US-Luftangriffe im Nordirak: Wende im Konflikt mit den IS-Terroristen?
Die US-Luftangriffe halfen, viele der im Sindschar-Gebirge eingeschlossenen Jesiden zu retten. Doch wie ist die Lage in der nordirakischen Region?
Etwa 20000 der in das 1300 Meter hohe Sindschar-Gebirge im Nordirak geflüchteten und dort eingeschlossenen Jesiden sind gerettet worden. Eskortiert von kurdischen Peschmerga-Milizen konnten sie sich auf der gegenüber liegenden Seite der Bergkette in das rund 20 Kilometer entfernte Syrien und von dort zurück auf irakisches Kurdengebiet retten. Die Menschen stehen unter Schock und sich völlig am Ende ihrer Kräfte. Ein Teilziel der US-Luftangriffe auf die immer weiter vordringenden dschihadistischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) wurde damit erreicht – doch eine Befriedung des Irak liegt noch in weiter Ferne.
Wie ist die Lage in der nordirakischen Region?
Die pure Verzweiflung stand ihm im Gesicht. Als der irakische Hilfshubschrauber wieder abhob, klammerte sich der junge Mann an das Maschinengewehr in der offenen Seitenluke. Zwischen Erde und Himmel zerrte ihn die Besatzung schließlich ins Innere, einer von zwei Dutzend geretteten Jesiden an Bord, während unten tausende panisch gestikulierender Menschen auf den kargen Felsen zurückbleiben mussten. Seit einer Woche sind nach Schätzung der Vereinten Nationen mindestens 50000 Jesiden vor den anrückenden IS-Brigaden aus der Niniveh-Ebene in das Sindschar-Gebirge geflohen. Hier gibt es kaum Sträucher und Bäume, tagsüber brütet eine Hitze von 40 Grad Celsius. 56 Kinder sind laut Unicef bereits verdurstet. Zehntausende haben seit Tagen nichts mehr gegessen oder getrunken, während in der Nacht zu Freitag endlich die internationale Hilfe anrollte. Seitdem operieren drei US-Transportmaschinen über den Bergen, die bisher mehr als 30000 Mahlzeiten und Wasserkanister abgeworfen haben. In der Nacht zu Sonntag erreichten zwei britische Militärmaschinen das Notstandsgebiet, die auch Zelte, Solarlampen und Panels zum Aufladen von Handys abwarfen. Hilfsflüge aus Frankreich sind ebenfalls gestartet.
Nach wie vor jedoch kontrollieren IS-Kommandos die Asphaltstraßen auf irakischer Seite des 60 Kilometer langen Gebirgszuges. US-Kampfjets und Drohnen griffen am Wochenende erstmals auch die IS-Belagerer von Sindschar an und nahmen Artillerie-Stellungen unter Feuer, von denen auf Flüchtlinge geschossen worden war. Nach Augenzeugenberichten, die „Human Rights Watch“ zitiert, haben IS-Krieger mittlerweile hunderte jesidischer Frauen gekidnappt und auf Lastwagen in ihre syrischen Herrschaftsgebiete verschleppt. Ihre Männer wurden offenbar hingerichtet.
Welche Rolle spielen die kurdischen Peschmerga?
Sie tragen seit Wochen die Hauptlast beim Schutz der Flüchtlinge vor den vorrückenden IS-Milizen. Allerdings hatten die Peschmerga vor einer Woche die Jesiden innerhalb von Stunden vor den anrückenden IS-Extremisten im Stich lassen müssen. Am Wochenende nun konnten sie ihre Positionen an den wichtigsten Zufahrtsstraßen zur kurdischen Regionalhauptstadt Erbil verteidigen.
„Mit so etwas hat niemand gerechnet“, erklärte Kenneth M. Pollack von der Brookings Institution, der die jüngsten Niederlagen der Kurden als „ausgesprochen erschreckend“ bezeichnete. „Das sind nicht mehr Peschmerga der 60er und 70er Jahre“, sagte der ehemalige CIA-Analytiker dem „Time“-Magazine, als die Kurden jahrelang gegen Saddam Hussein und die Türkei gekämpft haben. Kurdistan habe sich dramatisch verändert. „Die furchtlosen Bergburschen, die mit der Schusswaffe groß geworden sind, gibt es nicht mehr.“ Die Kurden von heute lebten bequem in den Städten. Sie seien seit zwei Jahrzehnten nicht mehr in den Krieg gezogen. „Was ihnen fehlt, ist die bedingungslose Hingabe, die die Peschmerga früher auszeichnete.“ Offiziell gehören heute 35000 Kurden zur irakischen Armee, weitere 80000 Peschmerga sind der autonomen Regionalregierung unterstellt.
