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Ohne Jean-Claude Juncker wäre die EU heute wohl nicht was sie ist. Dafür verhandelte er oft auch ausgiebig bis in die Nacht hinein.
© AFP

Regierungskrise in Luxemburg: Wer ist Jean-Claude Juncker?

Jean-Claude Juncker ist ein Überzeugungstäter. Ein großer, zuweilen schnoddriger Rhetoriker. In Luxemburg mit seiner Regierung gescheitert, bereitet er sich schon auf die Wiederwahl vor. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, trotz sinkender Umfragewerte.

Wer wissen will, wer Jean-Claude Juncker ist, wie er tickt, wofür er lebt, wer etwas von seiner Taktik erspüren will, der muss ein bisschen warten. Bis zur nächsten Krise der Europäischen Union, oder des Euro, oder bis zum nächsten Krach zwischen Deutschland und Frankreich. Dann empfiehlt es sich, morgens um kurz nach sieben Uhr den Deutschlandfunk einzuschalten und ein paar Minuten zu warten. Mit fast absoluter Sicherheit kommt dann die Moderatorenstimme mit diesem Hinweis: „Wir sind jetzt verbunden mit Jean-Claude Juncker ...“ Und dann kommt eine Stimme, die man nicht vergessen kann. Sonor, erst nüchtern analysierend, im nächsten Moment leidenschaftlich appellierend, in einem präzisen, sprachlich anspruchsvollen Deutsch, mit reichem Vokabelschatz. Als Zuhörer denkt man dann: Warum haben wir in Deutschland (Frankreich, England, Italien ...) eigentlich niemand, der so glasklar, so überzeugend und doch mitreißend sagen kann, was Sache ist.

Mister Euro

Für die Deutschen ist Jean-Claude Juncker „Mister Euro“, acht Jahre lang war er der Chef der Euro-Gruppe. Dabei ist Juncker vor allem auch einer der dienstältesten Staatschefs Europas – noch. Am Mittwochabend verkündete Juncker im Luxemburger Abgeordnetenhaus mit dünner Stimme, er werde dem Großherzog die Auflösung des Parlaments mit Neuwahlen vorschlagen. Sieben Stunden lang hatten die Abgeordneten da bereits debattiert. Und Junckers Hoffnung, er könnte sich mit einem zweistündigen Plädoyer retten, erwies sich als zu zuversichtlich. Juncker, seit 18 Jahren Premierminister Luxemburgs, stolperte nun über eine Geheimdienstaffäre.

Juncker zieht Konsequenzen

Dass er von geheimen Abhöraktionen und Sammlungen von Daten Luxemburger Bürger nichts gewusst haben wollte, war zu viel. Der Geheimdienst, dessen nicht genehmigte Aktionen sich zu einer veritablen Staatsaffäre ausgeweitet hatten, untersteht Jean-Claude Juncker direkt. Dessen sozialdemokratischer Koalitionspartner bat, wie schon angekündigt, Juncker möge die politische Verantwortung übernehmen.

Am Donnerstag diskutierte Juncker etwa eineinhalb Stunden lang mit seinen Ministern über eine Neuwahl, bevor er anschließend zu Großherzog Henri ging. Der wird nun über das weitere Vorgehen entscheiden. Nach diesem Treffen erklärte Juncker, er habe dem Großherzog aus seiner Sicht, „aus Regierungssicht“, die Lage beschrieben. „Es ist jetzt an dem Großherzog, seine Entscheidung zu treffen.“ Und Juncker wäre wohl nicht Juncker, wenn er nicht trotz Geheimdienstaffäre wieder zur Wahl antreten wollte. „Lust hätte ich schon, aber das muss meine Partei entscheiden“, sagte er. Am Donnerstagabend sollte Junckers Wunsch in Erfüllung gehen, seine christlich-soziale Volkspartei bestätigte ihn in einer Sondersitzung als ihren Spitzenkandidaten.

Vom Vertrauen der Partei und den fetten Jahren

Die Partei steht geschlossen hinter ihm. Keine zwei Stunden nachdem er im Parlament den Rücktritt seiner Regierung angekündigt hatte, stellte seine Chrëschtlech Sozial Vollekspartei (CSV) auf ihrer Homepage klar, dass es keiner größeren parteiinternen Debatten bedurfte, um den noch amtierenden Premier zu ihrem Spitzenkandidaten für die nun anstehenden Neuwahlen zu küren.

