Der 18. Deutsche Bundestag: Wer sind die Neuen?
Sie waren Lehrer, Landwirte, Metzger oder sogar Wrestler. Am Dienstag haben sie ein neues Leben angefangen – als Abgeordnete. Ein Drittel der insgesamt 631 Parlamentarier zieht erstmals in den Bundestag ein. Acht von ihnen stellen wir hier vor.
Die einen fühlen sich wie am ersten Schultag, andere erinnern sich an den Beginn des Studiums oder der Bundeswehrzeit. Überall neue Gesichter, unbekannte Abläufe und Wege, ständig verläuft man sich. Willkommen im Deutschen Bundestag! Mehr als ein Drittel der insgesamt 631 Abgeordneten sind hier neu eingezogen, müssen Büros einrichten, Mitarbeiter rekrutieren und sich auf die verschiedenen Gremien verteilen.
Damit sie sich schnell zurechtfinden, hat die Bundestagsverwaltung gleich nach der Wahl zwei Informationsveranstaltungen organisiert. Es gibt Hinweise, Tipps, den vorläufigen Parlamentsausweis und graue Jutebeutel voller Infomaterial. Darüber hinaus laden die Parteien ihre Neulinge nicht nur zu Fraktionssitzungen, sondern auch zu informellen Treffen. Hier werden erste Kontakte geknüpft und letzte Fragen beantwortet. Vielleicht fallen die Neuparlamentarier also schon gar nicht mehr so auf, wenn der Bundestag an diesem Dienstag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt.
Dass diesmal so viele Neue dabei sind, die davon oft selbst ziemlich überrascht wurden, hat viel mit dem veränderten Wahlrecht zu tun. Es soll einen möglichst exakten Parteienproporz herstellen. Überhangmandate werden jetzt durch Ausgleichsmandate quasi neutralisiert. Das bedeutet mehr Sitze, mehr Abgeordnete.
Von den 230 neuen Parlamentariern sind 96 Frauen. Gemäß ihrem Wahlergebnis stellt die Unionsfraktion die meisten Neulinge: 114. Für die Sozialdemokraten sitzen 87 neue Abgeordnete im Parlament, für die Grünen 18, die Linke kommt auf elf neue Gesichter.
Ihre Biografien, Ziele und Erfahrungen, die sie jetzt mindestens für vier Jahre in die deutsche Politik mit einbringen wollen, sind so verschieden und individuell wie ihre Wähler. Von einigen wird man noch hören, andere werden kaum in Erscheinung treten. Eines aber haben sie gemeinsam: Sie alle sind auf der Suche nach ihrem Platz und ihrer Rolle im 18. Deutschen Bundestag.
Kees de Vries, CDU
Wer etwas bewegen will, muss sich selbst bewegen. Und sein Schicksal in die Hand nehmen. So hat es Kees de Vries sein Leben lang gehalten – und ist damit weit gekommen. Bis in den Bundestag hat es der Landwirt, gebürtiger Holländer und Wahl-Anhaltiner geschafft.
Der 58-Jährige mit dem charmanten Rudi-Carell-Akzent ist als CDU-Direktkandidat mit 41 Prozent der Erststimmen in die Volksvertretung eingezogen – und ließ seinen Konkurrenten Jan Korte (Linke) im Wahlkreis 71 weit hinter sich. Obwohl Vries ganz und gar kein Neuling ist auf dem politischen Parkett, hat ihn sein erster Besuch in der Hauptstadt nach der Wahl ganz schön mitgenommen. „Ich werde jetzt noch ganz emotional, wenn ich daran denke“, erinnert sich de Vries an die erste Sitzung seiner Fraktion in Berlin. „Ich konnte über die Balustrade in den Plenarsaal des Reichstags gucken und dachte mir: Mensch, in den nächsten vier Jahren darfst du über die Zukunft Deutschlands mitentscheiden. Das war ein wunderbares Erlebnis, ein Glücksmoment.“
Wer mit Vries spricht, bekommt rasch eine Vorstellung, warum die Anhaltiner ihren künftigen Volksvertreter mit großer Mehrheit gewählt haben. Der Mann weiß, was er will, und er fackelt nicht lange – so hat er es schon 1992 gehalten, als er seine holländische Heimat von jetzt auf gleich zurückließ und mit seiner Frau Ella und den fünf Kindern nach Deetz umzog. Mittlerweile sind sie zu acht. „Ich stamme selbst aus einer Bauernfamilie mit zwölf Kindern, vier von uns wollten Landwirt werden. Nur gab es in den Niederlanden dafür nicht allzu viele Möglichkeiten. In Deutschland hat meine Familie kurz nach der Wende die Chance bekommen, einen eigenen Hof zu bewirtschaften.“ Heute nennt die Familie Vries 1300 Hektar Land ihr Eigen; zum Betrieb gehören 700 Milchkühe und 600 Jungrinder.
