Eine Familie in Berlin lebt Inklusion: Wer raschelt da im Unterricht?
Inklusion ist mehr als nur Schule. Zehn Jahre leben die Ritschels als Familie mit einem behinderten Kind. Eine Reise ins Unbekannte.
Standesamt Kreuzberg, im April 2004.
„Es kommt wirklich niemand mehr?“ – „Nein.“
Dem Beamten scheint das unheimlich. „Und Sie möchten wirklich keine Musik?“ – „Nein, keine Musik.“
Diese Familie ist anders. Katja und Christian würden zwar in Kürze beide Ritschel heißen, sie waren sogar noch schnell in die Läden geschossen und hatten sich Ringe und zwei frische Paar Jeans gekauft, aber dann drängte es sie so schnell wie möglich zurück ins Klinikum Neukölln, wo ihre beiden verhinderten Hochzeitsgäste lagen.
Seine erste Erinnerung an die Kinder: Zwei Schwestern und drei Ärzte kommen mit einem Inkubator aus dem Kreißsaal: „Das ist ihr Erstgeborener.“ – „Dann kam noch so ein Wägelchen.“
Ihre erste Empfindung: „Überwach. Aber das Seelische war betäubt.“
Die Zwillinge Vincent und Constantin waren überpünktlich gekommen, in der 28. Woche, lebensgefährlich vor der Zeit. Sie hatten in den letzten drei Monaten lange einzeln in Glaskästen gelegen, die Eltern hatten in steriler Kleidung am Monitor die Sauerstoffsättigung überwacht, einen Tag nach der Blitzhochzeit würden sie nach Hause entlassen. Zwei Hände groß. Drucksensoren zur Atemüberwachung auf der Brust und auf dem Bauch. Beide Kinder hatten frühe Gehirnblutungen gehabt, eine der klassischen Gefahren bei Frühchen. Aber während Constantins Blutung nach anderthalb Tagen versiegte, dauerte Vincents drei bis vier. Die Ärzte wagten keine Prognosen. Die Frage war, wie viel Hirnrinde geschädigt wurde. Davon hingen die möglichen Folgen für ihr weiteres Leben ab. Und die würde man erst nach und nach im Laufe eines Lebens sehen.
Gut zehn Jahre später sitzen in einer Kreuzberger Küche die Eltern. Sie sind zu aufmerksamen Beobachtern ihrer Kinder geworden und nebenbei zu Experten in Sachen Inklusion. Constantin geht in die fünfte Klasse der Freien Waldorfschule Kreuzberg. Vincent aber, dem man eine Zerebralparese attestierte, hat motorische Störungen, Spastiken und Lähmungen. Er braucht für den Besuch der vierten Klasse derselben Schule eine Helferin. Wie weit seine kognitiven Fähigkeiten einmal reichen werden, wozu er einmal in der Lage sein wird, kann ihnen immer noch keiner sagen.
Das Wort "behindert" haben sie gemieden, so lange sie konnten
Während das Wort „Inklusion“ in politischen Debatten totgeritten wird, sich Lager bilden von Befürwortern und Kritikern und alle dabei immer bloß die Schule meinen, stehen in der Familie die täglichen Entscheidungen an: Dass die Mutter, gelernte Kosmetikerin, ihren Job als Abteilungsleiterin im Quartier 206 aufgibt. Dass der Vater in der IT bei Spielemax das Geld für alle verdienen wird. Die Entscheidung, ob man 13 Stunden im Auto in den Urlaub fahren kann. Ob man bei einer Schlange vor dem Freibad umkehrt, weil Vincent als bewegungsgestörtes Kind keine halbe Stunde warten kann. Auf welche Schule das Kind gehen kann. Wie man für die Zukunft eines behinderten Kindes vorsorgt.
Es ist gar nicht so lange her, dass behinderte Kinder in ihren Familien versteckt wurden. Katja und Christian Ritschel hatten lange Zeit überhaupt niemanden mit einer Behinderung gekannt – und jetzt hatten sie Angst, dass ihre Kinder stigmatisiert würden. Behindert. Sie haben das Wort vermieden, solange sie konnten.
