Große Koalition: Wer darf jetzt regieren - und wer nicht
Erst wollten Merkel, Seehofer und Gabriel das Ergebnis der SPD-Basis abwarten, dann gemeinsam die Regierung verkünden. Doch am Freitagabend ging plötzlich alles sehr schnell und das Kabinett zeigt erste Konturen.
Es ist kalt im Hof des alten Postbahnhofs, und trotzdem treten sich die Journalisten dort die Füße platt. Im Licht der Scheinwerfer stehen Andrea Nahles und Barbara Hendricks vor Kameras. Eigentlich wollen die SPD-Generalsekretärin und die Schatzmeisterin der Partei bei dem Termin am frühen Abend die rege Beteiligung am Mitgliedervotum über die große Koalition preisen. 335 500 von knapp 475 000 Genossen haben mitgemacht. Es war ja auch ein großes Versprechen der Sozialdemokraten, den Koalitionsvertrag in den Mittelpunkt zu stellen und das Personal erst später zu regeln.
Doch seit gut einer Stunde ist klar: Der schöne Plan ist ein bisschen schief gegangen – der Plan, die Basis für ihr Ja zu feiern, die einfachen Parteimitglieder als Herren der Politik zu inszenieren und ihnen die ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist eigentlich ja auch wenig überraschend an einem Freitag, dem 13.
Seit um 17 Uhr 53 die dpa-Meldung „(Eil ) ,Bild': Steinmeier wird Außen-, Maas Justizminister" über den Ticker ging, ist schnell die Besetzung aller SPD-Ministerien bekannt und unter der Hand auch vielfach bestätigt. Ja, Frank-Walter Steinmeier, bisher Fraktionschef, kehrt ins Auswärtige Amt zurück. Ja, Heiko Maas, bislang Vizeministerpräsident im Saarland, übernimmt das Justizressort. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat natürlich nicht abgewartet, bis ausgezählt war. Er hat in vielen Telefonaten seine Mannschaft zusammengestellt, und er hat die Kandidaten informiert.
Glückwünsche werden nicht angenommen
Andrea Nahles ist auch eine Kandidatin – das Arbeitsministerium, wenig überraschend. Die Noch-Generalsekretärin im Hof der „Station“, wie der Veranstaltungsort sich nennt, kommt gerade noch dazu, die rege Beteiligung an dem Mitgliedervotum als „ganz hervorragendes Ergebnis" und als Zeichen dafür zu loben, wie lebendig die SPD im 150. Jahr ihres Bestehens sei. Da wird sie schon nach dem Personaltableau gefragt. „Dazu gebe ich keinen Kommentar", sagt sie knapp. „Ich nehme auch keine Glückwünsche an." Barbara Hendricks nimmt auch keine Glückwünsche an. Sie soll Umweltministerin werden.
Aber erst einmal muss auch sie noch in den Hallen des Backsteinbaus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts demonstrieren, wie die eigens georderten Briefschlitzmaschinen vom Typ OL 1000 plus in der Nacht die vielen Kuverts auffräsen werden - 20.000 je Stunde schafft jeder der Hochleistungsapparate. Der Slogan des Herstellers lautet: „Wenn die Post so richtig abgehen soll.“
Dann geht es hinüber in die große „Bananenhalle“ - sie heißt so wegen ihres gebogenen Grundrisses -, wo von ein Uhr am Samstagmorgen an die ersten von 400 sozialdemokratischen Freiwilligen aus der ganzen Republik die Voten auszählen werden. Gelbe und schwarze Postkisten stehen auf den sauber ausgerichteten Tischen, daneben liegen schon die grünen Fingerlinge aus Gummi, damit sich keiner verzählt, weil zwei Stimmzettel womöglich zusammenkleben.