Vries selbst war dort mehrere Jahre für die Finanzen zuständig, bis es ihn in die Politik zog. Er wurde erst Kreistagsabgeordneter und engagierte sich unter anderem bei einem Bauverband. 2005 wurde er deutscher Staatsbürger. Im Bundestag will sich der frischgebackene Abgeordnete vor allem um die Themen Landwirtschaft, ländlicher Raum und Umwelt kümmern: „Damit kenne ich mich nun mal am besten aus.“ Sarah Kramer
Matthias Ilgen, SPD
In den USA hat es das schon mal gegeben. Da schaffte Jesse, genannt „The Body“, Ventura den Sprung vom Ring in die Politik. Der Wrestler wurde 1998 Gouverneur von Minnesota. Aber in Deutschland? Hier ist der Sport lange nicht so populär und die Politik funktioniert sowieso ganz anders. Und trotzdem wird dem neuen Bundestag auch ein ehemaliger Wrestler angehören. Kampfname: Matthias Rüdiger Freiherr von Ilgen. Abgeordnetenname: Matthias Ilgen.
Dabei sieht er gar nicht so aus, wie man sich landläufig jemanden vorstellt, der andere Leute durch den Ring prügelt. Matthias Ilgen ist kein Muskelprotz, niemand, der hautenge Kostüme trägt und sich das Gesicht martialisch bemalt. Den undurchdringlichen Blick aber, den beherrscht er ganz gut. Wer weiß, wozu das noch gut sein kann. „Ein bisschen schauspielerische Fähigkeiten wird man wohl im Bundestag brauchen. Da kommt es auch auf Charisma an“, erzählt Ilgen, und man hört sofort, woher er kommt. Ganz aus dem Norden, Schleswig-Holstein, Wahlkreis Nordfriesland, Husum.
Graue Stadt am Meer nannte es Theodor Storm einmal. Passt nicht recht, wenn man sich den SPD-Mann und sein Hobby so betrachtet. Natürlich wissen die Kollegen im Bundestag längst Bescheid, wer da kommt – die Geschichte des Matthias Ilgen hat sich herumgesprochen. „Ich bin wahrscheinlich der bekannteste Neue“, sagt er. Auch Selbstbewusstsein ist eine Eigenschaft, die man beim Wrestling perfektioniert. So spricht der 29 Jahre alte Politiker lange und offen darüber, was im Wahlkampf seiner SPD alles schiefgelaufen sei und was mit ihm womöglich besser klappt.
Als „Lautstärkeregler“ bezeichnet er seine künftige Rolle in der Partei unter anderem. Ein wirksameres Auftreten seiner SPD und eine klare Sprache statt des oft komplizierten Politikersprechs: Das will er erreichen, denn das hat er gelernt. Neben seinem Sportlerleben studierte Ilgen auf Lehramt und arbeitete danach als selbstständiger Veranstaltungskaufmann im Messegeschäft. Einen klassischen Achtstundentag kennt er nicht. Morgens um 6 Uhr geht’s ins Fitnessstudio, danach an die Arbeit, manchmal bis spät abends.
Vom Pensum her braucht er sich für seine neue Aufgabe nicht großartig umzustellen. Nur das mit dem Wrestling lässt er zunächst einmal ruhen – nicht zu schaffen neben der Pendelei zwischen dem Wahlkreis und Prenzlauer Berg, wo Matthias Ilgen zusammen mit einem Freund eine WG bezieht. Die Begeisterung für den Kampfsport aber wird bleiben. „Wenn es einen gepackt hat, kommt man davon nicht mehr los“, sagt Matthias Ilgen. Nicht mal als Bundestagsabgeordneter. Katrin Schulze
Sven Volmering, CDU
Das neue Leben von Sven Volmering ist gleich doppelt aufregend. Nicht nur, dass er mit dem nordrhein-westfälischen Listenplatz 26 in den Bundestag rutschte, pünktlich zu Beginn seiner neuen Tätigkeit erwarten der 37 Jahre alte CDU-Politiker und seine Frau auch noch Nachwuchs. Alles auf einmal. „Schon sehr viel“, sagt er denn auch. „Das muss man alles erst einmal verarbeiten.“ Aber Sven Volmering klingt nicht so, als ob ihn der Trubel stören würde.
