Laschets Attacke zielt auch auf Merkel: Wenn „Inzidenzdiskussionsorgien“ gefährlich werden
„Nicht neue Grenzwerte erfinden“ – Armin Laschet überzieht im Ton, richtige Punkte an die Adresse der Kanzlerin bringt er trotzdem. Ein Kommentar.
Angela Merkel erlebt ein Déjà-vu. Was im vergangenen Frühjahr die von ihr so genannten „Öffnungsdiskussionsorgien“ waren, droht mit Macht zurückzukommen - und wieder in Form auch von Armin Laschet.
Damals war die Lage allerdings eine andere. Als der erste Lockdown im Mai auf Druck der Ministerpräsidenten gelockert wurde, lag die Zahl der Neuninfektionen bei 8,8 je 100 000 Einwohner in sieben Tagen.
Aktuell liegt sie bei knapp 60.
Nun hat er beim baden-württembergischen Landesverband des CDU-Wirtschaftsrats quasi gegen Inzidenzdiskussionsorgien zur Abwehr von Öffnungen gewettert. „Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet“ - und: „Wir können unser ganzes Leben nicht nur an Inzidenzwerten abmessen.“ Man könne Bürger nicht behandeln wie unmündige Kinder. Das zielt alles auch irgendwie auf die Kanzlerin und Debatten um Ziele wie "Zero Covid". Aber die Worte sind von einem, der die Bund/Länder-Beschlüsse mitgetragen hat, Gift für das Vertrauen der Bürger in die Coronapolitik.
Der Streit um Grenzwerte, um Konzepte wie Zero Covid ist richtig, auch um Merkels per TV-Interview verkündete Verschärfungen mit zwei Wochen Warten auf weitere Lockerungen nach der Öffnung des Handels bei 35 Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern in sieben Tagen. Zumal viele Bürger Laschets Kritik teilen.
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Er agiert aber etwas populistisch und erklärt, was er meint, zu wenig, wenn er von erfundenen Werten spricht. Die Zahl von 35 Neuinfektionen je 100 000 Tage in sieben Tagen steht im von Laschet mitgetragenen Infektionsschutzgesetz, als Puffer für Sonderlagen, wie eben das Aufkommen gefährlicher Mutationen. Allerdings in sehr verquaster Form. Und Laschet macht seinen Unmut zu einem Zeitpunkt Luft, als die Zahlen sich nicht weiter nach unten entwickeln - es könnte ein erstes Indiz sein, dass die Verbreitung der ansteckenderen Mutationen messbaren Niederschlag findet.
Laschet betont im Nachgang, er stehe zur 35, aber dann müsse es klare Lockerungsschritte geben, es gehe hier auch um Glaubwürdigkeit.
Der Kampf um die Kanzlerkandidatur
Die Attacke zeigt aber deutlich, welche Probleme der Dualismus zwischen Kanzlerin und (vielleicht) Kanzlerkandidat noch heraufbeschwören kann. Während Markus Söder sich in Merkels Team „Umsicht und Vorsicht“ sieht, tut das Laschet durchaus auch, aber wenn es die Lage erlaubt, will er schnell auf kontrollierte (Lockerungs)-Offensive umschalten.
Seit seiner Kür zum CDU-Chef ist die Union in Umfragen leicht gefallen. Aber Laschet ist stringent in seiner Linie: Grundrechtseingriffe muss man gut begründen, genau abwägen und keine Tag länger als geboten aufrechterhalten.
Es ist eine höchst problematische Konstellation, dass die Pandemiebekämpfung im Wahljahr zunehmend politisiert wird. Die SPD will sich im Impfstreit gegen die Union profilieren - und der neue CDU-Chef Laschet kämpft um die Kanzlerkandidatur.
Dafür braucht er auch ein gutes CDU-Ergebnis bei der Wahl am 14. März in Baden-Württemberg. Und hier pochen viele auf baldige Öffnungen auch der vom Lockdown betroffenen Branchen, damit Schäden nicht noch größer werden.
Testen und nochmal Testen, muss die Devise lauten
Auch von Experten wird die Fixierung nur auf Inzidenzwerte zunehmend in Frage gestellt. Und es drohen juristische Niederlagen, wenn starke Grundrechtseinschränkungen fortgeführt werden, aber die Zahlen sinken.
Laschet hat da einen Punkt, wenn er auf angemessene Abwägungen pocht, so wie er auch frühzeitig die gewaltigen Schäden für die Kinder durch die Corona-Lockdowns ins Feld geführt hat.
In der ersten Welle wurde viel zu spät - auch mangels Verfügbarkeit - auf Maskenpflichten gesetzt, daher ist es ein Fortschritt, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nun kostenlose Schnelltests für alle ankündigt. Der Bund sollte hier richtig klotzen, sie können vorsichtige Öffnungen viel besser absichern, solange nicht genug Impfstoff da ist. Testen und nochmals Testen, zuerst in Schulen und Kitas, muss nun die Devise lauten.
Merkels misslungene Kommunikation
Und Laschet hat noch einen Punkt: Die Kommunikation zum Inzidenzstrategiewechsel ist miserabel und nicht abgestimmt.
Der Fehler, gerade auch von Merkel: Die Kommunikation, dass wegen der Mutationen die Zahl von 35 die neue Grenze für Lockerungen sein soll, statt der über Monate propagierten 50er-Inzidez, war schlecht vorbereitet, und TV-Auftritte von ihr vergrößerten die Verwirrung noch. Dann heißt es, für die Öffnung des Handels soll die Inzidenz drei bis fünf Tage unter 35 liegen, für weitere Öffnungen legte Merkel im ZDF heute-journal plötzlich die Latte auf zwei Wochen hoch.
So gibt es ein Durcheinander, das Bürger, Unternehmer und Gewerbetreibende kaum durchblicken, der Frust wächst. An so einem Punkt gegen- statt miteinander zu agieren, ist brandgefährlich - der Ausweg aus dem Lockdown erfordert einen klaren, von allen getragenen und Hoffnung machenden Plan, kein Krawall.