Die moderne Selbstfotografie: Wer Selfies verbreitet, ist mutig oder doof oder beides?
Gegen das Selfie spricht unverändert wenig. Es ist zutiefst menschlich, ein Alltagsgut, menschlich und genial. Eine Verteidigung der modernen Selbstfotografie.
Wer hat’s erfunden? John Barkusky, passionierter Städtereisender aus dem US-Bundesstaat Wisconsin. Der Amerikaner war die ewigen Nachfragen leid, ob er das wirklich auf den Posts sei, die ihn vor Denkmälern, Wahrzeichen und mit Prominenten zeigen. Also erfand der 34-Jährige die „Doppel-Selfie-Stange“. Barkusky montierte dafür neben seinem gewohnten Stick im 90-Grad-Winkel eine zweite Stange, auf der ein zweites Handy sitzt. Fotografiert Barkusky via App über das erste Handy Barkusky, wie er vor einem Monument der Zeitgeschichte steht, wird auch das zweite Handy ausgelöst. Barkusky wird fotografiert, wie sich Barkusky fotografiert. Der Doublecheck ist der ultimative Beweis: Barkusky was here. Die Nachricht von der Erfindung der „Double-Selfie-Stange“ hat der „Postillon“ verbreitet. Gerade noch rechtzeitig, denn Urlaubszeit ist Selfie-Zeit.
Die Nachricht ist so schlüssig, dass sie wahr sein könnte. Welcher Selfie-Schütze wartet nicht darauf, endlich und ein für alle Mal vom Fake-Verdacht befreit zu werden? Dringend notwendig, weil die Shots von sich selbst genau mit dieser Absicht gemacht wurden: Ich bin hier, ich bin da, ich bin von dieser Welt. Und ich bin ich.
Das Selfie für die Eigen-PR kennt seine hässliche Kehrseite
Selfies stehen unter Selfies-Verdacht, heißt, sie nerven. Selbst wenn die Gefahr gering geworden ist, dass sich irgendeiner zwischen Objektiv und Objekt drängt, so ist jeder geeignete Selfie-Standort immer schon vergeben. Es wird nicht ein, es werden nicht zwei Selfies geschossen, es sind Dutzende. Auch bei dieser neuen Fototechnik ist die Panik ja die alte: Sehe ich gut oder sehe ich sch… aus? Mehr denn je rückt der Auslöser in den Beurteilungsfokus: unschöne Perspektiven, verzerrte Proportionen, natürlich die weniger vorteilhafte Gesichtshälfte. Die Sonne stand falsch, der Blitz war nicht aktiviert, gewackelt wurde, und wem eigentlich gehört der dicke Daumen da am Bildrand? Nachbearbeitung kann helfen, doch selten retten, was nicht mehr zu retten war. Da wird das Selfie zum Fahndungsmotiv.
Selfies nerven also. Das haben die Aber- und Abermillionen der Egoshooter wohl nicht begriffen. Für sie ist das Selbstporträt ein Beleg für, ein Beweis von Existenz. Ein Foto-Quickie als Selbstbefriedigung, Fun, Spaß, Party, Hintergrund sind wurstegal, der Vordergrund dominiert, regiert, superlativiert. Selfies sind ein willkommenes Instrument der Imagebildung, für die Guten wie für die Bösen. Die Prominenten nutzen die Fototechnik zur Dokumentation ihres mehr oder weniger spannenden Lebens, sie steuern ihr Bild in der Öffentlichkeit; zugleich wird der Versuch unternommen, ein mehr inszeniertes Leben mit dem Stempel der Authentizität zu versehen. Da gelingen besondere Momente. Das bisher wohl am häufigsten retweetete Selfie aller Zeiten stammt von der Schauspielerin Ellen DeGeneres, das sie mit Meryl Streep, Julia Roberts, Angelina Jolie, Brad Pitt, Kevin Spacey und anderen Hollywoodgrößen bei der Oscar-Verleihung 2014 zeigt. Alles nur Poser, alles nur Posing? Das Motiv wirkt wie ein Durchbruch der sonst durchorchestrierten Feier, zeigt einfach nur (prominente) Leute, die erkennbar und ehrlich gute Laune haben. Und natürlich passt sich das Motiv in den Motivstrom ein: Ich/Wir bin/sind schon wieder oder noch immer gut drauf – und ihr, die Betrachter, was seid ihr?
Das Selfie für die Eigen-PR kennt seine hässliche Kehrseite. Als der mutmaßliche Islamist nahe Lyon seinen Chef enthauptet hatte, machte er ein Selfie: der Mörder groß, klein der Kopf des Ermordeten. Grausiges Bekenntnis, ein Bildmotiv als Bildvotiv, ein Zeugnis und die immanente Aufforderung, es ihm gleich zu tun. Der Selfist kann ein Salafist sein.
