Protestwelle in Istanbul: Wer ist der türkische Wutbürger?
„Erdogan ist ein Spalter“ – was als Demonstration für den Erhalt eines Parks in Istanbul begann, ist zu einer Protestwelle geworden, wie sie die Türkei noch nie erlebt hat. Bericht aus einem zerrissenen Land.
Die Frau in Rot ist überall. Ceyda Sungur, eine Assistentin an der Istanbuler Technischen Universität, ist unfreiwillig zur Symbolfigur der regierungsfeindlichen Unruhen der vergangenen Tage geworden.
In einem roten Kleid, das eher zu einer entspannten Gartenparty als zu einer brisanten politischen Aktion passte, war Sungur an einem sonnigen Tag Ende Mai zum Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls gekommen, wo sich eine Phalanx der Polizei und eine kleine Gruppe von Umweltschützern gegenüberstanden, die ein Bauprojekt in einem städtischen Park verhindern wollen. Einer der Beamten sprang plötzlich vor und besprühte Sungur aus nächster Nähe mit Reizgas, und zwar so heftig, dass ihre langen dunklen Haare wie im Sturmwind nach oben geblasen wurden. Sungur wandte sich ab, doch der Polizist sprühte immer weiter.
Die Szene, von einem Pressefotografen festgehalten, wurde zum Sinnbild des Konflikts, der seither die ganze Türkei erschüttert: die Staatsmacht auf der einen, das Volk auf der anderen Seite. Eine Polizei, die ohne Not mit brutaler Gewalt gegen Bürger vorgeht, die nichts anderes tun, als von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen.
Jeder, der in der Türkei schon einmal für Menschenrechte eingetreten sei, habe Ähnliches erlebt, sagte Sungur hinterher. Das Bild der Frau in Rot, wie Sungur fortan in den Medien genannt wurde, verbreitete sich in Windeseile und ist inzwischen auf Plakaten, auf Demonstrationen und im Internet allgegenwärtig. Denn aus der kleinen Demonstration für den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul ist eine Protestwelle geworden, wie sie die moderne Türkei noch nicht gesehen hat. Der brutale Polizeieinsatz gegen das ursprüngliche Sit-in der Umweltschützer im Park löste eine noch die da gewesene Lawine der Solidarität aus.
Längst geht es nicht mehr nur um die Bäume. Es geht um den autoritären Führungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der die Demonstranten in die Nähe von Terroristen gerückt hat. Es geht um den Protest gegen eine Regierung, die nach Ansicht der Demonstranten keinerlei Rücksicht auf Andersdenkende nimmt. Und es geht um die Sprachlosigkeit in einem tief gespaltenen Land.
Ein sonniger Morgen im Gezi-Park vor einigen Tagen. Auf beinahe jedem Fleckchen Rasen steht eines der Zelte der mehr als tausend Demonstranten, die als Baumschützer im Park übernachten. An Dutzenden von Ständen können sich die Erdogan-Gegner mit Essen und Trinken versorgen, das von Unterstützern gespendet wurde. Prominente, darunter bekannte Schauspieler, machen ihre Hilfe für die Demonstranten publik. Das Team des Nationalisten- Thrillers „Tal der Wölfe“ spendete Zelte und Gasmasken.
Mehrere Samoware versorgen die Demonstranten mit Tee, der für sie wie für alle Türken unverzichtbar ist. Eine Gruppe von Anwälten und Jurastudenten bietet Rechtshilfe an. Berufsverbände wie eine Organisation aus der Filmbranche sind vertreten, am Ausgang des Parks krächzt eine türkische Hardrock-Version der Internationalen aus den Lautsprechern einer Linksgruppe.
Der Gezi-Park als staatsfreie Zone.
Der Gezi-Park ist zu einer Art staatsfreien Zone im Herzen der größten Stadt der Türkei geworden, ohne Polizei, ohne Behörden, und vor allem ohne Erdogan. Einige Demonstranten sammeln den Müll ein. Hin und wieder versammeln sich kleinere Gruppen zu Spontan-Demonstrationen und verfluchen den Ministerpräsidenten. Hier und da spielt jemand Gitarre. Beim Freitagsgebet werden die Gläubigen unter den Demonstranten schützend von Teenagern umringt, von denen einer ein „Motörhead“- T-Shirt trägt. Im Gezi-Park wird die Utopie gelebt.