Er: „So richtig ist das Wort erst mit dem Ausweis in unser Leben getreten.“ Sie zücken einen Lappen, groß wie die uralten Führerscheine. Für Vincent Ritschel, geboren am 8. Januar 2004, 2010 beantragt, erst einmal nur fünf Jahre gültig, „falls eine Spontanheilung eintritt“.
B wie Begleitperson. G wie gehbehindert. H wie hilflose Person.
„Berechtigt aber nicht zum Parken.“
Stempel vom 5.10. 2010: Versorgungsamt. Grad der Behinderung 70 Prozent.
Sie: „Ich sage jetzt mal ein paar Begriffe: Scham. Erschöpfung. Ein Kind, mit dem man nicht anderthalb Stunden bei einer Behörde warten kann.“ Sehr gewünscht hätte sie sich eine Familienberaterin, die das erledigt.
Er: „Man fängt an, Briefe zu schreiben, dafür müsste man Jurist sein.“
Sie: „Man ist Bittsteller da. Aber ich mache das nicht aus Spaß oder um mir irgendwelche Vorteile zu verschaffen, sondern mein Kind soll in Zukunft niemandem zur Last fallen. Ein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn ich damit nicht jetzt beginne: Wann dann?“
Keine Zeit für Ansprüche. Sie waren mit Überleben beschäftigt
Es kam den beiden vor, als müsse jedes Paar mit einem behinderten Kind wieder ganz von vorne anfangen. Ja, als hätte es das erste behinderte Kind in Deutschland. „Niemand hat gesagt, ihr müsst euch nicht schämen, diese Dinge sind für euer Kind gut.“ Katja vermisste ein herzliches Willkommen, „ein Mut machendes, zupackendes Info-Ding für Betroffene“. Doch das ganzheitlich denkende Amt muss erst noch erfunden werden.
So lange hängt es vom Zufall ab, von Charakter und Eloquenz der Eltern, ob und wann sie herausfinden, was ihnen zusteht und notwendig ist. Sie begegneten einer Krankenkassen-Mitarbeiterin, die bei der Begutachtung von Vincent fragte: Warum haben Sie das Pflegegeld nicht gleich beantragt? Und nicht erst nach fünf Jahren. Schließlich waren die Auswirkungen massiv: 400 Euro netto Unterschied im Monat. Außerdem bekommt eine Mutter, die ihren Sohn pflegt, Rentenpunkte.
Sie begegneten einem netten Mitarbeiter vom Finanzamt, der ihnen sagte, das benötigte Auto könne man auch auf das Kind zulassen, wenn man Steuern sparen möchte. Und jüngst haben sie erfahren, dass auch mal ein Babysitter bezahlt wird, wenn die Mutter verhindert ist.
Sie hatten ja lange keine Zeit, sich um Ansprüche zu kümmern. Sie waren mit Überleben beschäftigt. Und darauf muss man ja auch erst einmal kommen. Warum sollte aus einem persönlichen Weniger-Können plötzlich ein Mehr-Bekommen werden? So dachten sie nicht, als ihr Blick sich nach innen richtete, die Unterschiede in den Vordergrund drängten. Als sie sich als Ausnahme begreifen lernten, in ihrer ganz persönlichen Andersartigkeit. Als Vincent mit wenigen Monaten plötzlich Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe entwickelte, bei denen das Kind die Arme vor dem Körper kreuzte und im Rumpf nach vorne fiel wie zu einer asiatischen Verbeugung. Als die Bewegungsstörungen, die Versteifung einer Hand, immer deutlicher zutage trat.
Klage androhen oder nicht?
Vor zehn Jahren dachten die Eltern noch nicht politisch. Heute schon. Als die Zwillinge fünf waren, 2009, trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft, die Inklusion als Menschenrecht festhält.
