Berlinwahl: Wer sind die Piraten?
Die Piraten kommen ins Berliner Abgeordnetenhaus. Zeit, zu fragen was sie wollen und woran sie eventuell scheitern könnten.
Die Pressekonferenz in Saal 113 des Berliner Abgeordnetenhauses hatte noch nicht begonnen, da bestätigte Simon Kowalewski schon jedes Vorurteil: Langhaarig, männlich, übernächtigt, mit stickerverklebtem Macbook und Energydrink in der Hand sagte der Schöneberger Direktkandidat, mit Platz 14 auf der Landesliste knapp ins Abgeordnetenhaus eingezogen, Dinge, die ihm vielleicht einmal leid tun werden: „Wir werden uns zunächst der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses unterwerfen“, sagte Kowalewski grinsend – nachdem er zuvor bekundet hatte, vom „grundlegenden Ordnungsprinzip“ des Chaos überzeugt zu sein. Sein wichtigstes politisches Anliegen als Neu-Parlamentarier: „Mehr Club Mate in Getränkeautomaten.“ Nein, natürlich nur ein Scherz. Aber als Kowalewski den auflöste, waren manche Kameras schon wieder umgeschwenkt.
Wer sind die Piraten?
Zunächst einmal: Die Berliner Piraten sind blutige Anfänger im parlamentspolitischen Geschäft, nichts anderes wollten und konnten sie am Montag nach ihrem Triumph darstellen. Man sei aber „den Umständen entsprechend“ gut aufgestellt für die kommenden Aufgaben, versicherte Spitzenkandidat Andreas Baum. „Die Piratenpartei ist eine Partei der ersten Male“, sagte der Landesvorsitzende Gerhard Anger. Schnell sind sie damit vorangekommen: Auf die Gründung der Bundespartei, die sich wie zahlreiche Piratenparteien weltweit im Jahr 2006 als Partei vor allem für Freiheitsrechte und Datenschutz im Internet gründete, folgte 2009 der erste große Achtungserfolg – 3,4 Prozent der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl, in Berlin. Und nun also 8,9 Prozent bei der Abgeordnetenhauswahl, ein Vorstoß in neue Dimensionen: Erstmals steht den Piraten damit auch eine staatliche Erstattung der Wahlkampfkosten zu. Kurios: Mit 65 000 Euro – 50 Cent je Zweitstimme – wird die die realen Kosten von 35 000 Euro weit überschreiten.
Sind die Piraten links oder rechts?
„Wir sind weder links noch rechts, sondern seltsam“, sagt Sebastian Nerz, Bio-Informatiker, Ex-CDU-Mitglied und Bundesvorsitzender der Piratenpartei. Was die Piraten vor allem anderen von anderen Parteien unterscheidet, ist, dass sie ihren Mitgliedern durch die Software „LiquidFeedback“ basisdemokratische Mitbestimmung in nahezu allen inhaltlichen Fragen möglich machen. So hat sich – abseits der netzpolitischen Kernthemen – ein in der Tat obskures Sammelsurium herausgebildet: Neben sozialen Forderungen etwa nach einem bedingungslosen Grundeinkommen stehen eher rechtsliberale Positionen wie ein klares Nein der männerdominierten Piraten – unter den 15 Gewählten in Berlin ist nur eine Frau – zur Frauenquote. Die Geschlechterschieflage reproduzierte sich in Berlin prompt in der Wählerschaft: Gewählt wurden die Piraten von elf Prozent der männlichen Wähler, dagegen stehen nur sieben Prozent der Frauen. Daneben sind die Piraten vor allem eins: jung. Von den unter 30-Jährigen erhielt die Partei 15 Prozent der Stimmen, im Ostteil der Stadt sogar 20 Prozent. Und noch etwas: 16 Prozent der Stimmen strich sie bei Wählern ohne Job ein – genauso viel wie die Linkspartei.
Geht es nur um „freies Internet“?
