Kinderschokolade, Gauland, Boateng: Wider den deutschen Empörungsdrang
Die Flüchtlinge kommen wieder übers Mittelmeer. Hunderte ertrinken. Was tun? Keiner weiß es. Also werden Körner gepickt. Denn wir wollen die Guten bleiben. Dafür muss es Böse geben. Ein Kommentar
Keiner weiß gern nicht weiter. Ratlosigkeit hat sich in das verwandelt, was früher die Nacktheit war: Man schämt sich ihrer. Doch die Menschen lehnen es instinktiv ab, dass vitale Konflikte, die unlösbar scheinen, in ihnen weiterschwelen. Als Ventil wählen sie daher die Übersprungshandlung. Statt zu kämpfen oder zu fliehen, wie die berühmten Hähne von Konrad Lorenz, picken sie erstmal ein paar Körner. Was sinnlos scheint, dient dem Stressabbau.
Das ist die Folie, vor der die gegenwärtige Verfasstheit vieler Deutscher verstanden werden muss. Die Großmoral aus dem Herbst vergangenen Jahres ist kleinlaut geworden. Für die Flüchtlinge in Idomeni hat niemand mehr einen Finger gekrümmt, über die Schließung der Balkanroute waren fast alle erleichtert (nicht öffentlich natürlich), der Kuhhandel mit der Türkei ist den meisten peinlich, dass Maghreb-Länder, in denen Menschenrechte missachtet werden, plötzlich sichere Herkunftsstaaten sein sollen, wirkt absurd. Und nun geschieht das, was prophezeit worden war: Die Flüchtlinge wechseln ihre Route und kommen wieder übers Mittelmeer. Hunderte ertrinken. Was tun? Keiner weiß es. Feste Kontingente? Botschaftsasyl? Hotspots vor Ort? Am Ende würden die meisten doch wieder in Deutschland landen, weil es eine europäische Solidarität in der Flüchtlingspolitik nicht gibt. Das aber nährt die Propaganda der Rechtspopulisten. Also werden Körner gepickt.
Denn je verwirrender die makroskopische Lage, desto klarer muss das Urteil im Mikroskopischen sein. Die Devise heißt: Der Flüchtlingsstrom muss zwar gestoppt werden, aber wir wollen die Guten bleiben. Dafür muss es Böse geben. Ohne Faschisten keine Antifaschisten.
Ein kollektives Bekenntnis zur Toleranz
Den ersten Orkan im Wasserglas entfachte ein kleiner Beitrag auf einem bis dato unbekannten Profil bei Facebook, das sich „Pegida BW-Bodensee“ nennt (die Pegida-Bewegung distanzierte sich später davon). Darin äußert sich jemand kritisch darüber, dass der Kinderschokolade jetzt Kinderbilder von Fußball-Nationalspielern beiliegen, die einen Migrationshintergrund haben. Nun haben es nur Thesen verdient, widerlegt zu werden, die nicht offensichtlich unsinnig sind. So gesehen schwingt im öffentlichen Empörungschor über diesen Facebook-Eintrag die Vermutung mit, rassistische Vorurteile über die Zusammensetzung der Nationalmannschaft seien weit verbreitet. Belege dafür bleiben die Empörten freilich schuldig.
Für die zweite Aufregungswelle sorgte am vergangenen Wochenende der stellvertretende AfD-Vorsitzende Alexander Gauland mit seinem Satz: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Man kann diesen Satz verschieden interpretieren, entweder als bloße Beschreibung rassistischer Vorurteilsstrukturen in Deutschland oder als Parteinahme für Menschen, die rassistisch denken. Für die zweite Lesart gibt es durchaus begründbare Annahmen.
Aber muss das in einen fast zwanghaften kollektiven Bekenntnis zur Toleranz im allgemeinen und Wertschätzung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im besonderen münden? Selbst die Bundeskanzlerin glaubte, darin einstimmen zu müssen. Gleichzeitig wird vor der Strategie der Rechtspopulisten gewarnt, solche Debatten anzuzetteln.
Ja, ohne Mitstreiter keine Anzettler, ließe sich da erwidern. Aber wer zum Stressabbau Körner pickt, den lassen Widersprüche kalt.