Locker und immer gut gelaunt kommt er rüber – das sagen sogar seine Schüler. In seinem alten Leben unterrichtete Sven Volmering Sozialwissenschaften und Geschichte, fast sieben Jahre lang. „Ich war immer sehr gerne Lehrer. Klar, dass da am letzten Schultag Wehmut aufkam“, sagt er. Der vorerst letzte Schultag des Sven Volmering war Montag, der 23. September. Viel geschlafen hatte er zuvor nicht, denn die Wahlnacht war eine lange gewesen.
Am späten Abend des 22. September erfuhr er, dass es reichen würde für den Bundestag. Seither organisiert er sein neues Leben und hofft, dass er ein paar Tugenden aus dem alten mit hinüberretten kann: „Einer der Gründe, warum ich Lehrer geworden bin, war, dass man geistig immer auf der Höhe der Zeit bleibt. Das möchte ich in der neuen Aufgabe beibehalten.“
Was seine Aktivität in sozialen Netzwerken angeht, ist er in jedem Fall vorne dabei. Über Twitter und Facebook nimmt Sven Volmering die Öffentlichkeit mit ins Abgeordnetengeschäft. Er postet kurz nach seinem Einzug zum Beispiel ein Bild seines provisorischen Berliner Büros und bittet um Mithilfe bei der Gestaltung. „Habt Ihr Verbesserungsvorschläge, was da noch rein sollte?“, fragt er. Etwas weiter ist der Politiker mit seiner Bleibe. Weil sein Bruder praktischerweise in der Stadt lebt, eröffnen beide eine Wohngemeinschaft in Tiergarten. Sven Volmering sagt, es sei ganz gut, wenn „ein Stück Heimat da ist“. Und zwar nicht nur, weil er dann einen Gegner für Duelle auf der Playstation hat: „So kann man auch mal über Familiendinge reden und nicht nur über Politik.“
Mit der hat Sven Volmering ohnehin genug zu tun. 1991 trat er der Jungen Union bei, ein Jahr später der CDU. Danach stieg er bis zum Landesvorsitzenden der Jungen Union und schließlich zum stellvertretenden Vorsitzenden der Partei in NRW auf. Dass er aber auch den Sprung in den Bundestag schaffen würde, war nicht gerade selbstverständlich. Denn die Gegend, in der Sven Volmering groß wurde, ist eigentlich eine rote. Im Ruhrgebiet wird traditionell eher sozialdemokratisch gewählt. So ist die Union seit den 90er Jahren nicht mehr mit einem Abgeordneten aus dem Wahlkreis 125, Bottrop-Recklinghausen III, in Berlin vertreten gewesen. Bis jetzt. Katrin Schulze
Annalena Baerbock, Grüne
Nebenbei will sie endlich die fast fertige Promotion beenden, trotz der nun noch knapperen Zeit. Das Thema ist für eine Grüne perfekt: „Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe“. Das sei im Völkerrecht nämlich nicht geregelt, erzählt Annalena Baerbock. Eine Konvention für diese Fälle, ähnlich wie die Genfer zum Kriegsrecht, sei aber nötig, damit Staaten nicht mehr – so wie Birma 2008 trotz 80 000 Toten nach einem Zyklon – internationale Hilfe für ihre Bevölkerung ablehnen können. „Für Opfer ist es egal, ob sie erschossen werden oder durch einen Wirbelsturm getötet.“
Sich hineinknien in Probleme, mit Neugier, Verve und Hartnäckigkeit, Dinge auf den Punkt bringen, das kann sie – auch in der Politik. Die 32-Jährige, die mit ihrem Mann und der zweijährigen Tochter Luna in Potsdam lebt, zog für die Grünen neu in den Bundestag ein. Als Einzige ihrer Partei aus Brandenburg, wo sie seit 2009 Landesvorsitzende ist. In einer Doppelspitze. „Einer, die funktioniert“, betont sie lächelnd. Den kleinen Landesverband beschreibt sie als „anders“, was auch einiges über sie sagt: „Nicht dogmatisch, offener, geprägt durch das ostdeutsche Bündnis 90, die Mentalität der Runden Tische.“ Im Gegensatz zu „Hardcore-Landesverbänden“ gebe es hier keine Flügel. Das ist etwas, was sie sich auch für die Bundespartei wünscht: „Die Flügelmentalität nervt.“