„Transparenz“ ist das Zauberwort, das die Kandidaten samt und sonders im Munde führen und das sie auch außerhalb des Netzes stark machen soll, etwa in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. „Die Bürger wollen wissen, was mit ihren Steuern passiert“, sagte Andreas Baum am Montag – Verträge wie die mit der S-Bahn müssten in Zukunft offen gelegt werden. Forderungen, mit denen sich durchaus öffentlichkeitswirksam und alltagsnah Oppositionsarbeit machen lässt.
Was sind Probleme?
Schräge Typen, keine Frauen, seltsame Forderungen, etwa die nach einem öffentlichen Nahverkehr, der wie gebührenfinanzierter Rundfunk funktionieren soll, das alles dürfte der Partei langfristig weniger Probleme machen als eine Konstruktionsbesonderheit, die derzeit noch als Errungenschaft gefeiert wird: Das hohe Maß an basisdemokratischer Durchdringung sorgt bei den Piraten nicht nur für einen undurchschaubaren Katalog an Forderungen, es sorgt auch dafür, dass dieser sich – zumindest bisher – permanent wandelt. Die so ermöglichte „hohe Flexibilität“, die die Piraten selbst betonen, kann so schnell zur Unzuverlässigkeit werden: dann nämlich, wenn eine spezielle Position, für die die Piraten gewählt wurden, während der Wahlperiode plötzlich kippt.
Ein anderes Problem, mit dem die Piraten in der Vergangenheit vor allem öffentlich zu kämpfen hatten, ist der emphatische Freiheitsbegriff, die Grundhaltung, dass zunächst einmal jede Meinung und Biografie innerhalb der Parteistrukturen zu dulden ist. Von Juni bis September 2009 saß der Ex-SPD-Abgeordnete Jörg Tauss, inzwischen rechtskräftig verurteilt wegen des „Besitzes kinderpornografischer Schriften“, für die Piraten im Bundestag. Am 28. Mai 2010, dem Tag seiner Verurteilung, trat Tauss freiwillig aus der Piratenpartei aus, um ihr eine „Tauss-Debatte“ zu ersparen. Die hätte es wohl gegeben, was der ebenfalls 2009 ins Rollen gekommene Fall Bodo Thiesen beweist: Nachdem dieser den Holocaust relativiert hatte, reagierte die Partei mit einem Ausschlussverfahren, das vom Landesschiedsgericht der Partei in Rheinland-Pfalz aber bis heute nicht abgeschlossen wurde.
Sind die Berliner Piraten seriös?
Aus dem Berliner Landesverband sind derartige Ausrutscher nicht bekannt, dieser könnte aber an anderer Stelle Ärger machen – speziell den Parlamentariern der neuen Fraktion: Auf die Frage, ob die Piraten gute Geheimnisträger seien, ob Verträge und nichtöffentliche Protokolle durch sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen könnten, äußerten sich mehrere der Angesprochenen am Montag zurückhaltend. Der aus Baden-Württemberg angereiste Bundesvorsitzende Nerz könnte und will im Zweifelsfall nicht eingreifen: „Das müssen die selbst wissen.“
Was sind personelle Knackpunkte?
Die große Frage gerade der Fraktion der Berliner Piraten in den kommenden fünf Jahren wird sein, wie lange basisdemokratisches System, politische Realität und einzelne Egos in Balance zu halten sind. Erste Friktionen zeigten sich bereits am Montag, als Pankows Spitzenpirat Christopher Lauer das Podium zunehmend so dominierte, dass Spitzenkandidat Baum die Presse darauf hinwies, man könne auch andere Piraten einmal etwas fragen. Lauer ist generell eine interessante Personalie: Obschon Experte der Schattenfraktion für die piratischen Kernthemen Bürgerbeteiligung und Transparenz, zudem mit rhetorischem Talent ausgestattet, kam er lediglich auf Listenplatz zehn – Piraten schätzen keinen Personenkult. Sollte er auch in der Wahl zum Fraktionsvorsitz abgestraft werden, den Spitzenkandidat Baum nicht automatisch innehat, könnte es für ihn schwer werden. Oder für die anderen Piraten.mit kch/sc
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