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Donald Trump, Präsident der USA
© Evan Vucci/AP/dpa

US-Verfassungsgericht befasst sich mit Wahlmännern: Wenn Freiheit ins Chaos führen kann

In den USA wird Präsident, wer von einer Mehrheit der 538 Wahlmänner gewählt wird. Sind diese frei in ihrer Entscheidung? Das könnte gravierende, ja absurde Konsequenzen haben.

Das kann passieren (wahrscheinlich ist es nicht): Am 3. November erhält Joe Biden 4,2 Millionen Stimmen mehr als Donald Trump. Dennoch sieht es zunächst danach aus, als könne Trump im Weißen Haus bleiben, weil er eine knappe Mehrheit von 271 der 538 Wahlmänner (und -frauen) bekam. Denn in Amerika wird derjenige Präsident, der die meisten Wahlmänner hinter sich vereint. Es ist keine direkte, sondern eine indirekte Wahl.

Doch nun kommt’s: Bei der Zusammenkunft der 538 Wahlmänner, dem „electoral college“, wechseln vier aus dem Trump-Lager die Seiten und stimmen für Biden. Ist ihre Stimme dann ungültig, weil sie ein imperatives Mandat haben? Oder ist in diesem Fall Biden, mit einer Mehrheit von 273 zu 267 Stimmen, zum Präsidenten gewählt worden?

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Was wie ein reiner Exkurs in Demokratietheorie klingt, ist in seinen potenziellen praktischen Konsequenzen hochbrisant und beschäftigte am Mittwoch das oberste amerikanische Gericht, den Supreme Court. Die Argumente hörten die neun Richter in einer live übertragenen Telefonanhörung. Denn die Angst vor dem Coronavirus ist auch hier zu spüren.

Ruth Bader Gisnburg ist 87 Jahre alt

Zwei der Obersten Richter zählen aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen zur Hochrisikogruppe: Die 87-jährige Ruth Bader Ginsburg war erst vor kurzem wegen einer Entzündung der Gallenblase im Krankenhaus und hat schon vier Krebserkrankungen überlebt, Stephen G. Breyer wiederum ist 81 Jahre alt. Vier weitere Verfassungsrichter sind älter als 65 Jahre – John G. Roberts Jr., Clarence Thomas, Samuel A. Alito Jr., Sonia Sotomayor. Die Richter werden vom Präsidenten auf Lebenszeit ernannt und müssen vom Senat bestätigt werden. Trump hat bereits zwei der Posten neu besetzt.

In der Geschichte der USA wurden bislang rund 23.000 Wahlmännerstimmen abgegeben, nur 165 davon (also weniger als ein Prozent) hielten sich nicht an die Partei-Vorgaben, sondern waren „faithless“ oder „nonconforming“. Den Wahlausgang hat das noch nie entschieden. Aber es könnte ihn entscheiden. Im Jahr 2000 etwa gewann George W. Bush gegen Al Gore mit nur einer Wahlmännerstimme Vorsprung. Und vor vier Jahren sprangen immerhin sieben Wahlmänner aus dem Pro-Trump-Lager ab (37 wären nötig gewesen, um das Ergebnis zu verändern).

Was also sind die Wahlmänner? Bloße Vollstrecker des Mehrheitswillens in den einzelnen Bundesstaaten? Oder sind sie frei in ihrem Votum? Das System wurde eingeführt, weil die amerikanischen Gründungsväter ein gewisses Misstrauen hegten gegen die „irrationalen Leidenschaften des Volkes“, dem Naivität und Verführbarkeit unterstellt wurde.

Die Zeiten sind verrückt geworden

Die sogenannten „originalists“ unter den Obersten Richtern, die eine wörtliche Auslegung der Verfassung über deren historisch-kritische Interpretation stellen, müssten demnach an der Unabhängigkeit und Ungebundenheit der Wahlmänner festhalten.

Aber gefährdet das nicht die amerikanische Demokratie? Wozu noch wählen gehen, wenn durch eine einzige Stimme der Wille der Mehrheit ignoriert, ja in sein Gegenteil verkehrt werden kann? Bislang waren Wahlmänner brave, lang gediente und zuverlässige Parteisoldaten, von denen keine Rebellion zu erwarten war. Aber die Zeiten sind verrückt geworden. Das erhöht das Abtrünnigen-Risiko.

Das Chaos-Vermeidungs-Argument hatte bei der Anhörung großes Gewicht. Falls wirklich einmal das Votum der Wahlmänner das Ergebnis einer Wahl in sein Gegenteil verkehren sollte, stünde die Hälfte der Republik Kopf, hieß es. Doch wie heißt es so schön? Das Urteil wird mit Spannung erwartet.

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