hält sie an der Türkei fest. Aber sie kann das Land nicht vor sich selbst retten. Ein Gastbeitrag.
- Kristian Brakel ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul
In der Türkei ist es inzwischen fast gang und gäbe, dass politische Entscheidungen, die in anderen Ländern eine Staatskrise auslösen würden, einfach über Nacht getroffen werden.
Als die türkischen Bürger am vergangenen Samstag aufwachten, hatte der Präsident den erst vor Kurzem berufenen Chef der Zentralbank gefeuert, war aus der Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt ausgetreten und hatte den symbolträchtigen Gezi-Park der Kontrolle der oppositionsgeführten Stadtverwaltung von Istanbul entzogen.
Alle drei Punkte sind wichtig für das Verhältnis zu Europa. Der geschasste Zentralbankchef war ein Garant einer stabileren Geldpolitik, die auch die vielen europäischen Anleger beruhigen sollte, die sogenannte Istanbul-Konvention gilt als Wasserscheide dafür, welche Repressionen gegen die Zivilgesellschaft noch kommen mögen. Der Gezi-Park, Namensgeber der Anti-Regierungsproteste von 2013 und die Frage seiner Bebauung, steht für die Frage, ob die Regierung zu Kompromissen mit ihren Gegnern fähig ist oder darauf besteht, alle Symbole der Opposition auszulöschen.
Zu allen drei Punkten hat Präsident Erdoǧan mit seinen Entscheidungen eine Antwort gegeben, die im Widerspruch zu dem steht, was die EU für das Land anstrebt: eine demokratische Türkei, die ein verlässlicher Partner für Europa sein kann.
Nur wenige Stunden vorher hatte Erdoǧan mit EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und EU-Ratspräsident Michel telefoniert. Das anschließend dazu veröffentlichte Communique erwähnt keines der nur kurz danach folgenden Ereignisse. Schlimmer noch, es erwähnt die sich rapide verschlechternde Menschenrechtslage noch nicht mal in einem Nebensatz.
Die EU wurde von der Türkei überrumpelt - wie so oft
Wie so oft, ist davon auszugehen, dass die EU vom türkischen Vorgehen völlig überrumpelt wurde. Wie so oft ist es der türkische Präsident, der die Agenda setzt, der die Europäer nur noch atem- und oft ebenso hilflos hinterherhecheln können. Natürlich muss man einwenden, dass der EU schlecht ein Strick daraus zu drehen ist, dass sie nicht die Zukunft voraussehen kann. In einem Land wie der Türkei, in dem politisch jederzeit immer alles möglich zu sein scheint, kann man kaum auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Allerdings sind die Schritte von Freitagnacht nur die nächste Runde einer innenpolitischen Eskalationsspirale, die spätestens 2013 ihren Anfang nahm.
Die Reaktionen darauf aus Brüssel sind seit Jahren die immer wieder geäußerten Floskeln: Man sei „sehr besorgt“. Während die EU sich noch in Sorgen verliert, schafft die türkische Regierung Fakten. Auch wenn der Rat der EU-Regierungschefs am Donnerstag durchaus Sanktionen gegen die Türkei in Erwägung ziehen wird – zumindest theoretisch, denn es ist schon durchgesickert, dass u.a. die Bundesregierung diese nicht unterstützt – so richten sich diese nur auf das seit einiger Zeit immer aggressivere Auftreten Ankaras im Mittelmeer. Die EU nennt diesen Fahrplan, bei dem immer die gleichen unrealistischen Anreize der Zollunionsmodernisierung oder des visafreien Reisen durch den Raum geworfen werden, eine „positive Agenda.“
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Die Devise, die nicht zuletzt aus Berlin vorgegeben wird, ist klar: Koste es was wolle, das Verhältnis mit der Türkei muss stabil bleiben, und so gut wie möglich muss auch die Türkei stabil bleiben. Als Kanzlerin Merkel vor ein paar Jahren mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft in Istanbul zusammentraf, berichteten diese ausführlich von der sich rapide verschlechternden Menschenrechtslage. Die Kanzlerin hörte zu und antwortete, sie sei natürlich über all diese Punkte informiert, angesichts der Flüchtlingskrise wären sie aber nicht ihre Priorität. Man mag einwenden, dass dies Realpolitik par excellence sei, Merkel ist zuallererst die Kanzlerin Deutschlands, nicht die der Türkei.
Es stellt sich aber nicht nur die Frage, welchen innenpolitischen Preis die Türkinnen und Türken für diese Realpolitik bezahlen, das mag man in Berlin und Brüssel kühl als bedauerlichen Kollateralschaden abtun, sondern auch, ob die Fortsetzung dieser Politik mittelfristig nicht europäische Interessen selbst bedroht.
Ein Problem deutscher Außenpolitik ist seit jeher Selbstverzwergung
Was ist eine Partnerschaft wert, in der ein Partner fortwährend außenpolitische Volten zum Zwecke des eigenen Machterhalts vollzieht? Wie stabil ist ein Staat, dessen Regierungschef seine Wahlkampfstrategie auf Polarisierung der Bevölkerung aufbaut? Die Innen- und Außenpolitik in der Türkei sind eng verknüpft. Wo heute eine Annäherung an Europa auf dem Fahrplan steht, wird diese, wenn es zweckdienlich erscheint, dem nächsten Wahlkampf geopfert werden. Das ist kein innertürkisches Problem, es bedroht direkt europäische Interessen.
Ein Problem deutscher und europäischer Außenpolitik ist seit jeher ihre Selbstverzwergung. Solange man auf realpolitische Zwänge verweist muss man sich nie mit der Frage auseinandersetzen, wie man außenpolitisch wirkmächtig werden könnte. Man muss kein Utopist sein, um zu sehen, dass das Kräftegleichgewicht zwischen der Türkei und der EU deutlich zugunsten letzterer ausfällt. Der türkische Präsident hat es in den letzten Jahren vermocht, dieses Verhältnis fast völlig umzukehren, weil man es in Berlin nicht wagt sich vorzustellen, dass man Konflikte durchaus auch anders als durch Deesakalation lösen kann.
Man könnte die Türkei zu mehr bewegen, als derzeit versucht wird
Niemand sollte sich der Illusionen hingeben, die EU könne die Türkei vor sich selbst retten. Über das Schicksal ihres Landes bestimmen allein die Menschen in der Türkei. Was sie allerdings durchaus kann, ist das Kräftegleichgewicht zu ihren Gunsten nutzen, um klar zu machen, dass rote Linien nicht nur im Mittelmeer verlaufen, sondern auch dort, wo elementare Menschenrechte auf dem Spiel stehen. Es gibt keinen Grund, nicht darüber zu sprechen, wie Anreize genutzt werden können, um der Türkei substantielle Veränderungen im Inneren abzuringen. Solange diese nicht den Machterhalt des Präsidenten bedrohen, ist von der Haftentlassung politischer Gefangener bis zu einer Nichtbebauung des Gezi-Parks wesentlich mehr möglich, als man sich das aktuell in Brüssel auszumalen scheint. Ansonsten verbleibt die „positive Agenda“ der EU ein Fahrplan ins Nirgendwo.
Kristian Brakel