Eine Frage des Standpunkts: Wer hat Schuld am Nahostkonflikt ?
Acht Tage kämpfte Israels Armee im Gazastreifen mit der radikalislamischen Hamas. Nun die Waffenruhe: Ob sie lange hält, weiß niemand. Denn noch immer gibt es keinen dauerhaften Frieden zwischen Palästinensern und Israelis. Die beiden höchsten diplomatischen Vertreter in Deutschland erläutern ihre Sichtweise.
In den vergangenen Jahren mussten eine Million Israelis im Süden des Landes in ständiger Angst vor Raketen aus dem Gazastreifen leben. Es war ihnen unmöglich, ein normales Leben zu führen, da sie nie wissen konnten, wann der nächste Alarm ausgelöst wird – wenn überhaupt, denn nicht immer gibt es eine entsprechende Warnung. Familien, Kinder, Frauen und Männer, junge wie alte Menschen mussten mitten in der Nacht in den Bunkern Zuflucht suchen, wenn die Sirenen heulten. Die Bewohner israelischer Dörfer und Städte lebten unter dieser ständigen Bedrohung.
Diese Situation dauert schon viel zu lange an. Sie ist unerträglich und inakzeptabel. Wir sprechen über ein palästinensisches Gebiet, das wir bereits vor sieben Jahren zurückgegeben haben – ohne Abkommen, als eine Geste des guten Willens. Und um zu beweisen, wie ernst es uns mit dem Wunsch nach Frieden ist. Wir haben 30 Siedlungen verlassen, 10 000 Menschen mussten ihre Heimat aufgeben. Dieser Schritt geschah mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die bereit war, die Palästinenser mit hohen Summen zu unterstützen. Das Ziel war, den Gazastreifen in ein Singapur des Nahen Ostens zu verwandeln. Aber nachdem die Hamas die Macht an sich gerissen hatte, wurden im Gazastreifen statt Mikrochips Raketen gebaut. Die andauernden Raketenangriffe waren der Grund für die israelische Militäraktion „Säule der Verteidigung“. Unser Ziel lautete und lautet sehr einfach: Ruhe gegen Ruhe.
Nach einer langen Zeit der Zurückhaltung, nachdem wir wieder und wieder gewarnt haben, wurden die monatelangen Raketenangriffe der Hamas auf Städte und Dörfer von Israel mit einer starken militärischen Reaktion beantwortet. Nun wurde am Mittwoch eine Waffenruhe erreicht, die von den USA und Ägypten – sowie mit sehr positiver Unterstützung und Hilfe von Deutschland – vermittelt wurde. Wird diese Feuerpause von der Hamas und den anderen islamistischen Terrorgruppen im Gazastreifen respektiert werden? Werden sie ihre Verpflichtung einhalten? Oder werden sie sich entscheiden, weiterhin unsere Bürger mit ihren Angriffen in Gefahr zu bringen? Es ist unmöglich, die Zukunft vorherzusagen. Doch ich denke, es gibt bereits einige Schlüsse, die man aus den Ereignissen der vergangenen Wochen ziehen kann.
Es ist zu erkennen, dass sich Ägypten unter Präsident Mursi in einer sehr konstruktiven Weise positioniert hat. Dies kann als sehr positive Entwicklung angesehen werden, nicht nur im Zusammenhang mit dem Gazastreifen, sondern auch in der gesamten Region.
Die israelische Regierung hat entschlossen und umsichtig agiert. Wir haben alles getan, um das Leben unserer Bürger zu schützen und ebenso das der Zivilbevölkerung auf der palästinensischen Seite – und das, obwohl die Hamas gezielt Zivilisten als Schutzschilde für ihre Terroraktivitäten benutzt. Unsere Umsicht ist Teil unserer Stärke, und sie ist einer der Gründe für die große internationale Unterstützung, die Israel während dieser Operation „Säule der Verteidigung“ erfahren hat.
Das Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ ist ein strategisches und rein defensives Instrument, das täglich israelischen Zivilisten das Leben rettet. Es handelt sich um eine außergewöhnliche technologische Errungenschaft Israels, die weltweit einzigartig ist und mit Sicherheit noch weiterentwickelt werden wird. „Iron Dome“ hat zusammen mit anderen hochtechnologischen Waffensystemen, die der jüdische Staat einsetzt, dazu geführt, dass die Zahl unschuldiger ziviler Opfer auf beiden Seiten deutlich kleiner geblieben ist, als dies etwa bei der Militäroperation „Gegossenes Blei“ vor vier Jahren der Fall war.
Dazu haben auch ungewöhnliche Aktionen der israelischen Verteidigungsstreitkräfte beigetragen: Die Bevölkerung im Gazastreifen wurde mit Plakaten, Flugblättern, persönlichen SMS und Anrufen vor bevorstehenden Angriffen gewarnt – auch wenn das dazu geführt hat, dass wir dadurch den Terroristen weniger Schaden zufügen konnten. Denn wenn ein unschuldiger Zivilist getroffen wird, ist dies für uns ein operativer Fehler. Für die Hamas ist genau dies das Ziel ihrer Angriffe und ein Erfolg: Zivilisten zu treffen.