Geregelt bis ins letzte Detail: Die Auszählung der SPD-Stimmen
Zwei Wochen hat die Republik gewartet auf das Ja der Sozialdemokraten, zwei Wochen politischen Stillstand hat das größte Land Europas ertragen. Da soll nicht noch mehr schief gehen als die Bekanntgabe der Namen der sozialdemokratischen Minister. Alles ist geregelt: Wenn ein Auszähler sich in der Kantine stärken will, muss er sich abmelden, sein Platz wird neu besetzt. Mobiltelefone und Kameras müssen die Freiwilligen ohnehin abgeben, nichts soll vorzeitig nach außen dringen. Auf den Betonboden sind sogar weiße Pfeile aufgeklebt, damit die Wagen mit den Abstimmkisten nicht miteinander kollidieren. Um Mitternacht, so ist es ausgemacht, soll der Lastwagen aus Leipzig ankommen, der in knallroten Plastikkisten den Willen der Partei enthält.
Dass sich der gelbe LKW im Nachhinein als politischer Bombentransporter erweisen könnte, weil die Basis mehrheitlich Nein gesagt hat, mag sich keiner vorstellen. Einen Plan B, so versichert Nahles, gibt es nicht. Gabriel hat auch keinen. Er hätte sich ja sonst noch ein bisschen Zeit lassen können mit der Ministerriege. So wie zum Beispiel Angela Merkel. Oder Horst Seehofer. Der CSU-Chef ist gerade am idyllischen Tegernsee, wo sein bayerisches Kabinett sich in Klausur begibt, als ihn die sozialdemokratischen Neuigkeiten aus Berlin erreichen. Seehofer sagt, dass er auch schon „in etwa“ wisse, wie die künftige christsoziale Riege in Berlin aussehen werde, es werde da auch personell keine Überraschungen geben. Aber verkünden – öffentlich verkünden werde das die CSU genau so wie die CDU erst am Sonntagabend um 18:30 Uhr in parallelen Pressekonferenzen.
Ronald Pofalla wird nicht mehr dabei sein
So haben sie das ja auch vereinbart, Merkel, Seehofer und Gabriel am Donnerstag im Kanzleramt. Merkel will sich ebenfalls daran halten, jedenfalls vorerst. Aber das ist auch so ein Plan, der sich vielleicht von selbst erledigt. Denn je später dieser Freitagabend wird, desto deutlicher nimmt der Unionsteil des Kabinetts ebenfalls Formen an. Sie fallen überraschend aus. Und sie erklären, weshalb Merkel gar keine Zeit hätte, sich über das sozialdemokratische Vorpreschen zu ärgern, wenn sie das denn wollte.
Denn Ronald Pofalla wird in der nächsten Regierung fehlen. Pofalla hat Merkel als Generalsekretär den erfolgreichen Wahlkampf aus der letzten großen Koalition organisiert und ihr dann vier Jahre lang als Kanzleramtschef den Rücken frei gehalten. Das ist ein Streßjob im Hintergrund, für den niemand öffentliche Dankbarkeit erwarten darf; seit Pofalla mitten im Wahlkampf mit stoischer Miene die NSA-Ausspähaffäre klein gehalten hat, ist er zum Buhmann der Internet-Gemeinde und zum Gespött der Kabaretts geworden. Jetzt will er aufhören. Persönliche Gründe.
Merkel hat ihn zu halten versucht, am Freitag haben die beiden noch einmal geredet. Pofalla hätte Innenminister werden können, wenn er gewollt hätte. Merkel wollte sich das Amt von der CSU zurückholen. Die Bayern sind mit drei Ministerien ohnehin üppig bedient, gemessen an ihrer bundesdeutschen Größe; zwei „klassische“ Ministerien, also das wichtige Innen- und das finanzstarke Verkehrsministerium dazu wären vielleicht ein bisschen zu viel des Bayerischen.