Die irakische Regierung versorgt die Peschmerga-Milizen nach Angaben aus US-Regierungskreisen mit Munition. Die US-Regierung sei mit der irakischen Regierung bemüht, weitere Anfragen der Kurden-Regierung etwa nach Sturmgewehren und Mörsern, so schnell wie möglich zu erfüllen.
In Deutschland wird kontrovers über Waffenlieferungen an die Peschmerga diskutiert. Während der frühere BND-Chef August Hanning Waffenexporte an die militärisch unterlegene Peschmerga forderte, sind die meisten Politiker sehr zurückhaltend. Dabei führen sie nicht nur die strengen deutschen Rüstungsexportrichtlinien an, die Lieferungen in Spannungsgebiete verbieten. Verwiesen wird auch auf politische Risiken einer solchen Aufrüstung in einer Region, die ohnehin hoch gerüstet ist. Nach Ansicht des Grünen-Außenpolitikers Omid Nouripour würden mehr Waffen das entscheidende Defizit der Kurdenmilizen nicht aufheben, denen nach Ansicht von Analytikern die Fähigkeit fehlt, Gebiete zu erobern. Nicht zu vergessen ist auch, dass auf Seiten der Kurden viele Angehörige der PKK kämpfen, die in der EU und in den USA nach wie vor auf der Terrorliste steht. Auch über den Umgang mit deutschen Islamisten, die in die Krisenregionen Syrien und Irak reisen, wird in der Politik heftig diskutiert.
Sind die US-Angriffe völkerrechtlich gedeckt?
Als der damalige US-Präsident George W. Bush im Frühjahr 2003 ohne Rückendeckung des UN-Sicherheitsrats in den Irak einmarschierte, wurde ihm der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen. Bei den von seinem Nachfolger Barack Obama angeordneten Luftangriffen ist die Rechtslage anders: Der Irak hatte die USA um Unterstützung im Kampf gegen die Extremistengruppe Islamischer Staat (IS) gebeten. Die irakische Regierung sowie Verantwortliche aller Bevölkerungsgruppen und Parteien hätten den Einsatz angefragt, sagte US-Außenamtssprecherin Marie Harf. Im Völkerrecht wird dies als „Intervention auf Einladung“ bezeichnet. „Das ist das Prinzip, das hier greift“, sagte Harf. Die rechtliche Debatte innerhalb der USA dreht sich allein um die Frage, ob Obama die Zustimmung des Kongresses benötigt. Ähnlich wie das State Department sieht es auch SPD-Vizefraktionschef Rolf Mützenich: „Nachdem der Sicherheitsrat zu der gemeinsamen Auffassung kam, dass die Bedrohung der Flüchtlinge und des gesamten Iraks eine Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft ist und die irakische Regierung konkrete Hilfe angefordert hat, ist das begrenzte amerikanische Engagement gerechtfertigt und vertretbar.“
Sind als Reaktion der Islamisten Terrorangriffe zu befürchten?
Geheimdienstexperten sind laut „Washington Post“ besorgt darüber, dass Kämpfer der mit IS verfeindeten Terrororganisationen der Al Qaida im Jemen und in Afrika begonnen hätten, zu den IS-Dschihadisten überzulaufen. Die direkte Konfrontation mit den USA könnte die IS-Miliz in dieser Hinsicht sogar stärken, denn sie hebt ihr Ansehen bei den Islamisten, heißt es. Das gelte besonders, wenn sie Siege erringen sollte. Charles Lister, Mitarbeiter am Brookings Doha Center in Katar, erklärt über den Kurznachrichtendienst Twitter, die Gruppe habe durch die US-Angriffe „massiv an Legitimität gewonnen“. Wohl auch deshalb will sich US-Präsident Barack Obama nicht in einen richtigen Krieg mit der Terrormiliz hineinziehen lassen. mit AFP/dpa