Er sagt: „Vor 20 Jahren kamen Behinderte im öffentlichen Leben nicht vor. Sie gingen auf Sonderschulen, 90 Prozent verließen die ohne Abschluss, für den Rest des Lebens Transferempfänger. Aber bei der Inklusion geht es um eine langfristige Perspektive: Die Investition in die Schulen ist eine in Arbeitnehmer, die dann am ersten oder zweiten Arbeitsmarkt teilnehmen können.“
Sie sagt: „Wenn ich ehrlich bin – das Erste ist für mich, dass Vincent nicht wegläuft. In den ersten zwei Jahren hatte er eine Weglauftendenz. Es ist wichtig, dass der Schulraum geschützt ist. Ob er dann lesen oder schreiben kann: Das ist zweitrangig. Das Wichtigste ist, dass er am sozialen Leben teilnimmt, Regeln, Strukturen und Abläufe kennenlernt.“
Vincents Problem sind Veränderungen, Spontaneität ist schwer möglich. Seitdem der Stundenplan gewechselt hat, gibt es öfter einen Raumwechsel. Das funktioniert für ihn nur gut mit Ankündigung, seine Schulhelferin hält ihn an der Hand. Das kann man von einem Lehrer nicht auch noch erwarten. Die Schulhelfer sind das aktuelle Dauerthema. Vincent zum Beispiel braucht knapp 30 Stunden in der Woche.
Einmal saßen sie schon in größerer Runde zusammen mit der Schulleitung, dem Schulamt, mit Mario Dobe, der heute Projektleiter für Inklusion bei der Senatsverwaltung ist, und haben Klage angedroht. Da ging es um fünf Schulhelferstunden mehr für Vincent.
Er: „Wir wussten, es würde ausgehen wie das Hornberger Schießen: Diese fünf Stunden wurden am Ende aus dem Topf des Jugendamtes bezahlt. Also jemand anderem weggenommen. Das Geld steht dann ja nicht mehr zur Verfügung.“
Wenn die Mittel für die Schulhelfer sich nicht am Bedarf, sondern am Topf orientieren, besteht die Gerechtigkeit darin, dass alle im Prinzip ähnlich viel zu wenig kriegen. Wollen Eltern das nicht hinnehmen, weil es gegen die UN-Konvention verstößt, können sie klagen.
"Wahnsinn, Mama! Dass du Holz hacken kannst!"
Vincents Eltern wissen natürlich, dass alle im Prinzip die gleichen Rechte haben, aber Engagierte wie sie mehr erreichen. Das ist auch der Grund, weshalb sie in dieser Geschichte vorkommen: Weil sie der Meinung sind, dass man für alle darüber reden muss und nicht jeder vereinzelt für sich kämpfen soll. Wenn es denn eine gesellschaftliche Regelung gibt, sollte deren Umsetzung nicht vom Kampfeswillen der Eltern abhängen.
Am 27. August sitzen Katja und Christian Ritschel wieder in ihrer Kreuzberger Küche, der Sommerurlaub ist vorbei. Die Tage in Kroatien im Haus ihrer Eltern. Mit ihrem „Sommerhund“ Karamell, den die Großmutter aus Angst vor Wölfen angeschafft hat. Die Tage mit dem Trampolin im Garten und dem staubigen Land drum herum. Constantin hat Flossen bekommen. Er kann jetzt gut schwimmen.
Es war „ein großes Ausatmen“, sechs Wochen lang. In der Mittagshitze schlafen die Eltern, für die Jungs gilt: „Es dürfen Filme geguckt werden.“ Constantin, der alleine mit dem Fahrrad herumfahren durfte, musste nur auf die Bahngleise und Trecker achten.
