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Ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes betritt in einem Schutzanzug eine Flüchtlingsunterkunft in St. Augustin. 
© Foto: Marcel Kusch/dpa

Neue Studie sieht Heime besonders gefährdet: Werden Flüchtlingsunterkünfte die neuen Corona-Hotspots?

Verbände warnen schon länger, dass sich das Coronavirus in Flüchtlingsunterkünften rasch verbreiten könnte. Es drohen Infektionsketten wie auf einem Kreuzfahrtschiff

Beengte Verhältnisse, viele Betten in einem Schlafraum, gemeinsam genutzte Sanitäranlagen und Sammelküche: Kommt es zu einer Corona-Infektion in einer Flüchtlingsunterkunft, ist einer Studie zufolge das Risiko einer Ansteckung im Schnitt etwa so hoch wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Das hat eine Untersuchung unter Leitung des Forschers Kayvan Bozorgmehr von der Uni Bielefeld ergeben. Das Virus könne sich rasch ausbreiten, wenn es einmal durch Bewohner oder Personal in die Unterkunft gelangt sei, sagt der Studienleiter der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch.

Ob eine Pandemie ausbreche, sei „reiner Zufall“

Pro Asyl und die Flüchtlingsräte warnen schon länger vor erhöhten Risiken für die Bewohner der Unterkünfte. Zuletzt haben die Fälle von 165 Infizierten in einem Heim in St. Augustin bei Bonn - 152 Bewohner und 13 Mitarbeiter - Besorgnis ausgelöst. „In allen Bundesländern gibt es große Flüchtlingseinrichtungen. Ob dort die Pandemie ausbricht oder nicht, ist reiner Zufall“, meint der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt. Es sei wichtig, dass sich nun erstmals eine wissenschaftliche Untersuchung speziell mit den Auswirkungen von Corona auf Flüchtlingsheime befasse.

Datenbasis „prekär“, bundesweite Zahlen fehlen

Forscher des Kompetenznetzwerks Public Health Covid-19 hatten unter Bozorgmehrs Leitung 23 Unterkünfte in NRW, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt untersucht. Grundsätzlich sei die Datenbasis auf diesem Feld „prekär“, bundesweite Statistiken zu Corona-Ausbrüchen gebe es nicht, schildert der Bielefelder Experte. Daher habe man die 1367 bestätigten Infektionsfälle in den 23 Einrichtungen zur Grundlage genommen und diese in Bezug gesetzt zu der gesamten Bewohnerzahl - 6083 Personen, Stand am 8. Mai.

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Man könne die Studienergebnisse nicht auf alle Flüchtlingsheime übertragen, stellt Bozorgmehr klar. Es gebe auch zahlreiche Unterkünfte ohne Corona-Fälle. Aber Abstandsgebot und Kontaktauflagen könnten in den Heimen kaum eingehalten werden. Kleine Räume für mehrere Personen, Gemeinschaftsküchen, wenige Toiletten und Duschen für viele Bewohner seien in der Pandemie hochproblematische Lebensbedingungen.

Strikte Trennung der Infizierten oft räumlich nicht möglich

Die Untersuchung zeige: Tritt ein Infektionsfall auf, so stecken sich schnell viele weitere Personen an. Und zwar in vergleichbarer Höhe wie auf Kreuzfahrtschiffen. Dort hatten Corona-Ausbrüche mit teilweise Hunderten Infizierten und einzelnen Todesfällen mehrfach für Aufsehen gesorgt. Die strikte Trennung infizierter Flüchtlinge von Nichtinfizierten sei aus räumlichen Gründen oft nicht möglich, erläutert Bozorgmehr.

Gelinge eine frühe Identifizierung und effektive Isolierung, seien die einzelnen Risiken in den Einrichtungen eher gering. Könnten aber Infizierte und Nichtinfizierte nicht wirksam getrennt werden oder die Gesamteinrichtung werde unter Quarantäne gestellt, „erreichen wir das Risiko von Kreuzfahrtschiffen oder einen höheren Wert“. Über die noch unveröffentlichte Studie hatten zunächst SWR und tagesschau.de berichtet.

Pro Asyl kritisiert: „Die Gefahr wird völlig unterschätzt.“ Bund und Länder müssten nun schnell dafür sorgen, dass große Einrichtungen „geleert“ würden und man wegkomme von den Massenunterkünften. Man laufe dort sonst „sehenden Auges in eine Pandemie-Situation hinein, die vermeidbar wäre“, unterstreicht Burkhardt.

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Um das Ansteckungsrisiko zu senken, fordert auch der Flüchtlingsrat NRW eine dezentrale Unterbringung. Vorrangig sollten Menschen aus der Risikogruppe etwa in Ferienwohnungen oder Jugendherbergen untergebracht werden. „Entzerrung ist das Gebot der Stunde“, sagt Geschäftsführerin Birgit Naujoks. Und: „Oft gibt es keine oder nicht genug Masken oder Desinfektionsmittel. Reinigungspersonal geht zum Teil nicht mehr in die Einrichtungen rein aus Angst vor einer Ansteckung.“

Zu wenig Schutzausrüstung, zu wenig Desinfektionsmittel

Die Heime werden Naujoks zufolge zu „Corona-Brutstätten“ gemacht, wenn man sie mit allen Bewohnern in eine „Vollquarantäne“ nehme. „Damit erhöht man die Ansteckungsgefahr für alle Flüchtlinge massiv, das Virus muss sich dann ja schnell ausbreiten.“ Auch in der Landesunterkunft in St. Augustin sei es zu einer Vollquarantäne gekommen, zudem in Bonn, Bielefeld, Marl und Euskirchen sowie in einigen Einrichtungen anderer Bundesländer.

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„Man muss unbedingt gewährleisten, dass die Unterbringung der Flüchtlinge coronaschutzkonform ist“, mahnt Bozorgmehr. Aus Infektionsschutzsicht heiße das: Einzelzimmer und keine weitere gemeinschaftliche Nutzung von Küche, Dusche und WC durch mehrere Familien gleichzeitig. „Wenn die Politik es ernst meint mit einer Eindämmung der Pandemie, muss sie effektive Ansätze für die Flüchtlingsheime in ihre Pläne einbauen. Flüchtlinge sind keine Marginalgruppe.“ (dpa)

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