Ursprünglich kommt Baerbock aus einem kleinen Dorf in Niedersachsen, sie machte das Abi in Hannover, „täglich eine Busstunde zum Gymnasium“. Es kam ihr später in Brandenburg zugute, dass sie das Leben in ländlichen Regionen kennt. Sie trainierte damals, Trampolinspringen, fünfmal die Woche. Als Kontrast ging es noch auf den Fußballplatz, was sie heute noch gern tut. Politisch war sie damals schon, gründete ein lokales Bündnis gegen Nazis, Anfang der Neunziger, als es viele Anschläge in Deutschland gab. Zu den Grünen kam sie eher zufällig. Als sie Politik, öffentliches Recht und Völkerrecht in Hamburg und London studierte, machte Baerbock ein Praktikum bei der Europaabgeordneten Elisabeth Schroedter. Es fügte sich, dass sie bleiben konnte. Sie leitete Schroedters Büro in Brüssel, wurde Referentin der Bundestagsfraktion, ging dann, schon als Landeschefin, in Bundes- und Europagremien. Europa ließ sie nie los, als Vorstandsmitglied der Grünen Europartei kam sie viel rum, fast kein Land, wo sie sich nicht umschaute.
Trotzdem würde sie jetzt im Bundestag lieber andere Felder als Europa oder Internationales beackern, etwa Energiepolitik, wo Brandenburg gewissermaßen ein Versuchslabor der Energiewende ist, mit den Problemen um die Braunkohle und erneuerbare Energien. Zunächst aber werde das Mandat auch privat eine „große Herausforderung“, sagt Annalena Baerbock. Der Alltag muss neu organisiert werden, mit der Tochter in der Kita, ohne Großeltern in der Nähe, bislang ohne Auto, bewusst. „Es wird ein Problem, das durchzuhalten.“ Zumal auch die Grünen ja nicht sehr familienfreundlich seien, mit ihrer Debattierfreude, langen Sitzungen, Sonderparteitagen. „Wenn ein Mann sagt, er muss ein Länderspiel gucken, wird das auch bei uns eher toleriert, als wenn eine Frau sagt: Die Kinder müssen ins Bett.“ Thorsten Metzner
Hubertus Zdebel, Linke
Als Hobbys erwähnt er Schach und Schokolade. Und wenn Hubertus Zdebel an seine künftige Rolle in der Bundespolitik denkt, kommt er auch auf seine Hauskatze daheim in Münster zu sprechen, die ganz toll klettern könne und die er während der Sitzungswochen in Berlin sicherlich vermissen werde. Da menschelt es ein wenig bei dem 58-Jährigen mit dem grauen Pferdeschwanz. Auch sein Sternzeichen Skorpion gibt er an – demnach kann er sowohl ehrgeizig als auch rücksichtslos sein.
Zdebel war lange Grüner, trat 2007 kurz nach dem Vereinigungsparteitag von PDS und WASG dort aus und schloss sich der Linken an. Er folgte dem NRW-Landtagsabgeordneten Rüdiger Sagel, für den er seinerzeit als Büroleiter arbeitete – die beiden gehören zu den ganz wenigen, die aus der Ökopartei den Weg zu Oskar Lafontaine fanden. Der hat für ihn Vorbildfunktion, wenn es um die Ausdehnung zur gesamtdeutschen Partei geht: In der Bildergalerie auf seiner Homepage präsentiert er ein gemeinsames Foto von sich und dem Ex-Parteivorsitzenden. „Ich sehe mich im linken Flügel der Linken“, sagt Zdebel. Organisiert hat er sich im trotzkistischen Netzwerk Marx 21, das bisher nur mit zwei Abgeordneten aus Bayern und Hessen im Bundestag vertreten war.
Mit anderen aus Nordrhein-Westfalen steht Zdebel für die harte Linie – für diejenigen also, die es Gregor Gysi noch schwer machen könnten. Aber selbst die Reformer bescheinigen ihm, er gehöre zu denen, die „Themen fürs linke Herz“ bieten würden. Praktisch heißt das auch, sich vehement jenen entgegenzustellen, die aus der Linken am liebsten eine ostdeutsche Regionalpartei machen würden – ob das nun die SPD ist oder Leute aus den eigenen Reihen.