Vincent hat Ziegen gefüttert, Constantin hat in der Metzgerei halbe Schweine hängen sehen. Und im Garten später sein Weltbild erweitert: „Wahnsinn, Mama! Dass du Holz hacken kannst!“
Sie: „Darf man das sagen? Dass wir so glücklich waren?“
Drei Tage nachdem sie aus dem Urlaub zurückgekommen sind, trifft eine E-Mail von der Leitung der Freien Waldorfschule Kreuzberg ein: Für 65 Kinder mit erhöhtem Förderbedarf – das sind zwölf Kinder mehr als im Schuljahr zuvor – hat sie vom Schulamt zehn Schulhelferstunden weniger bewilligt bekommen. Es wird eine Diskussion losbrechen, in deren Verlauf erboste Eltern einer Schule in Kreuzberg eine Bezirksverordnetenversammlung in Kreuzberg stören werden. Woraufhin sofort 750 000 Euro zusätzlich bewilligt werden. Später wird noch einmal aufgestockt. Es gibt nun jede Woche in Berlin 11 200 Schulhelferstunden pro Woche.
Sie: „Uns wird latent ein Vorwurf unterstellt: Überfordern die Eltern ihr eigenes Kind, indem wir es auf die Regelschule schicken? – Wir fragen uns wöchentlich: Ist es das Richtige? Die Antwort auf diese Frage kann in drei Jahren auch anders ausfallen als heute.“
Vincent darf im Unterricht krümeln
Heute, am 18. September 2014, da ist Vincent Ritschel einer von 11 030 Berliner Schülern „mit sonderpädagogischem Förderbedarf“, die integrativ beschult werden. Am Morgen stellt sich auch Claude Peinzger in der Klasse 4BC der Freien Waldorfschule Kreuzberg ein. Ein dunkelhaariger Glücksfall, eine leibhaftige, heiß umkämpfte Schulhelferin.
Manchmal, sagt Claude Peinzger, bleibt Vincent irgendwo stecken am Tag und möchte nach der Pause nicht wieder in die Klasse. Man muss ihm alles ankündigen. Es darf sich nicht plötzlich ändern.
„Wer raschelt da im Unterricht? – Vincent!“ Vincent isst ein Mohnhörnchen aus einer Papiertüte.
„Das macht er nur, um sich zu beruhigen“, erklärt ein Mädchen in der Reihe vor ihm der Lehrerin.
„Dann darf er das“, sagt die. Es ist ja kein Ungehorsam, es ist sein Bedürfnis. Alle wissen das.
Und dann sollen fünf Kinder ihren Schulspruch vor allen aufsagen. Auch Vincent. Es ist ganz still. Vincent spricht. Langsam.
„Wirbelnde Winde wehen am Strande,
treiben die Wolken zu Meer und zu Lande.
Zünden die Blitze, wecken den Mut:
Wotan will wirken, wappne dich gut!“ Vincent bekommt Applaus. Er hat seinen Schulspruch für dieses Jahr zum ersten Mal vor allen gesagt.
Es stört im Laufe des Vormittags niemanden, dass Vincent zwischendurch aufsteht und sich bewegt. Er wird im besten Sinne nicht beachtet. Als im Englischunterricht die Körperteile benannt werden, ist es praktisch, dass da schon Vincent als Modell herumsteht. „These and those – shoulders, elbows, head and nose.“ Der Englischlehrer tippt ihn an. Vincent freut sich. Sein Freund Rupert* nimmt Vincents Hand, schreibt mit ihr „Good Morning“ an die Tafel.
Vincent wischt es wieder weg.
Sie schreiben zusammen „Vincent“ an die Tafel.
Vincent wischt es wieder weg.
Gleicht jemand Nachteile aus oder verschafft er sich einen Vorteil?
Dann gibt er Rupert einen schnellen Kuss zum Abschied, er muss nun zu seiner Logopädin, die er ein Mal in der Woche sieht. Es geht, sagt die, bei ihr um Kommunikation. Darum, dass Vincent das, was zweifellos in seinem Kopf ist, auch versprachlicht. Sie zeigt ihm eine Tierkarte. Darauf ein Huhn. Aber Vincent sagt nicht: ein Huhn. Er sagt: „Macht Platz, macht Platz, sonst landet ihr im Suppentopf, eines nach dem anderen.“ Sie zeigt ihm ein Schwein. Vincent sagt laut und ein bisschen staatstragend: „Sprüche wie dumme Sau, altes Schwein oder Ferkel sind völlig deplatziert. Schweine stinken nämlich nicht, das ist erstunken und erlogen!“ Das ist erstaunlich. Irgendwo zwischen Hörspielkassette und eigenem Humor. Seine Augen blitzen.
