Nach dem Rechten schauen: Wie die Brandenburger infantilisiert werden
Vor den Landtagswahlen pädagogisiert die Republik Brandenburg. Das ist arrogant. Ein Kommentar.
Die waschechte Beleidigung des Brandenburgers ist zwar in die Jahre gekommen, etwa: „Die Mark betört, der Märker stört“. Das ist inzwischen immer seltener zu hören. Auch deswegen, weil immer mehr Hipster aus Berlin selbstgezogene Zucchinis aus dem märkischen Sand ziehen.
Nein, die Verachtung der urbanen Weltgeister für die Unterhemden in Freien- bis Fürstenwalde ist freundlicher Herablassung bis hin zum gelassenen Nebeneinander gewichen. Und das wäre im schneckenschnellen Prozess der Ost-West-Annäherung keines größeren Aufhebens wert.
Doch nun haben sich die Märkerinnen und Märker entschlossen, das Brandenburger Panorama von sauberer Luft, klarem Wasser und trotziger Kiefer einzutrüben. Wenn die Vorhersagen nicht lügen, werden bei der Landtagswahl am Sonntag um die 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Alternative für Deutschland, vulgo AfD, wählen.
Die Neigung zu den Rechtsextremen ist weniger neu. Verändert hat sich, dass sie jetzt zum eklatanten Problem erklärt und erkannt wird.
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Der Brandenburger, übrigens auch der Sachse und demnächst auch der Thüringer, wird diagnostiziert, pathologisiert, pädagogisiert, infantilisiert. Der Gestus erinnert an die Haltung misstrauischer Eltern gegenüber dem eigenen Nachwuchs: „Ich muss mal nach dem Rechten schauen“, so die selbstgewisse Ansage.
Die Mehrheit sogar der bemerkenswertesten und klügsten Analysen hat diesen speziellen Fokus: Die Märkerin und der Märker sind ein Objekt der Beobachtung und Betrachtung. Als ob gestern irgendwo zwischen Angermünde und Chorin ein Ötzi ausgebuddelt worden wäre und auf irgendwelche rechtspopulistischen wenn nicht gar rechtsextremen Viren zu untersuchen wäre.
Das ist eine Unverschämtheit
Der Märker auf der Analysenwaage, der Psychocouch und dem Krankenbett ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. Weil hier das Große-gegen-Kleine-Spiel gespielt wird, weil hier Opfer ausgemacht werden, wo Täter zu finden sind, weil die Mündigkeit ausgespart wird. Der Brandenburger, weiblich, männlich, divers, zugezogen oder eingeboren, ist ein Subjekt.
Dabei wissen die Menschen, was sie tun: Sie wählen zu vier Fünfteln – wenngleich weniger als früher – Parteien aus dem demokratischen Bogen von CDU über SPD bis zur Linken. Es wird jedoch auch erwartet, dass ein Fünftel die AfD mit dem unschwer als Nazi-Adepten zu decouvrierenden Anführer Andreas Kalbitz wählt. Warum das der Fall ist, wird aktuell von zahlreichen Analysen, Diagnosen und Asymmetrien begleitet. Was auffällt und stören muss: Der Fokus liegt zu gerne und zu schnell auf Erklärungen und Erklärungsmustern, die Entschuldigungen gleichkommen. Wende, Wegzug nach Westen, Discounter nicht fußläufig und dann noch Polen, das als Billigtanke auch schon mal günstiger war.
Der Brandenburger von heute ist so wenig der Brandenburger aus dem Jahr der friedlichen Revolution wie die übrigen Deutschen. 4,8 Millionen Umzüge gab es zwischen 1989 und 2017 aus dem Osten ins alte Bundesgebiet, meldete die „Zeit.“ Im selben Zeitraum fanden 2,9 Millionen Umzüge aus dem Westen in die neuen Länder und nach Ostberlin statt. Das sind in der Summe acht Millionen Gebiets-, Gesellschafts- und Mentalitätswechsel. Die Menschen sind weder stehen- noch sitzengeblieben. Sie haben sich aufgemacht, ihre Zukunft in der fremden Heimat zu suchen und zu finden. Auch in Brandenburg.
Schwer erziehbar
Daten wie diese sprechen für Selbstgewissheit, auf jeden Fall für selbstständiges Handeln. Hinzu kommt: Vor allem die Rückkehrer in den Osten – denn aktuell gehen mehr Menschen dorthin als nach Westen – akzeptieren dabei geringere Karriere- und Verdienstchancen. Denn sie kehren zurück, weil sie zu Familie und Freunden wollen. Keineswegs sind sie gescheitert im Westen, sie wandern mit Erfahrung und auch Stolz im Gepäck, sie haben sich verändert wie all die anderen in diesem früher geteilten Deutschland.
Aber dringen sie mit ihren Biographien durch, gibt es dafür Aufmerksamkeit und Anerkennung, wie sie auch all die Hiergebliebenen verdienen? Nein, das ist nicht der Fall. Und es ist leider eine notwendige Feststellung, dass die große Mehrheit der Erfolgreichen im Land ihre Biographien selbst beschweigen. Sie ducken sich in den AfD-Schatten. Der Brandenburger steht damit als (AfD)-Problemwolf immer und gut sichtbar auf der Lichtung, der Rest versteckt sich hinter der Kiefer.
Da hat es dann der gutwillige oder bisweilen mutwillige „Gesellschaftsarzt“ auch nicht mehr schwer. Er übersieht die Brandenburger und diagnostiziert den Brandenburger, aka Ostdeutschen, mal mindestens als schwererziehbaren Demokratiezögling. Wie falsch, wie arrogant, wie kurzspringend das doch ist!
Die Wahl am Sonntag zum Potsdamer Landtag findet schließlich nicht auf dem Krankenschein statt – sondern auf dem Wahlzettel. Und den füllen die Brandenburger aus. Sie, und sonst keiner. Bei vollem Bewusstsein, in voller Souveränität, in voller Absicht.