Streit um Zahl der Stasi-IM: Wer gehört in die Statistik – und wer nicht?
Über die Zahl der früheren Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der Stasi ist unter Forschern ein Streit entbrannt. Warum gehen die Ansichten so weit auseinander – und welche Folgen hat das?
Ein Ermittlungsverfahren gegen Gregor Gysi im Zusammenhang mit einer eidesstattlichen Erklärung des Linkspartei-Fraktionschefs hat die breite Öffentlichkeit jüngst wieder auf das Thema Stasi aufmerksam gemacht. In Kreisen von Wissenschaft und Forschung schlägt indes ein viel grundsätzlicheres Thema große Wellen: In seinem Buch „Stasi konkret“ stellt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk unter anderem die bisherigen Forschungen zu Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in Frage. Er bezweifelt, dass ihre Zahl tatsächlich so groß war, wie in den Veröffentlichungen der Stasiunterlagenbehörde (BStU), die als Standardwerke der Stasi-Aufarbeitung gelten, bislang dargestellt.
Besonders pikant dabei ist, dass Kowalczuk selbst wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Jahn-Behörde ist und mit seinem – außerhalb der Behörde veröffentlichten, aber von dieser genehmigten – Buch nun einen heftigen Streit im Haus ausgelöst hat, zumal Kowalczuk die Fakten aus seinem Manuskript vorab nicht mit anderen Mitarbeitern der Behörde abglich.
Kowalczuk beruft sich darauf, dass die Stasi selbst noch 1989 die IM-Kategorien „Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“ (GMS) und die „Inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens“ (IMK) nicht in die IM-Übersicht eingerechnet habe. Das würde bedeuten, dass es statt der bislang immer genannten 189 000 IM nur rund 109 000 gegeben hätte. Es gebe gute Gründe dafür, die zwei IM-Kategorien außen vor zu lassen, sagte Kowalczuk dem Tagesspiegel. So würden sich hinter IMK oft gar keine wirklichen inoffiziellen Mitarbeiter verbergen, sondern zum Beispiel hauptamtliche Mitarbeiter, die Wohnungen für konspirative Treffs unter einer falschen Identität anmieteten. Auch seien viele IM doppelt erfasst worden. So seien bei seinen konkreten Nachforschungen zu 117 IMK aus Berlin-Prenzlauer Berg am Ende lediglich fünf übrig geblieben, die tatsächlich als IM gezählt werden könnten.
Kowalczuk stellt auch den Sinn der Zählung von GMS infrage. So seien manche ehemalige Kaderleiter oder Abschnittsbevollmächtigte (ABV) der Polizei als solche geführt worden, andere aber nicht, obwohl sie die gleichen Aufgaben wahrnahmen. „Nicht jeder, der IM war, hat Verrat begangen, und viele, die nicht IM waren, müssten im Nachhinein als Verräter eingestuft werden“, sagte Kowalczuk. Er bezweifelt auch die Zahl von 1500 West-IM, die von der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) geführt worden sein sollen. Diese Zahl sei „hoch spekulativ“, weil nahezu alle Unterlagen der HVA vernichtet worden seien und sich diese Zahl vor allem aus Hochrechnungen ergebe. Hier würden „aus Vorgängen reale Personen rekonstruiert“. Indem er die Fragen zur Rolle der Stasi im allgemeinen und der inoffiziellen Mitarbeiter im besonderen neu stelle, wolle er „die Uhren der Forschung nicht auf Null stellen, aber bestehende Blockaden wissenschaftlich überwinden“.
Kritik an Kowalczuks Forschung
Bestimmte Fragen seien bislang einfach noch nicht gestellt worden. Er schließt sich selbst nicht aus, wenn er die bisherige Stasi-Forschung kritisch betrachtet. „Ich war selbst Teil des Problems“, sagt Kowalczuk. Dass er mit seinen neuen Forschungen die Rolle der Stasi verharmlose, weist er allerdings vehement zurück. „Die großen IM-Fälle von Prominenten haben weithin das öffentliche Bewusstsein für diese Thematik geprägt“, sagt er.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei aber damals eine ganz andere gewesen: „Die Stasi war ein wichtiges, aber nur ein Strukturelement des Herrschaftssystems. Das Bild wird in der Geschichtsbetrachtung verzerrt. Die SED muss wieder an Platz 1 gesetzt werden. Es handelte sich um eine SED-Diktatur und nicht um eine Stasi-Diktatur.“ Insofern gibt er den Vorwurf der Verharmlosung zurück: Die Fixierung der DDR-Aufarbeitung auf die Stasi verharmlose die Rolle der SED.
Der von den Vorwürfen Kowalczuks besonders betroffene Behörden-Forscher Helmut Müller-Enbergs, der sich seit zwei Jahrzehnten mit dem IM-Thema befasst und Autor der Standardwerke dazu ist, sagte dem Tagesspiegel auf Anfrage: „Ich habe von den neuen Zahlen des Behördenforschers Dr. Kowalczuk aus der Zeitung erfahren. Eine innerbehördliche Diskussion vor Veröffentlichung ist mir unbekannt.“ Darüber hinaus sei er zu keinem weiteren Kommentar bereit.
In der Behörde selbst sind viele auf Kowalczuk sauer – wegen seines Alleingangs und wegen angeblicher Fehler in seinem Buch. So wird in Forscherkreisen betont, dass bereits aus der Publikation „IM-Statistik 1985 - 1989“ aus dem Jahr 1993 unmissverständlich hervorgehe, dass das MfS selbst in seinen Jahresausarbeitungen insgesamt alle sechs IM-Kategorien – einschließlich der von Kowalczuk in Frage gestellten – berücksichtigt habe.
Der Leiter der Stasiunterlagenbehörde, Roland Jahn, reagierte gelassen auf die Auseinandersetzung: „Es ist gut, wenn Wissenschaftler bisherige Forschungsergebnisse hinterfragen. Wir brauchen die Freiheit der Wissenschaft, auch in der Erforschung der Tätigkeit der Staatssicherheit in der SED-Diktatur“, sagte er dem Tagesspiegel. „Zahlen, so wichtig sie sind, sind kein Dogma“, bekräftigte er. Es gehe zudem um mehr als um das Hinterfragen der Zahlen. „Mir ist es ein Anliegen, das Thema Staatssicherheit qualitativ und konkret zu betrachten und damit Kategorien wie Denunziation, Verrat, Anpassung, Verhalten in der Diktatur zu beschreiben. Es geht nicht darum, ,Stempel zu verteilen’, sondern differenziert die Geschichte der SED-Diktatur zu betrachten“, sagte Jahn. Intern hält die Behörde aber offenbar am bisherigen Forschungsstand fest. Am vergangenen Montag erhielten alle Mitarbeiter eine entsprechende schriftliche Mitteilung der Behördenleitung.
Matthias Schlegel