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Zustrom. Dutzende Flüchtlinge aus Afghanistan verlangen vor der Polizeistation auf der griechischen Insel Kos, Papiere zu bekommen, damit sie in verschiedene europäische Länder weiterreisen können.
© Santi Paladios/dpa
Update

Flüchtlinge: Wer kommt, wer darf bleiben, wer muss gehen?

Das Flüchtlingsproblem fordert Europa und Deutschland heraus. Einzelne Schicksale berühren, doch auch Unmut macht sich breit. Wie geht die Politik damit um? Fragen und Antworten.

In Brüssel diskutierten am Montag die EU-Innenminister über einen gerechteren Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge, in Deutschland entzündete sich eine heftige Diskussion an Maßnahmen Bayerns zum härteren Umgang mit Flüchtlingen. Der wachsende Zustrom von Migranten in die Europäische Union polarisiert und fordert die Politik heraus. Gleichzeitig regt sich Mitleid, wenn die Asyldebatte wie im Fall der jungen Palästinenserin Reem ein Gesicht bekommt. Aber auch fremdenfeindliche Stimmungen, die sich rechte politische Strömungen zunutze zu machen versuchen, gibt es. Ein vielschichtiges Thema – hier ein Überlick.

Warum fordert ausgerechnet Bayern ein schärferes Vorgehen?

Bayern gehört mit Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu den Hauptanlaufstellen von Asylbwerbern. Und in Bayern kommen vor allem Asylbewerber vom Balkan an. Gerade im Freistaat haben deshalb viele das Gefühl, dass im deutschen Asylsystem etwas falsch läuft. Landes- und Kommunalpolitikern fällt es zunehmend schwer, die Unterbringung von Asylbewerbern gegenüber ihren Wählern zu rechtfertigen.

Ein Teil der rund 26 000 Asylbewerber, die in diesem Jahr in Bayern ankamen, werden zwar auf andere Bundesländer verteilt, doch erst dann, wenn sie offiziell einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Laut Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) vergehen bis dahin oft Wochen, manchmal sogar Monate, weil das BAMF mit der Antragsflut völlig überlastet sei. 237 000 unbearbeitete Asylanträge schiebt das Bundesamt derzeit vor sich her.

Was plant Bayern, um die Asylzahlen zu verringern?

Das bayerische Kabinett hat am Montag bei einer Klausurtagung „ein Maßnahmenpaket zur Bewältigung und Eindämmung des anhaltenden Asylzustroms“ beschlossen. Konkret werden zwei Aufnahmeeinrichtungen speziell für Asylbewerber mit geringen Bleibechancen aus Albanien, dem Kosovo und Montenegro an der Grenze errichtet. Dort soll in Schnellverfahren über die Asylanträge entschieden werden. Statt Geld sollen die Asylbewerber Sachleistungen erhalten. Sie werden außerdem sofort nach ihrer Ankunft über Rückkehrmöglichkeiten beraten. Innerhalb von zwei Wochen sollen Mitarbeiter des BAMF die Verfahren abwickeln. Wer nach einer Ablehnung nicht sofort freiwillig ausreist, soll unverzüglich abgeschoben werden.

Um die Abschiebungen zu organisieren, hatte das Land zuvor bereits beschlossen, 2015 und 2016 mehr als 100 neue Stellen bei den Ausländerbehörden anzusiedeln. Aus dem bayerischen Innenministerium hieß es am Montag, im Zuge der Neuerungen werde das Personal voraussichtlich weiter aufgestockt.

Bayern fordert auch Änderungen auf Bundes- sowie europäischer Ebene. So sollen Asylbewerber aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten weniger finanzielle Unterstützung erhalten, sie sollen nicht arbeiten dürfen. Auch die sogenannte Residenzpflicht, nach der sich Asylbewerber nur innerhalb des Bezirks ihrer zuständigen Ausländerbehörde bewegen dürfen, wollen die Bayern wieder auf die Tagesordnung setzen. Von der EU fordern sie, die Visapflicht für die Staaten des westlichen Balkans wiedereinzuführen. Brüssel solle außerdem einen Beauftragten für Flüchtlingsfragen ernennen.

Für „Geduldete“ soll es Erleichterungen geben – wie sehen sie aus?

Ende Juni hat der Bundestag erneut Erleichterungen beschlossen, damit gut integrierte „Geduldete“, also nicht anerkannte Asylbewerber, die immer wieder mit ihrer Abschiebung rechnen müssen, Perspektiven erhalten. Dies trifft sehr wahrscheinlich auch auf die junge Reem zu, deren Tränen im Gespräch mit der Kanzlerin vergangene Woche Schlagzeilen machten. Bereits seit 2011 konnten Jugendliche, die in der Schule erfolgreich waren, ihre Eltern und Geschwister im Land bleiben, wenn sie bereits sechs Jahre in Deutschland verbracht hatten. Mit der jetzigen Bleiberechtsreform ist diese Frist auf vier Jahre verkürzt worden. Das Gesetz hat inzwischen auch den Bundesrat passiert und wird in Kraft treten, sobald der Bundespräsident es unterschrieben hat, vermutlich im August. Seit fünf Jahren können auch beruflich qualifizierte Geduldete grundsätzlich auf Dauer bleiben. Abgesehen von der Kritik der Opposition, dass derartige Erleichterungen die Lage Schutzbedürftiger von ihrer Brauchbarkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt abhängig machten: Etliche Möglichkeiten, die jetzt schon in Gesetzen stehen, sind Kann- oder Soll-Bestimmungen, sie geben also den Betroffenen keinen festen Rechtsanspruch, sondern den Behörden Ermessensspielraum.