Als Beruf gibt der Abgeordnete Journalist an. Das aber bezieht sich nur auf Jobs vor Jahrzehnten bei Münsteraner Stadtmagazinen. Seit er erwachsen ist, hat er sich politisch engagiert, im Asta der Universität Münster, als Hausbesetzer oder etwa als Mitarbeiter für einen Bundestagsabgeordneten vom linken Flügel der Grünen. Für die Linke war er in NRW Wahlkampfleiter, zwei Jahre lang deren Landeschef.
Nur Abgeordneter war Zdebel noch nie, sieht man von zwei Kommunalpolitikjahren als Ratsherr der Grünen in Münster ab. Große Vorfreude, was die Parlamentsarbeit angeht, lässt er nicht erkennen. Es sei ja nun nicht alles total neu für ihn, die Erwartungen deshalb auch nicht allzu hoch. Im Parlament hat er, bis auf Weiteres ohne eigenes Büro, Unterschlupf gefunden bei einem Abgeordneten aus Aachen. Und eine Wohnung in Berlin hat er auch noch nicht – wenn er fußläufig vom Reichstag keine findet, will er in Neukölln und Friedrichshain suchen. Die erste Klausur vor ein paar Tagen mit den neuen Abgeordnetenkollegen versetzte Hubertus Zdebel nicht in Euphorie. „War so ganz okay“, sagt er knapp. Matthias Meisner
Gabriele Schmidt, CDU
Am Abend der Bundestagswahl geht Gabriele Schmidt früh ins Bett, sie hat Bronchitis. Als sie am nächsten Morgen einen Anruf ihres CDU-Kreisvorsitzenden bekommt, kann sie kaum glauben, was sie hört: „Du bist im Bundestag!“ Eine halbe Stunde später meldet sich jemand von der Bundestagsverwaltung und fragt, ob man Flug und Hotel für sie buchen solle. „Ich hatte mit einer Wahl in den Bundestag nicht gerechnet“, sagt die 57 Jahre alte gelernte Industriekauffrau. „Es war nicht meine Lebensplanung, nach Berlin zu gehen.“ Sie sucht dann lieber selbst im Internet nach einem Flug und nimmt die Economy Class. Den Preis für die Business Class, die Abgeordneten eigentlich zusteht, findet sie zu hoch.
In einer Lokalzeitung heißt es am nächsten Tag über Schmidt, sie sei „schockiert“ gewesen über ihren Einzug in den Bundestag. Das will die künftige Abgeordnete so nicht stehen lassen. Sie sagt, es sei eher so wie bei einer nicht geplanten Schwangerschaft. Da müsse man sich auch erst mal sammeln, aber dann entscheide man sich doch dafür, mit aller Kraft an die Aufgabe zu gehen.
Gabriele Schmidt tritt 1972 in die CDU ein, weil sie bei den Gemeindereformen mitreden will. Später engagiert sie sich in der CDA, dem Arbeitnehmerflügel der Union. So kommt es, dass sie bei den drei Bundestagswahlen seit 2005 jedes Mal auf der Landesliste Baden-Württemberg steht, in diesem Jahr an 13. Stelle. Weil aber die CDU traditionell fast alle Wahlkreise im Südwesten gewinnt, tendieren ihre Chancen gegen null – denkt Schmidt. Doch das sehr gute Wahlergebnis der Union, das Ausscheiden der FDP, der hohe Anteil der AfD und das neue Wahlrecht werfen ihre Rechnung über den Haufen. Ihrem Chef, einem Kleinunternehmer, hatte sie noch versprochen: Das wird nie und nimmer etwas. Und dann das!
Schmidt, die Mutter zweier erwachsener Töchter ist und früh Witwe wurde, berät sich mit ihrem Lebenspartner und einem Exabgeordneten. Dann sagt sie sich: So eine Chance bekommst Du nur einmal im Leben. So wird sie in Kürze auch ihr Wahlkreisbüro einrichten – und dann wird eine skurrile Situation entstehen, die es in Deutschland normalerweise nicht gibt: Der Wahlkreis Waldshut hat in Zukunft zwei Abgeordnete von der CDU, einen direkt Gewählten und Gabriele Schmidt. „Ich habe kein Problem damit, Hinterbänklerin zu sein. Es kann ja nicht 300 Vorderbänkler geben“, sagt sie.
