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Mohnblütenkränze an Kriegsdenkmälern sind in Großbritannien Tradition.
© AFP

Großbritannien und der Erste Weltkrieg: Wenn Erinnerung in Identität übergeht

Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg spielt in Großbritannien schon immer eine große Rolle. Im Gedenkjahr sollen die Briten dadurch auch lernen, wer sie als Nation sind.

Die Briten wollen sich beim Gedenken an den Ersten Weltkrieg von niemandem übertreffen lassen. Premierminister David Cameron steckte das Ziel hoch, als er vor zwei Jahren das Gedenkprogramm ankündigte: Man wolle das Fundament dafür legen, „dass die Opfer und der Dienst von vor hundert Jahren auch in hundert Jahren noch im Gedächtnis haften“. Cameron will ein Gedenken, das ausdrückt, „wer wir als Volk sind“, und das in „jedem Winkel des Landes das Bewusstsein der Nation in Bann schlägt“.

2500 Stunden Programm in der BBC

50 Millionen Pfund darf das kosten. Soldatenfriedhöfe werden gehegt. Das Imperial War Museum zeigt eine neue Dokumentation des verheerenden Stellungskrieges. Schulen erhalten Geld für Bildungsprogramme und dürfen jeweils zwei Schülervertreter zu den Gedenkstätten auf den Schlachtfeldern Europas schicken. Die BBC hat 2500 Stunden neue Dokumentarprogramme über den Krieg vorbereitet, der mehr als alles „uns, unsere Familien, unsere Gemeinschaften, unsere Welt geprägt hat“, wie BBC-Generaldirektor Tony Hall erklärte. Das Nationalarchiv veröffentlicht 1,5 Millionen Seiten aus Soldatentagebüchern im Internet. Neue Münzen werden geprägt: Die erste im Wert von zwei Pfund zeigt den damaligen Kriegsminister Lord Kitchener mit dem Aufruf: „Dein Land braucht dich.“

Eine Münze mit Kitchener

Kritiker fehlen nicht. In der Münze sehen manche eine „Neuauflage des imperialen Jingoismus“. Leitartikler des „Guardian“ fragen gelegentlich, ob man nicht einmal „mit Reife und Respekt sagen könnte, genug ist genug“, wenn es ums Erinnern geht. Aber seit bald hundert Jahren steht auf den Kränzen, die am „Remembrance Day“ am 11. November niedergelegt werden, das Mahnwort: „Lest we forget“ - damit wir niemals vergessen. Es stammt aus einem Gedicht von Rudyard Kipling, dem Dichters des britischen Weltreichs, das noch heute im Lehrplan steht. Auf taube Ohren stößt Deutschlands Wunsch nach „weniger deklamatorischen Feiern“, die den Akzent lieber auf die friedensstiftenden Wirkungen der europäischen Staatengemeinschaft legen sollten, wie der der Londoner Botschaftssprecher Norman Walter der „Daily Mail“ sagte. Doch als Deutscher, belastet vor allem vom Erbe des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts, begreift man erst langsam, wie tief der Erste Weltkrieg das kollektive Bewusstsein der Briten prägt. Er ist der "Great War" geblieben. An ihn denkt, angeführt von der Queen, Jahr für Jahr die Nation am "Cenotaph", dem Denkmal für den Unbekannten Soldaten in London. Es gibt eine landesweite Schweigeminute und überall werden rote Mohnblumenkränze niedergelegt.

