Nach der Bundestagswahl: Wer könnte mit wem regieren?
Die Parteien formulieren jetzt Bedingungen und Garantien für mögliche Regierungskoalitionen. Was bedeutet das im Wahlkampf – und wer könnte mit wem?
Martin Schulz ist doch noch für Überraschungen gut. Zwei Wochen vor der Bundestagswahl stellt der SPD-Kanzlerkandidat „unverhandelbare“ Kernversprechen der SPD für eine Regierungsbildung vor. Gleiche Bezahlung für Frauen und Männer, gerechte Löhne, einen Aufbruch in der Bildungspolitik, verlässliche Renten sowie ein starkes Europa – „ohne diese vier Punkte kann mit uns niemand Verhandlungen über die Bildung einer Regierung aufnehmen“, bekräftigt Schulz am Montag im Willy-Brandt-Haus.
Die politische Konkurrenz ist gleich mit Spott zur Hand: Der SPD-Chef bewerbe sich wohl um die nächste große Koalition. Dabei hat mancher, der da spottete, selber schon eigene Programmpunkte für unverzichtbar erklärt oder über Lieblings- und Geht-nicht-Koalitionen geredet. Wie lange solche Schwüre nach dem Wahltag halten, ist mindestens ungewiss. Denn wer die einschlägigen Erklärungen genau liest, stellt schnell fest: Da stehen jede Menge Hintertüren für einen Weg zur Macht offen. Denn die „Ausschließeritis light“ verfolgt vor allem den Zweck, eigene Wähler an die Urne zu bringen.
Große Koalition: Die Ungeliebte?
Noch mal große Koalition – bloß nicht! Wer sich in Union und SPD umtut, hört den Satz an allen Ecken und Enden. In CDU und CSU fällt das Stöhnen indes nicht ganz so laut aus. Insgeheim wäre es vor allem der CSU sogar recht, wenn der Wähler am 24. September das alte Regierungsbündnis zum Weitermachen zwingen würde. Die Christsozialen täten sich damit bei der Bayern-Wahl Ende 2018 leichter, als wenn sie ihren Anhängern buntere Berliner Bündnisse schmackhaft machen müssten.
Dafür stöhnen Sozialdemokraten um so lauter. Der Gedanke an die Fortsetzung der großen Koalition soll im Wahlvolk gar nicht erst aufkommen, denn, warnt etwa Parteivize Ralf Stegner – denn der wirke auf die SPD-Wahlkämpfer „wie eine Klinikpackung Schlaftabletten“. Den Gedanken zu verdrängen fällt freilich schwer angesichts von Umfragen, die seit Wochen eine Mehrheit nur für einen schwarz-gelb-grünen Jamaika-Bund oder die „Große“ ausweisen.
Schulz’ Garantie-Kampagne wird deshalb nicht nur von Widersachern als gezielte Doppeldeutigkeit gewertet. Einerseits folgt sie dem klassischen Rezept, in der Schlussphase des Wahlkampfs die Kernbotschaft auf leicht verständliche Thesen zuzuspitzen, um möglichst viele unentschiedene Wähler zu gewinnen. Doch die Versprechen des SPD-Vorsitzenden dienen offensichtlich noch einem anderen Ziel: Sie liefern Anhängern Gründe dafür, dass sich die Stimme für eine SPD als soziales Korrektiv selbst dann lohne, wenn sie wieder nur Angela Merkels kleinerer Partner wird. Unüberwindliche Hürden für die Union bieten Schulz’ eher vage Garantien jedenfalls nicht. Gegen „mehr Zusammenhalt in Europa“ hat Merkel sicher nichts, auch wenn Schulz darunter anderes verstehen mag als die CDU-Chefin.
Der SPD-Spitzenkandidat versichert natürlich trotzdem, dass er am Ziel Kanzleramt festhalte: „Wer Merkel ablösen will, der muss Schulz wählen, der muss SPD wählen“, sagt er. Von Meinungsumfragen will sich der Kandidat erklärtermaßen nicht beeindrucken lassen: „Warten Sie mal den Wahlabend ab, und dann werden Sie die Prozessionen in Richtung Willy-Brandt-Haus schon sehen!“
Jamaika: Ein bunter Albtraum?