Angst vor der „Maschine Bundestag“ scheint sie jedenfalls nicht zu haben: „Ich kann da gelassen sein. Ich muss mich nicht mehr beweisen“, sagt sie. Zweimal war sie seit ihrer Wahl im Reichstag. Und so sehr sie sich auf Berlin freue, so sehr bleibe sie in Riedern am Wald verwurzelt. Der 400-Einwohner-Ort werde inzwischen schon als „Promidorf“ gehandelt, sagt sie im Scherz. Schließlich komme auch der Papstsekretär Georg Gänswein von dort. Fabian Leber
Alois Rainer, CSU
Ob es ihn stört, wenn er ständig auf seine große Schwester angesprochen wird? „Nein“, sagt Alois Rainer, „ich bin ja stolz auf sie.“ Die Schwester ist Gerda Hasselfeldt, 63, CSU-Landesgruppenchefin, Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl, Merkel-Vertraute, Exministerin. Alois Rainer, 48, ist der kleine Bruder und seit dem 22. September ebenfalls für die CSU im Parlament. Rainer mag neu in Berlin sein, aber nicht neu in der Politik, schon familiär bedingt. In seiner Heimatgemeinde Haibach im Bayerischen Wald war er fast 18 Jahre lang Bürgermeister. Er muss das gut gemacht haben, mit 98 Prozent ist er beim letzten Mal wiedergewählt worden. Vor rund 30 Jahren saß der Vater schon im Bundestag. Ganze 36 Jahre war Alois Rainer senior auch noch Bürgermeister – bis er abgewählt wurde. Eine Lehre sei ihm das gewesen, sagt der Sohn, dass man „nicht ewig an einem Stuhl kleben“ sollte.
Vor zehn Jahren wollte er schon einmal etwas anderes machen. Doch bei der Nominierung für die Landtagswahl ist er unterlegen. Jetzt, sagt Rainer, war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Würde sein Vorgänger im Bundestag, Ernst Hinsken, aufhören, wollte er kandidieren, das war bekannt. Und diesmal gewann Rainer gegen seinen Mitbewerber. Vom unterlegenen Parteifreund spricht er voller Hochachtung. Überhaupt ist er keiner, der episch von sich selbst erzählt, sondern erst einmal die Leistung anderer würdigt.
Das dürfte bei der Arbeit mit dem Gemeinderat geholfen haben, und auch mit den Mitarbeitern. Der Metzgermeister Alois Rainer ist nämlich auch Unternehmer mit 35 Angestellten. Bis eine Woche vor der Wahl ist er jeden Morgen um vier Uhr aufgestanden, um vor der Politik noch in den Betrieb zu gehen. Aber damit ist Schluss: Der ältere Sohn leitet nun das Unternehmen. Der 26-Jährige ist selbst Metzgermeister, in vier Jahren, sagt der Vater, „übergebe ich ihm den Betrieb ganz“.
Jetzt freut er sich auf Berlin, auch wenn die hauptstadtarrogante Bedienung beim Gespräch im Café erst einmal so tut, als ob sie die Bestellung – „zwei Wasser bitte“ – wegen des bayerischen Zungenschlags nicht verstünde. Geht Bayern-Berlin nicht ohne Hickhack? Alois Rainer stört es nicht.
Er ist jetzt damit beschäftigt, sich neue Strukturen zu schaffen. „Das hier ist Neuland“, sagt er. Auch in der Fraktion: „Ich bin neu, ich muss mich hinten einordnen.“ Klar ist aber, er säße gerne im Ausschuss für Verkehr- und Infrastruktur, weil das sein Thema ist, und weil er etwas für seine Region bewirken kann. Und in die Fußballmannschaft des Bundestages, da würde er schon sehr gerne aufgenommen werden. Eine Wohnung hat er bereits, Mitarbeiter für das Berliner Büro ebenfalls. Rainer hat sich neue Leute gesucht, nicht die Angestellten seines Vorgängers übernommen. Er will seine eigenen Wege gehen, das gilt auch für die Beziehung zur Schwester.