Von außen betrachtet mag es verwundern, dass eine Partei sich derart schnell hinter einen Mann stellt, der nicht unverschuldet über eine spektakuläre Geheimdienstaffäre gestolpert ist. Denn auch wenn es die Christdemokraten im Parlament anders darstellen wollen: In Luxemburg zweifelt kaum jemand daran, dass Juncker politisch verantwortlich ist für die durchaus gravierenden Unregelmäßigkeiten beim „Service de Renseignement de l’Etat“ (SREL), dem Geheimdienst. Das heißt jedoch nicht, dass ihm die Wähler deswegen ihr Vertrauen massenhaft entziehen werden.

Auch in Luxemburg scheinen die fetten Jahre vorbei zu sein

Mit Juncker verbinden viele Luxemburger auch so etwas wie die „fetten“ Jahre. Lange hatte es so ausgesehen, als mache die Krise einen Umweg um das Großherzogtum. Noch immer liegt das Pro-Kopf-Einkommen weit über dem europäischen Durchschnitt. Allerdings stieg die Arbeitslosenquote in den vergangenen zwei Jahren deutlich schneller an und liegt nun bei rund sechs Prozent.

Längst löste der Finanzplatz die Stahlindustrie als wichtigster Wirtschaftssektor ab. Doch auch in den rund 140 Luxemburger Banken wurden in den vergangenen Jahren Stellen abgebaut. Dass nahezu die Hälfte der Arbeitnehmer nicht in Luxemburg wohnt, trägt dazu bei, dass sich die Politik nicht immer an der Situation auf dem Arbeitsmarkt, sondern eher an der Wahlklientel orientiert. Dazu kommt, dass von den rund 500 000 Menschen, die in Luxemburg wohnen, nur etwas über die Hälfte einen luxemburgischen Pass besitzt und demnach nicht wählen darf.

Luxemburg ohne Juncker? Undenkbar.

Die Frage, ob sich die Einwohner ihr Land ohne ihren schnoddrigen Premier überhaupt noch vorstellen können, ist nach einer fast zwei Jahrzehnte dauernden Juncker-Ära durchaus gegeben. Auch das Wahlsystem, in dem das „Panaschieren“, das Verteilen der Stimmen auf mehrere Listen erlaubt ist, kommt dem rhetorisch brillanten Christdemokraten sehr entgegen. Der 58-Jährige bekommt traditionell auch viele Stimmen von Nicht-CSV-Wählern.

Sie würde Juncker immer wieder wählen, sagte beispielsweise eine Dame im Radio am Tag nach der entscheidenden Parlamentsdebatte, „er hat so viel Gutes getan für unser Land“. Eine andere Stimme hingegen hätte sich einen Premier gewünscht, „der weniger durch Europa tourte und sich mehr um die Probleme zu Hause gekümmert hätte“.

Ohne Juncker sähe die Europäische Union heute anders aus

Die beiden Meinungen spiegeln ziemlich genau, wie zwiespältig die Stimmung im Land ist, wenn es um Juncker geht. Dass der während seiner Zeit als Euro-Gruppenchef nicht nur den ihm unterstellten Geheimdienst vernachlässigte, wurde oft kritisiert. Auch über sein zuweilen etwas überhebliches Auftreten ziehen die Luxemburger her. Doch einem „Mister Euro“, der selbst im deutschen Fernsehen noch seine lockeren Sprüche anbringen kann, kauft man auch Durchsetzungsvermögen ab. Gerade in so einem kleinen Land kommt gerne das Gefühl auf, ein international renommierter Politiker sei der Richtige, um die nationalen Interessen auf der europäischen Bühne zu verteidigen.

