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Annalena Baerbock in Bielefeld.
© imago images/Rüdiger Wölk

Parteitag der Grünen: Wie die Basis vom Realismus-Kurs von Baerbock und Habeck überzeugt wurde

Sollen sich die Grünen mit Radikalforderungen profilieren oder Regierungsfähigkeit beweisen? Beim Parteitag setzte sich am Ende der Pragmatismus durch.

Karl-Wilhelm Koch aus dem Kreisverband Vulkaneifel hat schon viele Anträge auf Grünen-Parteitagen eingebracht. Doch dieses sei sein „ernstester“, sagt er. Der grauhaarige Delegierte steht auf der Bühne, hinter ihm ist eine Luftaufnahme eines Laubwaldes zu sehen, darauf das Parteitagsmotto: „Mehr wagen, um nicht alles zu riskieren.“

Vor wenigen Minuten hat Grünen-Chefin Annalena Baerbock von hier gerufen, beim Klimaschutz seien zu viele Jahre vergeudet worden. Sie wolle nicht aufs Regieren warten, sondern sofort, aus der Opposition heraus, mit der sozial-ökologischen Transformation beginnen – „damit dieser Wald auch für meine Kinder noch da ist“.

Es ist Tag drei der Beratungen in Bielefeld, auf der Tagesordnung stehen grüne Herzensthemen: der ökologische Umbau der Wirtschaft und die Klimapolitik. Fridays for Future hat den Grünen Rückenwind verschafft, aber die Bewegung macht auch Druck. Gleich zu Beginn des Parteitags ziehen Demonstranten der Schülerbewegung in die Halle ein, reden den Delegierten ins Gewissen, dass sie nicht zu vage Beschlüsse fassen sollen.

Ein schwieriger Spagat

Das Basis-Mitglied Koch zieht daraus den Schluss, dass die Grünen radikaler werden müssen. Das, was die Parteiführung vorgelegt hat, reicht aus seiner Sicht nicht aus, um die Klimakrise zu bekämpfen. Er fordert unter anderem einen höheren CO2-Preis. „Dann sind auch die Kohlekraftwerke schneller weg vom Fenster“, sagt Koch.

Für die Grünen ist es ein schwieriger Spagat: Einerseits sehen sie sich mit enormen Erwartungen konfrontiert, von Umweltverbänden, Fridays for Future, Wissenschaftlern. Auf der anderen Seite will die Parteiführung an diesem Wochenende nicht nur die Regierungsfähigkeit der Grünen unter Beweis stellen, sondern auch Ideen vorlegen, die einer Mehrheit in der Gesellschaft vermittelbar sind.

Habeck warnt: keine utopischen Vorstellungen

In der Politik gehe es darum, so viel zu fordern, wie umsetzbar sei, „an die Grenze zu gehen, aber nicht darüber hinaus“, sagt Grünen-Chef Robert Habeck vor Beginn der Debatte. Er mahnte seine Partei, sich „nicht mit völlig utopischen Vorstellungen“ ins Abseits zu stellen.

Ähnlich argumentiert der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir. Er höre oft, dass die Grünen bei ihren Forderungen „noch eine Schippe“ drauflegen müssten, in Koalitionsverhandlungen werde später ohnehin ein Teil wieder wegverhandelt.

Doch der Hesse hält das für den falschen Ansatz. „Wir sind inzwischen in einer anderen Rolle. Die Leute wollen von uns wissen, wie es geht“, sagt er. Früher hätten die Grünen oft die Erfahrung gemacht, dass sie vorweg gerannt seien. „Und dann haben wir uns irgendwann umgeschaut, und niemand war mehr hinter uns“, sagt er.

Realismus-Kurs

Bei den Abstimmungen am Sonntag folgen die Delegierten mehrheitlich dem „Realismus-Kurs“ des Bundesvorstands: Sie bremsen den Wunsch, das von den Grünen geforderte Investitionsprogramm für die ökologische Infrastruktur in Höhe von 30 Milliarden Euro auf 100 Milliarden Euro auszuweiten.

Sie sprechen sich dagegen aus, den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor von 2030 um fünf Jahre vorzuziehen. Und sie lehnen es ab, den grün-mitregierten Länder vorzuschreiben, das Klimapaket im Bundesrat abzulehnen, solange der Kohleausstieg bis 2030 nicht gesichert ist.

Schuldenbremse lockern

Beim CO2-Preis, der Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas verteuern soll, kommt die Parteiführung der Grünen Jugend entgegen: Der Parteitag beschließt, dass 2020 ein Preis von 60 Euro pro Tonne gelten soll. Ursprünglich sollte er zu diesem Zeitpunkt nach den Vorstellungen des Bundesvorstands bei 40 Euro liegen und erst 2021 auf 60 Euro steigen.

Doch viel wichtiger ist den Grünen ein anderes Signal: So fordern sie, die Bürger gleichzeitig durch ein „Energiegeld“ um 100 Euro pro Kopf zu entlasten. Eine Kommission soll künftig außerdem die Sozialverträglichkeit des CO2-Preises überwachen. Die Grünen wollen die Botschaft aussenden, dass der Umstieg auf eine klimaneutrale Wirtschaftsweise die Bevölkerung nicht überfordern soll.

Ein Ventil findet der Parteitag am Ende dann doch: Die Grünen wollen die Schuldenbremse für den Bund lockern, so dass mehr Investitionen möglich werden.

Das klare Bekenntnis zur Nullverschuldung für die Länder in Zeiten der Normalkonjunktur, das der Text ebenfalls vorsieht, wird jedoch gestrichen. Mit knapper Mehrheit von 51,8 Prozent setzt der Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg sich hier durch. Von einem ernsthaften Aufstand gegen die Parteispitze ist das allerdings weit entfernt.

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