Wir schätzen die deutsche Haltung und die eindeutigen Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle sehr. Hier in Deutschland sind Ursache und Wirkung des jüngsten Konflikts nicht verdreht worden. Die Hamas und andere Terrororganisationen haben unschuldige Israelis angegriffen, und das ist nicht hinzunehmen. Nach internationalem Recht hat Israel das Recht und die Pflicht, sich und seine Bürger zu verteidigen. Die Rolle Deutschlands bei den Verhandlungen ist mit den besonderen und einzigartigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel verknüpft und resultiert auch aus Deutschlands Gewicht im Nahen Osten und Europa. Nicht nur von Regierungsseite, sondern auch von der deutschen Bevölkerung haben wir große Unterstützung und Solidarität erfahren.
Israels Blick auf den Nahen Osten gründet auf Frieden und Sicherheit. Wir haben immer unsere Hand zum Frieden ausgestreckt und waren gleichzeitig darauf vorbereitet, unsere militärische Kraft zu unserer Verteidigung einzusetzen. Die israelische Regierung hat in den vergangenen Jahrzehnten die Palästinensische Autonomiebehörde wieder und wieder dazu aufgerufen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das ist der einzige Weg, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Verhandlungen sind das beste Instrument gegen die terroristischen Kräfte, die das größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden sind. Israel hat sein Verantwortungsbewusstsein bewiesen, indem es dem Waffenstillstand zugestimmt hat. Wir hoffen, nun positive Schritte auf dem Weg zu Dialog und Frieden zu sehen. Ruhe und ein Ende des Terrors sind der Schlüssel zum Frieden.
Der Konflikt aus palästinensischer Sicht
Schockierende Bilder erreichten uns in den vergangenen Tagen aus dem Gazastreifen. Israel bombardierte nach der gezielten Tötung eines Funktionärs der Hamas wahllos ein 360 Quadratkilometer großes Gebiet mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern. Zu leiden hatte unter diesen aggressiven Luftangriffen die Zivilbevölkerung. Denn unter den Opfern und Verletzten waren viele Kinder, Frauen und ältere Menschen.
Gerade angesichts dieser Angriffe wird wieder die Frage ins öffentliche Bewusstsein gerückt, warum der seit Jahrzehnten bestehende Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht gelöst werden kann. Prinzipiell ist diese Frage leicht zu beantworten. International herrscht Konsens über die Lösung des am längsten andauernden Konflikts der Welt – und diese besteht in der Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung. Nun ist das noch nicht geschehen, wofür es meines Erachtens zwei Gründe gibt: Auf der einen Seite stehen Tatenlosigkeit, einseitige Parteinahme der Weltgemeinschaft und Verhandlungen, die nicht ergebnisorientiert sind; auf der anderen Seite die Nichteinhaltung der völkerrechtlichen Richtlinien und der Umgang mit Israel als einem Staat, der über dem Gesetz und dem Völkerrecht steht.
Diese Vorgehensweisen haben den Nahostkonflikt in eine Sackgasse manövriert. Ein Entrinnen erscheint ausweglos, auch wenn bis heute die gesamte internationale Gemeinschaft, einschließlich der beteiligten Parteien und ihrer Vermittler, die Zwei-Staaten-Lösung als einzige Möglichkeit für die Beilegung des Konfliktes predigen. Eine befriedigende Alternative für die Beendigung der israelischen Besatzung des palästinensischen Landes und für die Unterdrückung des palästinensischen Volkes gibt es nicht. Erst wenn das palästinensische Volk in Würde und Freiheit in einem unabhängigen Staat lebt, kann von einem Ende dieses Konflikts gesprochen werden.
Doch gehen wir an dieser Stelle einen Schritt zurück. Die Zwei-Staaten-Lösung ist kein neues Konstrukt, sondern sie entstand bereits 1947. In diesem Jahr beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung des historischen Palästinas in zwei Staaten und zwar in einen jüdischen und einen arabischen. Dieser von Europa initiierte Beschluss basierte auf den Lehren des Zweiten Weltkrieges und zielte auf die Schaffung eines Raumes für die Entstehung eines jüdischen Staates. Diese Tatsache verdeutlicht, dass der Grundgedanke der Zwei-Staaten-Lösung primär in israelischem Interesse liegt.
Die Erwartung, mit dieser Teilung die Region zu befrieden, erfüllte sich nicht. Stattdessen brachte sie den bis heute währenden Konflikt hervor. Denn der kurz danach ausgerufene Staat Israel besetzte mit allen ihm zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln weiter palästinensisches Land und vertrieb gewaltsam die palästinensische Bevölkerung aus ihrer Heimat. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzte Israel das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem und kontrolliert seitdem das gesamte historische Palästina. Nach 1967 modifizierten verschiedene UN-Resolutionen die Zwei-Staaten-Lösung, auch hier wieder ohne palästinensische Einbindung. Der zukünftige Staat Palästina soll nun auf den restlichen 22 Prozent des historischen Palästinas gegründet werden. Bereits hier zeigt sich, dass Israel mit Gewalt Tatsachen geschaffen hat, die von der internationalen Gemeinschaft kommentarlos und ohne Rücksicht auf den UN-Teilungsplan von 1947 sowie das Völkerrecht akzeptiert wurden.