Der Höhenflug ist beendet

Dies gilt vor allem in Krisenzeiten. Dass sich der Premier, der sich gerne als Sohn eines Stahlarbeiters vorstellt, in Luxemburg aktiver am Aufbau des nun so krisenanfälligen Bankensektors als an der Rettung des früher wichtigsten Stahlsektors beteiligte, wurde ihm lange Zeit nicht übel genommen. Erst seitdem die Erfolgsstory des Finanzplatzes ins Stocken geriet, wird die Kritik lauter. „Juncker im Sinkflug“ titelte vor zwei Wochen das „tageblatt“, das dem Koalitionspartner, der „Luxemburger Sozialistischen Arbechterpartei“ (LSAP), nahesteht. Eine eher von sozialdemokratischem Wunschdenken geprägte Einschätzung, doch die vorgestellten Umfrageergebnisse waren in der Tat historisch schlecht für den Premier. Um zehn Punkte war die Zustimmung für ihn gesunken, Juncker landete jedoch mit seinen 72 Prozent immer noch auf Platz 1.

Vielleicht ist es die Kehrseite von Junckers direktem Stil, dass es ihm teilweise an diplomatischer Feinfühligkeit fehlt. Auf EU-Ebene wirkte der luxemburgische Premier immer locker, scherzte mit den übrigen Staatschefs, als sei man unter Freunden und nicht in teils heikler Mission unterwegs.

Ohne Jean-Claude Juncker wäre die Europäische Union, wäre Europa, nicht so weit vorangekommen. Die Euro-Krise hat die eigentliche grandiose Leistung nach der Zeitenwende 1990 überschattet. Die alles in allem geräuschlose erfolgreiche Integration der Staaten Mittelosteuropas ist auch Politikern wie Juncker zu verdanken, die unermüdlich die Erweiterung propagierten. Bei den Eifersüchteleien, die zwischen den Großen der EU, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, herrschen, konnte nur der Vertreter eines kleinen Staates wie Luxemburg den Prozess der zunehmenden Vergemeinschaftung der Entscheidungsprozesse vorantreiben.

Gegen Nationalismus und Kriegstreiberei

Ihm, dem Sohn eines von den Nazis mit Gewalt in eine deutsche Soldatenuniform gezwungenen Gewerkschafters, nahm man das glühende Bekenntnis zu Europa ab. Seine größte Sorge war ein erneutes Aufflammen nationalistischer Ressentiments in Europa, eine Wiederkehr der Gemengelage von 1913, als Europa aus Leichtsinn, überschäumendem Nationalchauvinismus und Dummheit in jenen Krieg geriet, der in vielen Ländern „der große“ genannt wird. Folgerichtig warnte Juncker auf dem Höhepunkt der Euro-Krise vor einer neuen Kriegsgefahr, als er sah, wie in Südeuropa anti-deutsche Ressentiments geschürt wurden und in Deutschland Boulevardzeitungen und konservative Politiker voller Hohn und Überheblichkeit über die vermeintlich faulen mediterranen Völker herzogen.

Aus Luxemburg nach Europa?

Juncker strahlt jene Europa-Begeisterung aus, die sich aus den Lehren der Geschichte speist. Bequem ist er in seiner Verhandlungsführung nie gewesen. Züge von Arroganz und übertriebenem Selbstbewusstsein machen den Umgang mit ihm nicht leicht. Bei den oft endlosen Diskussionen in Brüssel ist er nie derjenige, der auf schnelle Abschlüsse drängt. Er spielt seine gute körperliche Konstitution und seine starke Physis aus und setzt darauf, dass seine Gesprächspartner irgendwann zermürbt klein beigeben. Sein Ehrgeiz, doch noch einmal in eine der europäischen Spitzenpositionen zu kommen, ist ungebrochen. Hinderlich ist ihm dabei eher, was eigentlich als Vorzug eines Politiker gelten sollte: Er hat Überzeugungen, und er steht auch dazu.

Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Sarkozy verziehen ihm das nicht und verhinderten seine Berufung zum Präsidenten des Europäischen Rates. Für Sarkozy war der wirbelige Luxemburger per se ein Ärgernis, und die Bundeskanzlerin nahm ihm übel, dass er unverdrossen für Euro-Bonds eintrat. Das Rennen machte schließlich der Belgier Hermann Van Rompuy. Nicht nur Juncker selbst ist wohl überzeugt davon, dass er die bessere Wahl gewesen wäre.

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