Was ist das Dublin-System?

Vor 25 Jahren haben sich die EU-Staaten in Irlands Hauptstadt gemeinsame Regeln für die Flüchtlingspolitik gegeben. Kernpunkt der Vereinbarung: Für die Asylverfahren zuständig ist stets das Land, wo die Neuankömmlinge erstmals europäischen Boden betreten. An diesem Montag ist die Eurodac-Verordnung wirksam geworden, die dies überhaupt möglich machen soll. Demnach müssen alle Mitgliedsländer Fingerabdrücke von ihnen nehmen und diese den Einwanderungsbehörden aller anderen Mitglieder, neuerdings auch Strafverfolgern und der Polizei, zugänglich machen, damit dieser erste Kontakt mit Europa nachgewiesen werden kann.

Auch dies jedoch dürfte die alten Webfehler von Dublin nicht beheben: Das Gros der Flüchtlinge kommt über Europas Süden: Italien, Malta, Griechenland. Und der ist aus ganz unterschiedlichen Gründen überfordert. So ist bekannt, dass Italiens Behörden oft keine Fingerabdrücke nehmen, um „Rücküberstellungen“ von Flüchtlingen zu vermeiden, die nach Norden weiterziehen. Griechenland hatte schon vor der Krise praktisch kein Asylsystem. Aber auch dann, wenn ein Land des ersten Aufenthalts seine Zuständigkeit anerkannt hat, gelingt die Abschiebung ins Herkunftsland nur in einem Teil der Fälle. Ohnehin erhält die Hälfte aller Asylbewerber Schutz in Deutschland, entweder per Asyl oder weil sie aus anderen Gründen schutzbedürftig sind.

Wie hoch ist der Anteil von Bewerbern, die keine Aussicht auf Asyl haben?

Grundsätzlich hat jeder Asylsuchende das Recht auf eine individuelle Prüfung seines Antrags. Angesichts des starken Zustroms von Asylbewerbern aus den Staaten des westlichen Balkans haben die Innenminster von Bund und Ländern allerdings beschlossen, deren Anträge innerhalb weniger Wochen zu bearbeiten. Dafür soll das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in diesem Jahr 1000 zusätzliche Stellen erhalten.

Einige Balkanstaaten (Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina) wurden zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt, was ebenfalls eine schnellere Entscheidung über Asylanträge ermöglicht. Im Kosovo und in Albanien wurden außerdem Informationskampagnen gestartet, um Auswanderungswillige darüber aufzuklären, dass sie praktisch keine Chance haben, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen.

Im Kosovo war das recht erfolgreich. Anfang des Jahres kamen täglich bis zu 1500 Kosovaren in Deutschland an, im Juni waren es nur noch 1400 im gesamten Monat. Dafür sind nun die Zahlen für Albanien mit fast 6000 Asylbewerbern im Juni deutlich gestiegen. Die gerade erst angelaufene Aufklärungskampagne zeigt hier noch keine Wirkung. Insgesamt stellen die genannten fünf Balkanstaaten derzeit rund 32 Prozent aller Asylbewerber. Die Anerkennungsquoten liegen unter einem Prozent.

Die abgelehnten Bewerber reisen allerdings nicht immer gleich aus – manche von ihnen dürfen aus medizinischen Gründen vorübergehend bleiben, anderen fehlen Papiere, um in ihr Heimatland reisen zu können. Rund die Hälfte der bis Ende 2014 abgelehnten Antragsteller vom Balkan lebt daher noch immer in Deutschland.

Was macht die EU?

Ende Juni scheiterte auf dem Brüsseler EU-Gipfel ein erster Versuch, die Verteilung der Flüchtlinge in Europa neu und gerechter zu regulieren. Ungarn, Polen und die baltischen Mitgliedsländer hatten sich einem verbindlichen Schlüssel dafür verweigert. Es gab lediglich Einigkeit darüber, dass man sich um 60 000 Menschen in der EU kümmern werde: 40 000, die aus den stark belasteten südlichen EU-Staaten Italien und Griechenland in andere europäische Länder innerhalb der EU umverteilt werden sollten, 20 000, die zusätzlich aus Flüchtlingslagern rings um Syrien kommen sollten. Dieses Ziel ist jetzt erneut verfehlt worden, um etwa 5000 Menschen. Allerdings beteiligten sich auch Lettland und Litauen mit der Zusage für wenige hundert Menschen. Nur bei Ungarn steht in beiden Rubriken der Verteilliste – Umverteilung von Süden und Neuzugänge aus Syrien – eine glatte Null. Österreich übernimmt niemanden aus dem Süden, dafür aber 1900 Neuankömmlinge. Deutschland bietet insgesamt 12 100 Menschen Zuflucht.

Andrea Dernbach, Ulrike Scheffer

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