Sie stellen sich an der Waldorfschule bereits seit zwei Jahrzehnten die Fragen, die nun, da Inklusion in Berlin an allen Schulen die Regel werden soll, woanders gerade erst aufkommen. Ulrike Barth, zu deren Lebensthema Inklusion geworden ist, verantwortet diesen Zweig. Auch sie kennt gescheiterte Versuche. Sie weiß, dass Kinder in einem bestimmten Alter sehr einsam werden können. Und dass die gleiche Lösung nie für alle gut ist.
Aber sie weiß auch, wie absurd es ist, Schule nur als Leistungsvergleich zu sehen und zu glauben, wenn die Kinder nicht „mithalten“, dann lernten sie nichts. Vincent lernt hier, sich unter „normalen“ Kindern zu bewegen. Das ist zufällig genau das, was er für sein Leben braucht, in dem er immer von nicht behinderten Leuten umgeben sein wird. Und die anderen Kinder lernen, mit Andersartigkeit umzugehen.
Vincent hat neulich zum Beispiel seine Angst überwunden und ist mit den anderen Fahrstuhl gefahren. Das war sein Lernziel. Aber jetzt muss er zum Sportplatz gegenüber. Ortswechsel. Das ist ein größeres Unterfangen. Claude Peinzger zieht ihm auf dem Flur die Schuhe an.
Vincent steht an diesem sonnigen Septembertag mitten auf dem Sportplatz in der Sonne und bewegt seinen Körper. Es sieht kurz aus, als ob er das Anlaufen der anderen am Startblock imitiert, aber wahrscheinlich spielt er mit seinem Schatten. Der Sportlehrer trägt ihn auf dem Rückweg ein Stück auf den Schultern. Es wird auch zu Vincents Kindheitserinnerungen gehören, mittags plötzlich in die überraschende Weite eines rot umrandeten Sportplatzes zu blicken.
Als Vincent in den Hort geht, trägt Claude Peinzger für seine Mutter den Tag in die schwarze Kladde ein. Die Kladde, die täglich zwischen der Schulhelferin und der Mutter hin und her wandert, ist eine dieser großartigen, einfachen Ideen. Sie dient dazu, dass Vincents Leben Zusammenhänge hat, die er mit den verschiedenen Personen selbst nicht herstellen kann.
Da man nicht so einfach hineingelangen kann in Vincents Kopf, und nicht so viel sprachlich hinausgelangt wie bei anderen Kindern, ist die Kommunikation quasi ausgelagert in diese Kladde. Beschrieben mit den Vorfällen des Tages, den Äußerungen von Vincent, den Fragen, die übrig bleiben. Ein Dokument in eiliger Handschrift, schnell im Ton, Zeugnis auch der Wahrnehmung der beiden Frauen, die sich das Heft zuspielen.
28. August. Vincent hat einen Milchzahn verloren.
29. August. Zitat von Vincent: „Ich will nicht groß werden ... ich fange an, kleiner zu werden.“ Und der Kommentar: „Bitte dort freundlich entgegenwirken.“
8. September: Himmelsrichtungen an Vincents Körper geübt.
9. September: Fahrstuhl gefahren.
15.9. Wir waren auf dem Bauernhof. Constantin hat einen Frosch mit aufgeplatztem Magen gefunden. Vincent wollte, dass ich den Frosch wachküsse.
17.9. Vincent sagt zu mir, „mein Bruder ist ein Arsch“. Gab es Streit?
Das Gummiband, das die Kladde zusammenhält, wird irgendwann nachgeben wie andernorts die Erinnerung. Aber die Worte sind dann hier immer noch da.