Selfies kennen zahlreiche Spielarten: Sex-Selfies (der Weg ins Schlafzimmer war so weit ja nicht), Uglies (Zunge raus ist da noch harmlos), Nudies (vom erotischen Spiel bis zum Exhibitionismus), Belfies (alles vom Arschgeweih an abwärts), Drelfies (der Shooter ist betrunken), jetzt auch in der längeren, bewegten Version über Beme, über Periscope und Meerkat. Immer steht ein Mensch, respektive sein Ego im Zentrum.
Da ist die Kritik nur einen Klick entfernt. Selfism, Selbstbezogenheit, Selbstbefriedigung. Frank Patalong hat die Kritik bei „Spiegel online“ formuliert: Das Selfie „ist Ausdruck eines Wandels der Selbst- und Weltwahrnehmung“. Denn es verändere ja auch das Erleben der Welt, weil die vom Objekt der Aufmerksamkeit zur bloßen Kulisse werde. Der Selfie-Fotograf wähle Position und Perspektive danach aus, wie sie zur Selbstdarstellung taugen würden. Patalongs Verdikt: „Das Selfie trivialisiert damit alles: den Moment, das Gefühl, den Ort.“
Blogger Sascha Lobo haut in dieselbe Kerbe: „Selfieness ist nicht bloß eine Mode, sondern Diktat einer digitalen Gesellschaft.“ Und just diese Gesellschaft ist dem Irrtum verfallen, sie könne ihre digitale Selbstdarstellung unter Kontrolle halten. Und die NSA, die Auswertungsradikalen all der sozialen Medien-Multis, der Datenräuber zu eigenem Frommen und Nutzen? Lobo treibt die Skepsis in seiner Kolumne für „Spiegel online“ fort: „Selfieness führt zur Erschaffung eines digitalen Medienselbst, das fast alles aussagt, wenn man es zu lesen weiß.“
Ach ja, und Frauen, die bestmögliche Selfies von sich machen, reduzieren sich auf ihren Körper, was den Aufstieg einer neuen Pornokultur bedeuten kann, warnt die Soziologin und Gender-Forscherin Gail Dines. Die Grenzen zwischen privat und öffentlich sind auch technisch derart porös geworden, dass ein Selfie schnell den gewollten Adressatenkreis überspringen und in den öffentlichen Sektor gelangen kann. Das kann peinlich, unangenehm, ja gefährlich werden.
Das Selfie ist seine eigene Stratosphäre
Wenn alle alles falsch machen, doch nur wenige das Entscheidende richtig, was ist dann richtig für alle? Erst mal eine kleine Beruhigungspille. Deutsche sind nicht in der Selfie-Pole-Position. Laut einer Studie für das US-Magazin „Time“, in der Anfang 2014 weltweit Instagram-Selfies in Städten mit mehr als 250 000 Einwohnern ausgewertet wurden, war die philippinische Stadt Makati „Selfiest City“, es folgten Manhattan und Miami; Düsseldorf kam auf Platz 136 und ist damit Deutschlands Selfie-Kapitale.
Das Selfie ist seine eigene Stratosphäre. So sehr es ein Marker für die eigene Vergangenheit und Vergänglichkeit ist, so sehr ist es eine Gedächtnisstütze. Ich war damals da und nicht irgendwann hier. Eine Information für den Freundes- und Bekanntenkreis, ein Memory fürs eigene Leben. Dann ist die Technik lächerlich einfach – was war die frühere Fotografie doch ein Aufwand an Zeit, Equipment und Geld – und zufriedenstellende Ergebnisse waren noch nicht einmal garantiert! Manche sind Naturtalente vor dem Objektiv, mit beneidenswerter Coolness und dieser sagenhaften Nonchalance, andere werden auch nach hundert Shots nicht locker, stehen da, als hätten sie einen Stock verschluckt, das Gesicht krumm und der Ausdruck – sorry – dumm. Aber das ist meine Galerie, meine Schatzkammer. Ich, meiner, mir, mich.
Geht den Celebs nicht anders. Madonna scheint es völlig egal zu sein, ob sie aufpoliert oder adäquat zum eigenen Alter aussieht, während Rihanna stets die Sexy-Rihanna-Geste liebt. Und Justin Bieber bleibt in seiner Zielgruppe auch mit Affe Justin, the right Bieber.
Oder greift diese Bemerkung zu kurz? Nicht wenige große Künstler haben sich selbst gemalt, wieder und wieder Selbstporträts gefertigt. Mit der Hilfe von Spiegeln war ein Rembrandt ein – ja! - Selfist. Natürlich ist das ein anderes, ein unvergleichbares Niveau, dazwischen ein Meer von Dignität und Distinktion. Und trotzdem, Selbstporträtist und Selfist teilen sich ähnliche Gefühle für Menschlichkeit, Ausdruck, Verletzlichkeit, Stolz.