Einseitige Parteinahme und Tatenlosigkeit führte zur Verdrängung des Nahostkonfliktes. Stattdessen wurde Israel als angeblich einzige Demokratie des Nahen Ostens hofiert und die völkerrechtswidrige Besatzung stillschweigend hingenommen. Dagegen wurden die Rechte des palästinensischen Volkes ignoriert sowie ihr Widerstand lapidar als terroristisch verurteilt. Besonders dem Landraub und der Siedlungspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen, die auf Untergrabung der Zwei-Staaten-Lösung zielen, wurden von der Weltgemeinschaft leider nur mit verbaler Kritik begegnet. Es fehlen wirksame Mittel und Instrumente in der westlichen Politik, um dieser zerstörerischen Politik Israels endgültigen Einhalt zu gebieten.
Auf die politische Bühne gelangte der Konflikt wieder mit der ersten Intifada 1987. Es war die Zeit, in der Israel sich als der Goliath zeigte und die Welt den wahren Charakter der israelischen Besatzung erkannte. Sechs Jahre später, 1993, kam es zur Unterzeichnung der Osloer Abkommen, welche nach einer fünfjährigen Interimszeit die Gründung des Staates in den Grenzen von 1967 vorsah. Doch die nachfolgenden Jahre verliefen alles andere als konstruktiv. Ein Abkommen löste das nächste ab, geprägt von neuen israelischen Bedingungen und Forderungen. Es war ein wohlbedachtes Ablenkungsmanöver der israelischen Seite, um die für 1999 angesetzte Ausrufung des Staates Palästina zu verhindern. Auch hier war die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage, Israel für seine Missachtung und seine Verstöße gegen Abkommen zur Rechenschaft zu ziehen. Ermutigt durch die Passivität annektierte Israel weiter palästinensisches Land, vergrößerte seine Siedlungen und zerstörte zahlreiche Entwicklungsprojekte. So leben heute im Vergleich zum Beginn der Friedensgespräche mehr als doppelt so viele Siedler im Westjordanland. Bis heute kontrolliert Israel über 60 Prozent des Territoriums, eine zerrissene Fläche, in der die palästinensische Bevölkerung in kleinen Enklaven leben muss. Wenn Israel unter den Augen der internationalen Gemeinschaft seine Politik der Besatzung fortsetzt, dann existiert in naher Zukunft kein Verhandlungsgegenstand „Land“ mehr.
Fakt ist, dass die israelische Besatzung völkerrechtswidrig und damit illegal ist. Fakt ist auch, dass das internationale Recht, die UN-Charta und zahlreiche UN-Resolutionen sowohl die Besatzung verurteilen als auch das Recht der Palästinenser auf Selbstverwirklichung in einem eigenen Staat betonen. Doch wir müssen einsehen, dass dieses Wissen uns an dieser Stelle nicht weiterhilft. Um die israelische Besatzung endgültig zu beenden, müssen heute wirksame Maßnahmen ergriffen werden. Der Antrag auf Aufnahme als Beobachterstaat in die Vereinten Nationen, die Präsident Mahmud Abbas am Donnerstag einreichen wird, ist so eine Maßnahme. Es ist der letzte Versuch, die Zwei-Staaten-Lösung zu retten. Als vollwertiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird die bestehende Asymmetrie aufgelöst, es stehen sich dann zwei Gleichberechtigte gegenüber. Die Anerkennung als Staat impliziert auch die klare Festsetzung der Grenzen. Israel besetzt nicht die palästinensischen Gebiete, die die israelische Regierung als „umstrittene“ Gebiete betrachtet, sondern Israel besetzt einen völkerrechtlich anerkannten Staat.
Diese neue Voraussetzung gibt uns allen die Möglichkeit, Verhandlungen auf eine fundierte völkerrechtliche Basis zu stellen. Wir bewegen uns in einem völlig abgesicherten rechtlichen Rahmen, nämlich im Rahmen des Völkerrechts und des internationalen Rechts. Mit dem Antrag haben wir uns von der Tatenlosigkeit befreit und sind auf Grundlage ergebnisorientierten Handelns auf der Zielgeraden zur Zwei-Staaten-Lösung. Eile ist geboten. Das haben insbesondere die jüngsten Ereignisse im Gazastreifen gezeigt. Seit 2007 hat Israel eine mehr als unwürdige Blockade verhängt, die ein Leben dort unerträglich macht. Kinder leben in ständiger Angst vor Bedrohung und Gewalt, die Menschen können sich nicht entfalten und auch die wirtschaftliche Entwicklung bleibt dem Gazastreifen gänzlich versagt. Die Freiheit des einen ist die Freiheit des anderen. Diese altbekannte Wahrheit müssen die israelischen Regierungsvertreter in ihren Köpfen verankern und ihre Besatzung unverzüglich beenden. Nur wenn das palästinensische Volk in seinem eigenen Staat leben kann, erlangt Israel auch Frieden für sein Volk.
Salah Abdel Shafi