Daniel Günther ist des Lobes voll. Nach seinen Erfahrungen in Kiel sei ein Bund aus CDU, FDP und Grünen etwas, „was gut funktionieren kann“, bekräftigt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident am Montag. Der Christdemokrat ist allerdings der Einzige in den Unionsparteien, der Jamaika im Bund das Wort redet, und auch er nur als zweite Wahl nach einem Wunschbündnis Schwarz-Gelb.
Bei den beiden anderen Partnern für ein solches Trio fällt der Enthusiasmus noch geringer aus. Grünen-Chef Cem Özdemir hat erst am Sonntag im Tagesspiegel betont: „Ich sehe nicht, wie wir mit dieser FDP zusammenkommen sollen.“ FDP-Chef Christian Lindner bringt die Skepsis im „Focus“ auf die Formel: „Für ein Jamaika-Bündnis fehlt mir inzwischen die Fantasie.“ Strikte Absagen sind beide Sätze nicht.
Die Möglichkeit auszuschließen, wäre angesichts der demoskopischen Lage ja auch nicht besonders klug. Aber Özdemir wie Lindner wissen um die scharfen Aversionen in der eigenen Anhängerschaft – für die meisten FDP-Wähler sind Grüne regulierungswütige Öko- Spinner, in den Augen vieler Grünen-Wähler erscheint Lindner als glattrasierter neoliberaler Hipster. Da geht man lieber vorher weit auf Distanz. Für den Fall des Falles aber schließen beide nichts aus.
Rot-Rot-Grün: Verwehter Traum?
Lange hat ein Linksbündnis alle drei Parteien umgetrieben; bis vor Kurzem gab es einen informellen Gesprächskreis, bei dem auch schon mal der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel vorbeischaute. Doch seit der Saarland-Wahl im Frühjahr ist es still darum geworden. Wahlforscher erklärten das schwache Abschneiden der SPD dort damals auch mit dem Misstrauen der Wähler gegen Rot-Rot-Grün.
Kanzlerkandidat Schulz zog die Konsequenz und nahm die Option seither nicht mehr in den Mund. Inzwischen schreiben führende SPD- und Linken-Vertreter sie ab: „Wenn man sich die Umfragen anguckt, kann man jetzt nicht ernsthaft noch in eine Kamera sagen, wir sehen gute Chancen für Rot-Rot- Grün“, sagt Linken-Spitzenfrau Sahra Wagenknecht. „Uns ist es nicht gelungen, das Linksbündnis zu einem Projekt zu machen“, sagt die Arbeitsministerin und SPD-Linke Andrea Nahles.
Klare und eindeutige Absagen sind auch diese Sätze natürlich nicht. Aber selbst die CSU, die Rot-Rot-Grün bisher in jedem Wahlkampf ihren Anhängern als Schreckgespenst vorgeführt hat, hat ihre dringlichen Warnungen auf Eis gelegt – mangels Aktualität.
Schwarz-Gelb: Ja klar, aber ... ?
Christian Lindner müht sich um größtmögliche Distanziertheit. Nein, es gebe keinen Automatismus nach der Wahl, versicherte er neulich im „Welt“-Chat. Selbst eine Mehrheit für Union und FDP führe nicht automatisch zur Koalition: „Nur wenn wir etwas durchsetzen können, gehen wir in eine Regierung, sonst nicht.“ Als Beispiele nennt er „Trendwenden“ bei Einwanderung, Bildung oder Digitalisierung.