Selfisten suchen eine Rückversicherung ihrer selbst, indem sie Bildaussagen von sich selbst machen. Es wird nur sehr wenige geben, die mit dem, was sie auf dem Display sehen, voll und ganz zufrieden sein werden. Sie wollen von ihrer Familie, von ihren Partnern, Freunden, Bekannten und Kollegen hören, dass sie fantastisch aussehen, jedenfalls interessant, jedenfalls akzeptabel.
Da bekommt der oft geäußerte Vorwurf des Narzissmus gleich einen anderen Klang, er muss umgedeutet werden. Der Selfist ist Narziss in dem Sinne, dass er etwas von sich selbst zeigt und preisgibt. Es ist Selbstvergewisserung, und es ist eine Aufwertung. Die allermeisten Selfies passieren nicht nur aus dem Moment heraus, sondern aus den Augenblicken, in denen Mann/Frau sich attraktiv finden.
Ugly is the new pretty
Im Selfie eines Freundes, eines Fremden stecken oft neue Ideen und Inspirationen für den eigenen Auftritt. Die Peer Group mag dich, kann sie dich vielleicht noch ein bisschen mehr mögen? Immer nur Bilder von Prominenten und Stars, ist man nicht selber einer? Ein Selfie von George Clooney mit Erika Mustermann ist mehr als nur der Star mit einem Fan, es ist ein geteiltes Bild von George Clooney und Erika Mustermann. Prominenz springt über, wird geteilt, da steckt eine Menge Sich-Auf-Augenhöhe-Bringen drin. Wir machen uns selbst zu Prominenten (oder glauben es jedenfalls). Niemand zwingt dich dazu, niemand hat jemals behauptet, dass die Ichpflege einfach ist.
„Wir sehen uns selbst lebendig und dynamisch, Personen mit Entwicklung und Fortschritt“, analysiert Pamela Rutledge, Direktorin des Instituts für Medienpsychologie in Boston. Und wer sich auf seinem Selfie selbst nicht mag, der kann immer noch ein „Like“ von anderer Seite ergattern. Zum Selbstversuch taugen die Foto-Quickies nicht minder. Testläufe für ein verändertes, gar neues Image sind möglich. Je ambitionierter der Online-Aktivist, desto mehr Engagement mit der Absicht, dass Selbstbild und Selbst-Wunschbild einander angepasst werden. Eine Selbstkorrektur mit Wirkungen und Nebenwirkungen, mit Chancen und mit Risiken. Wenn Ich-Modellierung zur Währung wird, ist die Uniformität nicht weit. So muss Individualisierung nicht zur Liberalisierung, vielmehr kann sie zur Normierung führen. Ich wird wir, wir werden ein Leisten. So gewinnen George Clooney und Angelina Jolie am Ende doch immer – als Role Models. Kann sich jeder verweigern, Widerstand leisten; ugly is the new pretty.
Wer Selfies verbreitet, ist mutig oder doof oder beides zusammen? Wer nicht mitmacht, wird seltener bis gar nicht erfahren, wie viel in ihm steckt, was andere annehmen, wie viel in einem steckt. Ein Selfie in einem KZ, bei einer Beerdigung – gibt es alles – ist Ausdruck von schierer Arglosigkeit, Ahnungslosigkeit, Absenz von Respekt und Demut. Sind freilich selten, die Selfies an Orten, wo sie nicht hingehören. Darüber herrscht ein Comment, wenn auch Irregeleitete das Gegenteil beweisen zu müssen glauben.
Gegen das Selfie spricht unverändert wenig. Es ist ein Alltagsgut, nicht Teil der Hochkultur (Ausschläge in den Proletenkult, in den Kunstsektor inklusive). Es ist in seiner Vielseitigkeit und in der Offenheit für Anwendung und Deutung genial. Meinetwegen autoerotischer Lustgewinn, meinetwegen Narzissmus, meinetwegen Defätismus. Das Selfie ist zutiefst menschlich. Es berichtet von der Selbstachtung, die einer/eine für sich selbst hat. „Selbstachtung“, sagt der australische Philosoph Peter Singer, „ist eine wichtige Komponente des Glücksgefühls.“ Wer sich selbst achtet, der verfolgt eigene Interessen, gar keine Frage, zugleich gibt er seine eigenen Interessen nicht preis. Er ist sich was wert, er ist sich selbst nicht fremd und nicht entfremdet. Und: Selfisten schätzen einander, sie wissen, warum der andere tut, was sie selber tun. Selfism ist eine Community ohne Sektengefüge, ohne Druck und Zwang. In der Majorität ein friedliches, gegen niemanden gerichtetes, global geteiltes Bedürfnis. Also werden 6000 Selfies zu einem „Star-Trek“-Mosaik zusammengefügt, das Mister Spock zeigt.
Das „US Copyright Office“ hat mit Blick auf Selfies, die ein Schopfmakake von sich gemacht hat, bestätigt, dass niemand die Rechte an Fotos innehabe, die nicht von einem Menschen angefertigt wurden. Menschliche Kreativität ist geschützt.
Selfisten gehören respektiert. Und jetzt machen wir alle mal – Cheese!
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