Kollektiver Schrecken

Die Kriege des 20. Jahrhunderts waren für die Briten wie für alle Europäer epochale Katastrophen. Dass sie auf der „richtigen Seite“ kämpften und unter den Siegern waren, ändert nichts an dem kollektiven Schrecken, der ihnen bis heute in den Knochen sitzt. Aber es macht es leichter, an diesem Gedächtnis festzuhalten. Seit 2009 der letzte Weltkriegsveteran gestorben ist, der als „letzter Tommy“ wie eine Zeitikone verehrte Harry Patch, „geht die Erinnerung in Identität über“, wie der Leiter des Thinktanks „British Future“, Sunder Katwala, es formuliert. Und wenn nur 13 Prozent der Briten den Beginn des Ersten Weltkriegs richtig nennen – dass es immer gegen Deutschland ging, ist 80 Prozent der Befragten klar. Ereignisse wie der erste Luftangriff auf England im Januar 1915 lösten einen Schock aus, der das DNA einer Nation prägt. Zwei Zeppeline konnten ihre Militärziele am Humberside wegen schlechtem Wetter nicht erreichen und warfen ihre Brandbomben stattdessen auf die Städte Great Yarmouth und Kings Lynn. Samuel Adam Smith war der erste britische Zivilist, der bei einem Luftangriff getötet wurde.

Der Krieg veränderte die Gesellschaft

An solche Ereignisse wird man in den nächsten Jahren denken. Man wird die Spuren beschreiben, die der große Krieg in der Gesellschaft hinterließ. Er brachte in den Schützengräben Offiziere mit messerscharfen Oberklasse-Akzenten und Cockneys aus dem Londoner Osten zusammen. So wurde nicht nur das Ende der aristokratischen Gesellschaftsordnung eingeleitet, sondern ein Ende des Untertanengeists, der Aufbruch der Gesellschaft in die Moderne eingeleitet. Dass Frauen im Krieg Krankenschwestern, Munitionsarbeiterinnen und Busschaffner wurden, führte zu Frauenwahlrecht und Frauenemanzipation. William Tull, gefallen im März 1918, war der erste schwarze Offizier der britischen Armee.

Der Erste Weltkrieg leitete das Ende des britischen Imperialismus ein. Aber es begann damals auch die Umwandlung des Weltreichs in einen "Commonwealth" zusammenstehender Länder. Eine große Gedenkstunde am 4. August wird in Glasgow stattfinden, wo die "Commonwealth Games", das große Sportfest, den Nationenbund zusammenbringen.

Versöhnung ohne Schuldzuweisungen

„Gedenken, nicht feiern“, sei das Motto, betont die Regierung. Es wird würdig zugehen, wenn am 4. August mit einem Gebetsgottesdienst in der Westminster Abbey des Kriegsausbruchs mit dem Verlöschen einer Friedenskerze gedacht wird. Mittelpunkt einer anderen „Feier“ ist der Soldatenfriedhof St. Symphorien bei Mons in Belgien, wo gleich viel deutsche und britische Soldaten liegen. „Versöhnung ist das Thema der Veranstaltung“, betonte das Komitee, das den Premiers beriet. „Schuldzuweisungen“ sollen ausdrücklich keine Rolle spielen. Wenn es doch eine „propagandistische“ Absicht gibt, dann vielleicht die, eine in Großbritannien verbreitete Ansicht zu widerlegen, der Krieg sei ein Debakel imperialistischer, moralisch gleichwertiger Eliten gewesen, bei dem tapfere Soldaten, sinnlos auf den Schlachtfeldern geopfert wurden. Es ist eine Geschichtsauffassung, die von Fernsehkomödien wie Rowan Atkinsons "Blackadder" mit Liebe aufgegriffen wurde. So wird das Gedenkjahr auch politisiert. „Lieber gar keine Feier als etwas, das die modische Legende bestätigt, dass der Krieg es nicht wert war, geführt zu werden“, schrieb der Kolumnist Rod Liddle vor über einem Jahr schon in der „Sunday Times“ – ein Punkt, den der britische Bildungsminister Michael Gove vor kurzem in einer Polemik gegen „linke“ Geschichtsschreiber wiederholte. Der Oxforder Historiker Sir Hew Strachan, Mitglied des Gedenkkomitees, ging noch einen Schritt weiter: „Dies ist ein Krieg, von dem die Briten glaubten, dass sie in führen mussten und den sie gewonnen haben. Ich glaube nicht, dass das Gedenken das Feiern ganz verdrängen sollte.“

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