Wenn all das an eine Veranstaltung von 68ern erinnert, dann ist das kein Zufall. Soziologen vergleichen den derzeitigen Aufstand in der Türkei mit den Studentenrevolten in Westeuropa in den 1960er Jahren: ein Aufbegehren gegen die Autoritäten, ein Infragestellen etablierter Konventionen, das auf völliges Unverständnis der Gegenseite trifft. „Erdogan hat das Volk gespalten“, sagt ein junger Mann im Park, der seinen Namen nicht nennen will. „Lange dauert das hier nicht mehr“, fügt er hinzu und schaut sich um, als befürchte er, dass jeden Moment ganze Hundertschaften schwer bewaffneter Polizisten durchs Gebüsch brechen könnten. „Bald werden sie das hier alles abräumen.“
Schließlich haben Tausende von Anhängern des Ministerpräsidenten lautstark ihre Bereitschaft erklärt, Tabula rasa zu machen im Gezi-Park und am Taksim-Platz, die in der Hand der Demonstranten sind. „Zeig uns den Weg, dann ziehen wir los und machen den Taksim platt“, riefen die Erdogan-Anhänger bei der Ankunft des Ministerpräsidenten in Istanbul nach einer viertägigen Auslandsreise.
Auch Suha Yilmaz macht sich Sorgen. Der 30-jährige Koch, der mit Freunden vor seinem Zelt im Gezi-Park frühstückt, ist ebenfalls der Meinung, dass Erdogan ein Spalter ist. „Er redet immer von ,den anderen‘, immer nur von ,uns‘ und ,denen‘“, sagt Yilmaz. Dass der „Republik Gezi-Park“, wie der polizeifreie Raum in Istanbul in den Medien genannt wird, bald ein Ende bereitet werden könnte, befürchten viele im Park. „Ich hoffe nur, dass nichts Schlimmeres geschieht“, sagt ein Mann. „Man muss doch über unsere Forderungen reden.“
Genau das sehen die Leute in einem Teehaus nur anderthalb Kilometer Luftlinie vom Gezi-Park entfernt ganz anders. Auch hier wird deklamiert, auch hier haben die Menschen ihre festen Ansichten, auch hier wird Tee getrunken. Aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn das Teehaus steht im Stadtviertel Kasimpasa, in dem Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen ist und in dem er verehrt wird wie ein Held. „Die sind doch auf Drogen, die nehmen doch die ganze Zeit Kokain“, schimpft ein Kunde des Teehauses über die Gezi-Demonstranten. „Das liegt alles daran, dass die Jugend hier seit hundert Jahren von der Religion ferngehalten wird: Weil die an nichts glauben, denken sie, sie könnten in ihrem Leben alles anstellen, weil sie hinterher keine Rechenschaft ablegen müssen. Das sind Hippies.“
Ein anderes Teehaus in Kasimpasa, dieselben Meinungen. „Wo kommen die denn alle her?“, entrüstet sich der 68-jährige Rentner Kemal Varici. „Arbeiten tut doch keiner von denen. Aber vielleicht kriegen die ja Geld fürs Demonstrieren, dann gehe ich da vielleicht auch hin.“ Varici lacht herzlich. Für die Forderungen der Demonstranten hat in Kasimpasa kaum jemand Verständnis. „Es wird doch alles verschönert“, sagt Varici über die Pläne Erdogans, auf dem Gelände des Parks ein historisches Kasernengebäude der Osmanen wieder zu errichten, das 1940 abgerissen worden war.
Einen Ausweg aus der Krise und der Sprachlosigkeit sehen Beobachter derzeit kaum. Irgendwie müsse es doch am Ende eine Lösung für den Streit geben, sagt der angesehene Journalist Rusen Cakir im Fernsehsender CNN-Türk. Zuallererst müsse sich die Regierung förmlich für die Brutalität der Polizei entschuldigen Stattdessen lenkt Erdogan den Blick auf angebliche Agenten des Auslands, die den Aufstand angezettelt haben sollen. Mehrere Ausländer, darunter ein Bundesbürger, seien im Zusammenhang mit den Unruhen festgenommen worden, sagt Erdogan. Die Leute in Kasimpasa sind ohnehin überzeugt, dass die Deutschen, die Amerikaner oder die Israelis hinter allem stecken.
In der Hauptstadt Ankara wurde unterdessen ein Unterstützungs-Zeltlager für die Demonstranten vom Gezi-Park aufgegeben: Die Polizei hatte das Camp als illegal bezeichnet und mit einem Eingreifen gedroht. Nach einem kurzen Handgemenge und einer Vermittlungsaktion von Oppositionspolitikern bauten die Demonstranten ihre Zelte ab. Ist das die Zukunft der „Republik Gezi-Park“? Die 17-jährige Schülerin Piril Temel will das verhindern. „Wir bleiben hier, bis er zurücktritt“, sagt das Mädchen vor ihrem Zelt im Gezi-Park über Erdogan. „Vielleicht sollte er mal herkommen.“