Aber Pofalla packt seine Sachen. Erst mal raus aus der Politik. Spätere Rückkehr ist damit ja nicht ausgeschlossen. In Brüssel ist zum Beispiel immer mal wieder ein wichtiger Posten zu besetzen. Damit ist dann übrigens auch ziemlich klar, wer als nächster in das Büro schräg gegenüber dem Kanzlerzimmer einziehen wird. Peter Altmaier ist ja nun frei, wenn die SPD das Umweltressort besetzt. Auch er ist wie Pofalla ein alter Merkel-Vertrauter aus dem Kreis der schwarz-grünen „Pizza Connection“. Altmaiers freundlich-einnehmendes Kommunikationstalent in der Regierungszentrale werden sie vielleicht noch brauchen können, die künftigen Koalitionäre.
Wird das Umweltministerium unter Hendricks ein "Streichelzoo?"
Wobei – wenn es so etwas wie eine erste Kontur für diese künftige Regierung gibt, dann lässt sich vielleicht so viel schon sagen: Sie versucht zumindest vom Start weg, vermeidbare Konflikte klein zu halten. Wolfgang Schäuble wird bleiben, was er ist, der Herr des Geldes und, als weitaus dienst- und lebensältester, der Doyen des Kabinetts. Thomas de Maizière bleibt Verteidigungsminister – er und Steinmeier haben sich schon während der Koalitionsverhandlungen fast blind verstanden, Veteranen aus Merkels erster großer Koalition. In der Außen- und der noch wichtigeren Europapolitik also herrscht Kontinuität.
Aber auch ein zweites potenzielles Konfliktfeld ist weitgehend bereinigt. Dass die Energiewende so recht nicht voran gekommen ist, lag nicht zuletzt am ewigen Gezerre zwischen CDU-Umweltministern und dem FDP-Chef im Wirtschaftsministerium.
Das hat sich jetzt gründlich erledigt. Die Energiewende wird SPD-Terrain. Gabriel bekommt als Wirtschaftsminister die Federführung für die Energie dazu. Und was das Umweltministerium noch dazu beitragen könnte, soll die Nordrhein-Westfälin Hendricks verwalten. Die ist wiederum eine enge Vertraute der nordhrein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Chefin eines Landes, in dem Energie-Industriepolitik schon traditionell ganz weit oben auf der Agenda steht. Ob Hendricks im Umweltressort mehr als ein „Streichelzoo-Ministerium“ bleibt, wie das ein Parteifreund süffisant nennt, ist noch unklar, aber fürs große Ganze vermutlich egal.
Nicht egal fürs große Ganze ist, dass Sigmar Gabriel jetzt im Grunde Politik aus einem Guss machen kann. Wenn er Erfolg hat, kann der 54-Jährige für seine Partei eine Kompetenz zurückholen, deren Fehlen er auf dem Parteitag in Leipzig als ein großes Manko der SPD beschrieben hatte: die Wirtschaftskompetenz.
In erfolgreichen sozialdemokratischen Kabinetten, darin wird er sich im Jahr des 100. Geburtstags von Willy Brandt und des 95. Geburtstags von Helmut Schmit erinnert haben, gab es immer ein herausragenden Kabinettsmitglied, dem die Wähler zutrauten, dass er die Konjunktur in Deutschland am Laufen hält. Merkel dürfte dieser Teil der Kabinettsbildung übrigens nicht allzu schwer gefallen sein. Soll sich doch der SPD-Chef damit beschäftigen, die Mehrheit der SPD-regierten Länder zu domestizieren: das Kohleland NRW, das Windrad-Küstenland Niedersachsen oder zum Beispiel die Bayern, denen ein gewisser Horst Seehofer gelegentlich schon mal die Energie-Autarkie versprochen hat. Soll sich doch der SPD-Chef vor Öko-Demonstranten stellen und mit den Grünen anlegen, die zwar auch nicht so genau wissen, wie die Energiewende gehen soll, das aber jedenfalls gerne besser.
Große Chancen für Sigmar Gabriel und Risiken. Falls die SPD-Mitglieder es so wollen jedenfalls. Am Samstag wird der SPD-Chef das Urteil der Basis verkünden. Alle werden ihn nach dem Kabinett fragen. Dazu wird er dann wohl sagen, dass das am Sonntag veröffentlich wird.