Habeck zur Ukraine-Krise: „Wer bei einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, macht sich schuldig“
Der Wirtschaftsminister hat im Bundestag die Waffenlieferung an die Ukraine verteidigt. Russland warf er eine „Vergewaltigung“ der Ukraine vor.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Kehrtwende der Bundesregierung in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt. In einer Rede im Bundestag warf der Vizekanzler am Sonntag Russland eine "Vergewaltigung" des Nachbarlands Ukraine vor.
"Wer bei einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, macht sich schuldig", sagte der Grünen-Politiker. Mit der Zusage von Waffenlieferungen zeige Deutschland, "dass wir der Ukraine helfen in dieser Stunde der militärischen Vergewaltigungsnot".
In der Debatte sagte Habeck, er empfinde Hochachtung vor einer "Position des unbedingten Pazifismus". Er fügte aber hinzu: "Ich achte sie, aber ich halte sie für falsch." Der russische Überfall auf die Ukraine erfordere konkrete Gegenmaßnahmen.
Der Wirtschaftsminister kündigte "Schutzmaßnahmen" für Wirtschaftsbereiche an, die ganz besonders von den Sanktionen gegen Russland betroffen sind - "ähnlich, wie wir es in der Corona-Pandemie gemacht haben".
Zudem werde die Bundesregierung rasch Schritte einleiten, um die "hohe energiepolitische Abhängigkeit von russischen Öl-, Gas- und Kohleexporten" zu verringern. Sie werde "zeitnah" ein Gesetz vorlegen, das darauf abzielen soll, die Gasspeicher in Deutschland voll zu halten, sagte Habeck. Der "Hochlauf" von Wasserstofftechnologie und erneuerbaren Energie solle engagiert umgesetzt werden.
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Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilte den russischen Angriff auf die Ukraine scharf und bezeichnete ihn als weitgehende Zäsur. „Wir erleben eine Zeitenwende“, sagte der SPD-Politiker am Sonntag in einer Sondersitzung des Bundestags. „Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
Im Kern gehe es um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gestattet werden könne, die Uhren in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen. „Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“, betonte Scholz. „Wir müssen Putin von seinem Kriegskurs abbringen.“
Die Bundeswehr brauche angesichts dieser Zeitenwende „neue, starke Fähigkeiten“, sagte Scholz. Er kündigte an, dass ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Investitionen und Rüstungsvorhaben bereitgestellt werde. Zugleich sagte er zu, Deutschland werde „von nun an - Jahr für Jahr - mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“.
Maßstab müsse sein, dass alles getan werde, was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht werde. „Klar ist: Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen“, sagte Scholz. Das Ziel sei eine leistungsfähige, hochmoderne und fortschrittliche Bundeswehr.
Er forderte alle Fraktionen des Bundestags auf, das Sondervermögen im Grundgesetz abzusichern. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will den Haushalt für 2022 am 9. März dem Kabinett vorlegen. Scholz betonte, die Anhebung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung passiere nicht nur, weil man es Alliierten versprochen habe. „Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit.“
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Der Bundesfinanzminister Christian Lindner zeigte sich zur Aufnahme neuer Schulden bereit. Die Debatte über die Stärkung der Wehrfähigkeit sollte nicht geführt werden „mit der Warnung vor neuen Schulden“, sagte Lindner am Sonntag im Bundestag. Die von der Bundesregierung geplanten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr seien „in dieser Weltlage zunächst Investitionen in unsere Freiheit“.
„100 Milliarden Euro, das ist eine enorme Summe Geld“, sagte Lindner. Er bekräftigte, dass die Bundesregierung an ihrem Ziel festhalte, die Schuldenbremse wieder einzusetzen. Die Bundeswehr-Investitionen sollten nicht aus dem laufenden Haushalt, sondern aus einem Sondervermögen finanziert werden, das im Grundgesetz festgeschrieben werden soll, sagte er. Verwendungszweck sei „nur und ausschließlich die Stärkung unserer Bündnisfähigkeit“.
Scholz bekennt sich zur Beistandspflicht der Nato
Kanzler Scholz betonte in seiner Rede auch die Entschlossenheit, Artikel 5 der Nato zu achten. Es müsse verhindert werden, dass der Krieg auf andere Länder übergreife. „Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unserer Beistandspflicht in der Nato“, sagte Scholz. „Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen.“
Deutschland sei bereit, Luftabwehrraketen zur Verteidigung des Luftraums „der Alliierten in Osteuropa“ zur Verfügung zu stellen und sich an der Verstärkung der Nato-Truppen in der Slowakei zu beteiligen.
Mehr Unabhängigkeit von russischem Gas
Um sich von russischem Gas unabhängig zu machen, kündigte Scholz den schnellen Bau von zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) in Deutschland an. Der Kanzler nannte als Standorte Brunsbüttel und Wilhelmshaven. Außerdem solle eine Kohle- und Gasreserve aufgebaut werden.
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Ein LNG-Terminal, in dem heute Gas ankomme, könne morgen auch grünen Wasserstoff aufnehmen, sagte Scholz. Zwar gibt es in der EU viele Terminals für Flüssigerdgas (LNG), das etwa aus den USA oder Katar kommt - aber bisher kein eigenes in Deutschland. Planungen dafür gibt es seit längerem, die Gasbranche beklagte aber unzureichende Rahmenbedingungen für Investitionen. Als Standorte für ein LNG-Terminal waren Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven im Gespräch.
Scholz dankt allen, die für Freiheit und Demokratie demonstrieren
Der ukrainischen Bevölkerung sprach der Kanzler Mut zu. Deutschland stehe „an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen“, sagte Scholz. „Wir wissen, Sie sind viele. Ihnen allen sage ich: Geben Sie nicht auf!“ Er sei sich „ganz sicher“, dass Freiheit, Toleranz und Menschenrechte sich in Russland durchsetzen würden.
Gleichzeitig würdigte Scholz den Einsatz all jener Kräfte in Russland, die gegen das Handeln des russischen Machthabers Wladimir Putin protestiert haben. „Das erfordert großen Mut und wahre Tapferkeit“, sagte Scholz. Diese Menschen hätten „Verhaftung und Bestrafung in Kauf genommen“. Viele Bundestagsabgeordnete erhoben sich daraufhin von ihren Plätzen und applaudierten lange.
Linkspartei gibt Fehler zu
Er dankte auch den deutschen Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gehen. „Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen: Gegen Putins Krieg - und die sich hier in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln.“ Er danke allen, die für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa einstünden. Scholz betonte, was von einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens getragen werde, habe Bestand auch über die derzeitige Zeitenwende hinaus.
Die Fraktionschefin der Linkspartei, Amira Mohamed Ali, räumte im Anschluss an die Rede des Kanzlers ein, ihre Partei habe „die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben“. Sie betont im Bundestag: „Putin ist hier der Aggressor.“ Auch die Linkspartei stehe geschlossen an der Seite der Ukraine. Aber die Folge könne jetzt nicht sein, dass aufgerüstet werde. Hochrüstung und Militarisierung werde die Linkspartei nicht mitmachen. (Tsp, AFP, dpa, Reuters)