Er werde „den Teufel tun“ und ihr ständig in den Ohren liegen. „Das Allerschlimmste“ für ihn wäre ohnehin, wenn jemand sagen würde, „du hast das nur geschafft, weil du der Bruder bist“. Ein paar Sachen machen sie aber doch zusammen. Zum „Abend der Begegnung“ beim Zentralverband des deutschen Handwerks, da fährt Alois Rainer jetzt im Wagen von Gerda Hasselfeldt mit. Ruth Ciesinger
Mahmut Özdemir, SPD
Ein persönliches Gespräch wäre schöner gewesen, sagt Mahmut Özdemir. Weil man dann offener spricht. Jedoch fällt am Telefon besonders auf, wie einer seine Worte wählt. Und Özdemir tut das druckreif: Von „Vertrauen“ spricht er, das ein persönliches Gespräch wäre schöner gewesen, sagt Mahmut Özdemir. Weil man dann offener spricht. Jedoch fällt am Telefon besonders auf, wie einer seine Worte wählt. Und Özdemir tut das druckreif: Von „Vertrauen“ spricht er, das er „zurückgewinnen“ will, von „Wählerwanderungen“, vom „Politikwechsel“, den man „mit dem Auszug der FDP aus dem Bundestag zu 50 Prozent bereits erreicht“ habe. Dr „zurückgewinnen“ will, von „Wählerwanderungen“, vom „Politikwechsel“, den man „mit dem Auszug der FDP aus dem Bundestag zu 50 Prozent bereits erreicht“ habe. Das klingt mehr nach Talkshowveteran und weniger nach einem 26-Jährigen, der zum ersten Mal in den Bundestag einzieht und dort auch noch jüngster Abgeordneter ist.
Aber Özdemir ist Veteran. Mit 14 Jahren schon hatten ihn die Jusos im Duisburger Stadtteil Homberg 2002 zum bundesweit jüngsten Vorsitzenden gewählt. Auf einem Foto von damals grinst der junge Mahmut mit Igelfrisur, Krawatte und zu weitem Anzug in die Kamera, in der Hand ein Porträt von Gerhard Schröder. Jetzt hat er den Wahlkreis direkt gewonnen, als Nachfolger des langjährigen SPD-Abgeordneten Johannes Pflug. Vorher hat er sich in der eigenen Partei gegen sechs Mitbewerber durchgesetzt.
Mahmut Özdemir hat Jura studiert, im Landtag als Rechtsreferendar gearbeitet, die Prüfungen für das zweite Staatsexamen hat er wegen des Wahlkampfes unterbrochen. Seine Eltern sind vor einem Vierteljahrhundert aus der Türkei nach Deutschland gekommen, der Vater als Metallarbeiter im Schichtdienst, die Mama ging in die Dosenfabrik. Ihr Sohn spricht Türkisch mit deutschem Akzent, und wenn man ihn fragt, was bei ihm richtig gelaufen ist, sagt er: „Meine Eltern haben mit mir Hausaufgaben gemacht.“ Bildung für Sohn und Tochter, das sei den Eltern extrem wichtig gewesen. Und irgendwann habe er selbst gemerkt: Nur mit guter Ausbildung „kann ich in dieser Gesellschaft bestehen“. Also einen guten Job bekommen, eine Familie gründen, Karriere machen.
Dann zitiert der Muslim Özdemir den Duisburger Alt-Oberbürgermeister Josef Krings, der wiederum den SPD-Übervater August Bebel folgendermaßen zitiert haben soll: „Die Emanzipation des Proletariers vollzieht sich durch Bildung.“ Deshalb sei als Partei für ihn nur die SPD infrage gekommen, weil die sich „seit 150 Jahren für das Recht auf Bildung unabhängig von Status und Geldbeutel“ einsetze.
Mahmut Özdemir würde sich jetzt im Bundestag gerne im Arbeits- oder Finanzausschuss für die SPD-Wähler einsetzen. Auf jeden Fall will er, einmal gewählt, im Parlament bleiben. Ist er Berufspolitiker? Ja, schon, sagt er, und stört sich dann doch am „negativen Klang“ des Wortes.
An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Wie der 26-Jährige mit Neidern in der Partei umgeht? Mahmut Özdemir überlegt. „Ich versuche sie einzubinden, für meine Arbeit zu gewinnen.“ Dann lacht er und sagt: „Den Neid habe ich mir aber auch hart erarbeitet.“ Ruth Ciesinger
Katrin Schulze, Sarah Kramer, Thorsten Metzner, Ruth Ciesinger, Fabian Leber, Matthias Meisner
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