Im vergangenen Schuljahr wurden in Berlin 56 Prozent der Schüler mit besonderem Förderbedarf integrativ beschult. Im kommenden Jahr wird mit einem Anstieg der Berechtigten für Schulhelfermaßnahmen um 19 Prozent gerechnet. Bei der Senatsverwaltung wertet man die Tatsache, dass die Debatte um Schulhelferstunden überhaupt geführt wird, als Zeichen für das Vertrauen der Eltern in die Regelschulen.
Mario Dobe von der Senatsverwaltung sagt über die Umsetzung an den Schulen: „Das ist zuerst eine Haltungsfrage.“ Ihn ärgert, dass die Frage der Haltung in den Hintergrund und die Frage der Ressourcen ständig in den Vordergrund gerückt wird. Nicht jede Veränderung im Unterricht koste. Vieles sei eine Frage der Kreativität.
Dobe war der Erste an seiner damaligen Grundschule, der 1990 in der Hunsrück Schule in Kreuzberg einen lernbehinderten Jungen aufnahm. Der Junge konnte keine langen Texte verfassen, aber zum Beispiel wunderbar aus Zeitschriften passende Bilder ausschneiden. Heute hat er einen Job und noch gelegentlich Kontakt zu seinem alten Lehrer.
Wenn die Eltern sterben, lassen sie eine hilflose Person zurück
„Wir sind keine inklusive Gesellschaft“, sagt Dobe. Ein Nachteilsausgleich werde manchmal so bewertet, als ob sich da jemand Vorteile verschaffen wollte. Zum Beispiel ein Weitspringer mit Beinprothese: Hat der jetzt einen Nachteil ausgeglichen oder sich einen technischen Vorteil verschafft? Im Prinzip, sagt Dobe, ist es auch nur ein Nachteilsausgleich, wenn man einer älteren Person in der U-Bahn einen Sitz anbietet.
Ende November öffnet in Kreuzberg Constantin die Wohnungstür. Schon seit Tagen wackelt sein dritter Backenzahn, an dem er jetzt eine Lego-Seilwinde befestigt. Dann ein kurzer Ruck, kaum Blut, ein lauter Jubel. „Wenn die Zahnfee diesen Wunsch hört, dann flippt die aus!“ Ein Fußballstickerheft nämlich!
Auf Constantin müssen sie jetzt gut aufpassen, sagen seine Eltern, als er aus der Küche ist. Constantin hat Angst um Vincent. Constantin, sagt sein Papa, sorge sich viel um andere. Um „PaLs“, wie er sie nennt: Probleme anderer Leute. Er frage seine Eltern dann: Was machen wir, wenn Vincents Hand ganz steif wird? Er versucht, seinen Bruder abzulenken, wenn der sich in eine Stimmung hineinsteigert. Es weiß ja noch immer keiner, was wird. Constantin übernimmt Verantwortung. Und seine Eltern sehen das mit gemischten Gefühlen.
Es ist wahrscheinlich, dass Katja und Christian Ritschel vor ihren Kindern sterben. Sie werden dann zumindest eine ausweislich hilflose Person zurücklassen.
„Natürlich würden wir uns freuen, wenn Constantin sich später mal um seinen Bruder kümmern würde.“ Aber bei aller Rücksicht soll auch er ein eigenständiges Leben führen. Irgendwann, sagt sein Vater, wird zwangsläufig ein Konflikt kommen: Mein Leben oder meines für ihn?
Manchmal hat Katja Ritschel das Gefühl, dass Vincent sich noch heute die Nähe zurückholt für seine ersten drei Monate Sterilität. Sie müssen dann kuscheln. Sie müssen unter die Decke, ihr Arm muss unter dem Kopf sein. Es ist wichtig, dass es ganz eng und unbequem ist. Dann ist es gut.
*Name von der Redaktion geändert.