Neues Buch über Rechtspopulismus: Wenn die Moral der Macht dient
Was, wenn die kosmopolitischen Mittelschichten nicht so altruistisch sind, wie sie tun? Cornelia Koppetsch macht bestürzende Entdeckungen über ihre Funktion.
Kaum jemand hat die Lebenslügen der Kosmopoliten in jüngster Zeit radikaler und lustvoller aufgespießt als Cornelia Koppetsch. Die Darmstädter Soziologin vertrat in Interviews die These, dass die Freunde offener Grenzen oft selbst gut gesichert sind gegen die Folgen von Flüchtlingszuzug. Hohe Mietpreise schirmen die Wohnquartiere der urbanen, kreativen Mittelschicht ab. Ihre Kinder lernen in ausgesuchten Schulen ohne Migranten. Auch die penibel verteidigte politisch korrekte Sprache, exklusive Restaurants und Freizeiteinrichtungen sichern die Abgrenzung von sozial schwächeren Milieus.
Was wie eine böse Karikatur klingt, ist wissenschaftlich gut begründet, wie das neue Buch von Koppetsch zeigt. In "Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter" geht es der Soziologin nicht um den Finanzadel als Gewinner der Globalisierung oder dessen Opfer am unteren Ende der sozialen Skala, die sie beide für gut erforscht hält. Sie nimmt die Funktion der kosmopolitischen Mittelschichten in den Blick und kommt zu dem Schluss, dass diese die Durchsetzung jenes kapitalistischen Systems stützen, dem viele von deren Vertretern eigentlich kritisch gegenüberstehen.
Wie funktioniert das gut getarnte Zweckbündnis? Laut der Autorin verlagert sich die Wertschöpfung in der globalisierten Wirtschaft von Industriearbeit hin zu Kreativität, Flexibilität, Innovation und Wissen - Eigenschaften und Ressourcen, über die nur die urbane Mittelschicht verfügt. "Die postindustrielle creative class bevorzugt einen experimentellen Lebensstil in urbanen Zentren", schreibt Koppetsch. Der kommt lässig und cool daher, setzt in Wirklichkeit aber dauernde und eiserne Lernbereitschaft und Selbstdisziplin voraus. Bildung und Kultur finden mit dem Aufstieg der Wissensökonomien Anschluss an kapitalistische Verwertungslogiken. Die kulturellen Sphären verlieren ihr widerständiges, herrschaftskritisches Potenzial.
Kosmopolitische Milieus, so argumentiert die Autorin, gewinnen an Hegemonie, wo sich Grenzen öffnen. Ihre Lebensformen definieren heute den "Geist" des Kapitalismus, während das traditionelle Klein-, Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum an Bedeutung verliert. Die "Machtverlagerungen" durch Globalisierungsprozesse sind Ausgangspunkt sozialer Auseinandersetzungen um Lebensstile und Deutungshoheiten.
Es ist ein kühner, aber überzeugend hergeleiteter Gedanke, zu dem die Autorin schließlich gelangt: Die weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwischen Kosmopoliten und Konservativen sind „Herrschaftskonflikte“. Nur sehen die Vertreter der urbanen, für kulturelle Veränderung und Zuwanderung offenen Mittelschicht das meist nicht, sie sind "blind für die soziokulturelle Standortgebundenheit und die Machtdimension ihrer gefühlt selbstverständlichen Ansichten". Dass sie mit diesem Befunden einen der zentralen Anklagepunkte der AfD gegen die übrigen Parteien und die Medien bestätigt, thematisiert Koppetsch nicht.
Wo die einen mit Inbrunst ein Bleiberecht für Flüchtlinge, Gleichberechtigung für jedwede sexuelle Orientierung sowie Gender-Toiletten fordern, nehmen die anderen nur wahr, dass ihre gewohnte Existenzform zurückgedrängt und abgewertet werden soll. Der kulturelle Liberalismus ist für Koppetsch in den westlichen Gesellschaften zur "herrschenden Ideologie" geworden - mit Lehrern, Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern, Ökonomen und Bankern als Verteidigern einer vermeintlich alternativlosen Politik, die der Mehrheit erklären, was zu tun und gefälligst zu lassen sei.
Einflussreiche Akteure lassen den Zusammenhalt der Gesellschaft erodieren
Die Aufwertung bestimmter Milieus, die Abwertung anderer in diesem Veränderungsprozess ist Ursache für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, deren Anhänger die Kosmopoliten und die von diesen vorangetriebene Überwindung aller Grenzen bekämpfen - in der Sprache von Koppetsch: den "transnationalen Kapitalismus" bekämpfen. Die Anhänger des Rechtspopulismus, sie sehnen sich nach begrenzten Räumen, fürchten den Verlust überlieferter Familien- und Geschlechterbilder genauso wie den von Heimat.
Stattdessen erleben sie, dass die Vertreter des postindustriellen Bürgertums, das ständig an sich selbst arbeitet und sich optimiert, sie als moralisch minderwertig, weniger kultiviert, weniger gesundheitsbewusst und weniger selbstdiszipliniert aussortiert und von den einflussreichen, machtvollen Positionen fernhält. Daraus erwächst der "Zorn", auf den der Titel dieser Untersuchung hinweist. Gegen dieses in kühlem Ton geschriebene, mit soziologischem Vokabular gespickte Buch lässt sich einwenden, dass seine Autorin sich nicht groß dafür interessiert, ob die Versprechen und Thesen der Rechtspopulisten den gesellschaftlichen Diskurs vergiften, der Demokratie schaden oder Gewalt gegen Menschen rechtfertigen und fördern.
Das stimmt. Doch neutral ist sie nicht in diesem Konflikt. Sie will ein gesellschaftliches Ganzes wiederherstellen, das nach ihrer Ansicht immer weiter zerstört wird. Sie untersucht von einem linken, Kapitalismus-kritischen Standpunkt aus die gesellschaftliche Dynamiken, die Rechtspopulisten stark machen - in den USA genauso wie in Europa und in Deutschland. Cornelia Koppetsch liefert eine plausible Erklärung dafür, warum vermeintlich liberale, sehr einflussreiche gesellschaftliche Akteure den Zusammenhalt in westlichen Gesellschaften erodieren lassen und damit erbitterten Widerstand provozieren.
Im vergangenen Jahr hat Timo Lochocki mit dem Buch "Die Vertrauensformel" ein Standardwerk und eine wichtige Handlungsanleitung zur Eindämmung der AfD vorgelegt. "Die Gesellschaft des Zorns" verfolgt einen anderen Ansatz, ergänzt Lochockis Buch aber sehr gut und geht darüber hinaus. Entstanden ist ein gelehrtes Aufklärungswerk über die Wurzeln des Rechtspopulismus, das zugleich einen Überblick über das soziologische Weltwissen darüber liefert, wie radikal sich westliche Gesellschaften in der Globalisierung verändern.
Nicht zuletzt beweist dieses Buch, dass eine Vertreterin der akademischen Elite in Deutschland durch selbstständiges, unerschrockenes Denken und Forschen die Selbsttäuschungen ihres eigenen Milieus hinter sich lassen kann. Darin liegt eine große Ermutigung - und die Aufforderung an Leserinnen und Leser, ihr ins Freie zu folgen.
Hans Monath
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