Wo da das ernsthafte Hindernis sein soll, bleibt aber sein Geheimnis. In Wahrheit sträubt sich der FDP-Chef weniger aus inhaltlichen als aus taktisch-psychologischen Gründen. Lindner will nach dem desaströsen Ausscheiden aus dem Bundestag vor vier Jahren nicht wie einer wirken, der die Rückkehr zur Macht kaum erwarten kann. Außerdem will er Merkel-Überdrüssige aus der Union gewinnen und muss zugleich die eigene Stammklientel bei Laune halten. Lindners Formel für den Balanceakt lautet: „Ich möchte, dass wir uns niemals wieder unsere Selbstachtung nehmen lassen, indem wir uns exklusiv der CDU unterwerfen.“ Am liebsten wäre dem FDP-Chef wahrscheinlich, wenn auch Rot-Gelb denkbar wäre. Aber das liegt jenseits aller Wahrscheinlichkeit.
Schwarz-Grün: Nie drüber reden?
In der Kunst der zweideutigen Eindeutigkeiten zählt Horst Seehofer zu den großen Virtuosen. Der CSU-Chef, konnte man unlängst lesen, habe ein Bündnis mit den Grünen ausgeschlossen. Tatsächlich hatte Seehofer im Diesel-Streit eine scheinbar klare Position bezogen: „Ein Verbot des Verbrennungsmotors legt die Axt an die Wurzel unseres Wohlstands. Das ist in Koalitionsgesprächen für die CSU genauso wenig verhandelbar wie Steuererhöhungen, eine Erleichterung der Zuwanderung und eine Lockerung der Sicherheitspolitik.“ Die Retourkutsche von Grünen-Seite fiel nicht minder trickreich aus: „Grüne gehen in keine Koalition, die nicht das Ende der Ära des Verbrennungsmotors einleitet und den Einstieg in den abgasfreien Verkehr schafft“, verkündete Spitzenkandidat Özdemir.
Schnelle Zuhörer können also zu dem Schluss kommen, dass zwischen diesen beiden nichts geht. Bei genauerer Betrachtung freilich schließt Seehofer aus, was niemand fordert. Ein „Verbot“ des Verbrennungsmotors verlangt selbst das Grünen-Wahlprogramm erst ab 2030 – in einem Koalitionsvertrag für die Zeit bis 2021 stünde das schlicht nicht zur Debatte. Umgekehrt fordert Özdemir etwas, was selbst die CSU ihm nicht verweigern wird. Für einen „Einstieg“ in den abgasfreien Verkehr sind auch die Bayern zu haben. Kurz also: Seehofer und Özdemir werfen Nebelkerzen, um ihren Stammwählern das Gefühl zu geben, dass sie die alten Fronten eisern verteidigen.
Niemals mit der AfD?
In diesem Fall sind die Absagen ernst gemeint: Von der „Alternative für Deutschland“ will sich keine andere Partei in eine Regierung helfen lassen. Schon dass in Magdeburg CDU-Landtagsabgeordnete unlängst einem AfD-Antrag zustimmten, löste in der CDU-Führung schwere Verärgerung aus. Für den absehbaren Einzug der Rechtspopulisten in den Bundestag suchen die übrigen Parteien schon jetzt nach Strategien, die Truppe zu isolieren, ohne ihr die Chance auf ihre übliche Opfer-Strategie zu geben.
Und die „Obergrenze“?
Sie ist die Mutter aller Garantiebeschwörungen in diesem Wahlkampf. „Es wird eine Regierungsbeteiligung der CSU ohne eine Obergrenze von 200000 für die Bundesrepublik Deutschland bei der Zuwanderung nicht geben“, hatte CSU-Chef Seehofer im vorigen Dezember verkündet.
Allerdings klingt die Forderung, je näher der Wahltag rückt, um so unschärfer. Im „Bayernplan“ der CSU ist von einer Koalitionsbedingung keine Rede mehr. Statt „Obergrenze“ findet Seehofer inzwischen auch „Kontingente“ einen guten Begriff. Wer ihn an den alten Satz erinnern will, erntet genau so ein mitleidiges Lächeln wie neulich ein Fragesteller in einem der Sommer-Fernsehinterviews: So funktioniere Politik nicht. Die Dinge hätten sich eben geändert. Der Mann weiß halt Prioritäten zu setzen: Für ein Wort die Aussicht auf die Macht opfern – ja wo kämen wir denn da hin!