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Ein bewaffneter Soldat steht vor einem Regierungsgebäude auf der Krim.
© Reuters

Krisenherd Ukraine: Wem gehört die Krim?

Russisch oder ukrainisch? Ganz vergessen wird beim Krim-Konflikt eine dritte Volksgruppe - die Tataren. Sie machen etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus. Nur wer sie versteht, versteht die Krim.

Für Mustafa Dschemilew ist die Sache ganz klar. Er sagt: „Wir sind bereit, die Krim mit Gewehren zu verteidigen. Die Krim, die Ukraine und unsere Rechte.“ Er schreit nicht, er regt sich nicht auf, er sagt das einfach so, als ob es selbstverständlich wäre.
Dschemilew wirkt nicht wie ein Krieger. Nicht wie jemand, der die Menschen mitreißt. Er ist klein und dünn, mit ernstem Blick und einem Gesicht, das kaum Gefühle verrät. Vielleicht verdeckt er seine Emotionen auch mit dem Qualm der Zigaretten, von denen er eine immer zwischen seinen Fingern hält. So stellt man sich wohl einen sowjetischen Dissidenten vor. Das war er auch. 15 Jahre verbrachte Dschemilew in sowjetischen Gefängnissen, im Gulag hat er mit dem Friedensnobelpreisträger und Dissidenten Andrej Sacharow gesessen.
Heute ist der 71-jährige Mustafa Dschemilew ein geschätzter Menschenrechtler und Politiker. Vor allem aber ist er ein Krimtatar. Seine Nationalität hat sein Leben bestimmt – und sie erklärt alles. Auch warum er, der Nicht-Ukrainer, sein Leben für die Ukraine riskieren würde. Und das vielleicht sogar entschlossener als die hiesigen Ukrainer.

Im Krim-Konflikt, der die Welt seit Tagen in Atem hält, scheint die ethnische Minderheit der Krimtataren auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle zu spielen – das Augenmerk des Westens konzentriert sich auf Moskaus militärische Störaktionen, auf die künstlich angeheizten Spannungen zwischen Kiewer Zentralregierung und der Regionalverwaltung in Simferopol, auf die Interessenkonflikte zwischen Ukrainern, Russen und russischsprachigen Ukrainern.

Russland mehr verbunden als Kiew

Doch die Tataren sind eine Minderheit, mit der gerechnet werden muss auf der Krim. Sie stellen 15 Prozent der Bevölkerung. Sie sind politisch gut organisiert; ihre Geschichte hat sie dazu gezwungen. Sie könnten zwischen russischen und ukrainischen Interessen zum Zünglein an der Waage werden, wie sie es schon bei vergangenen Konflikten waren. Und schließlich stehen sie mit ihrer Geschichte geradezu modellhaft für jenes komplizierte ethnische Gebilde, das die Halbinsel im Süden der Ukraine jahrtausendelang war und bis heute ist. Man könnte sagen: Wer die Tataren versteht, versteht die Krim.
Tatsächlich fühlen sich viele Bewohner der Krim Russland mehr verbunden als Kiew, besonders jetzt, nach dem Machtwechsel in der Ukraine. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als russisch. Sewastopol etwa, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist und das direkt der Regierung in Kiew untersteht, ist ausschließlich russisch. Wer durch Sewastopol spaziert, sieht goldene Sowjetsterne und russische Fahnen, auf einem Hügel weit über der Stadt steht eine Kapelle für Afghanistan-Veteranen. Russland legt Wert auf seine Präsenz. 1993 erklärte die Duma in Moskau Sewastopol zu russischem Territorium.

Die Lage entspannte sich ein wenig, als Russland den Hafen 1997 für zunächst 20 Jahre pachtete. Doch im Sommer 2008, nach dem auch von Sewastopol aus geführten Georgien-Krieg, wurde es den Ukrainern ein wenig mulmig. Der damalige Staatspräsident Viktor Juschtschenko stellte sich öffentlich auf die Seite Georgiens und verkündete, er wolle den 2017 auslaufenden Pachtvertrag mit Russland nicht verlängern und der Nato beitreten. Daraufhin ließ Moskau verlauten, dass die russischen Atomraketen durchaus auch auf die Ukraine gerichtet werden könnten. Nach der Abwahl Jutschschenkos 2010 verlängerte sein Nachfolger Janukowitsch den Pachtvertrag mit den Russen um weitere 30 Jahre bis 2047.

Sie fühlen sich diskriminiert. Jeder zweite Krimtatar ist arbeitslos

Mustafa Dschemilew, 71 Jahre alt, ist gebürtiger Krimtatar.
Mustafa Dschemilew, 71 Jahre alt, ist gebürtiger Krimtatar.
© Agnieszka Hreczuk

Dass die Krim überhaupt zur Ukraine gehört, verdankt sie einem Verwaltungsakt, der ziemlich genau 60 Jahre zurückliegt. 1954 machte Nikita Chruschtschow aus der russischen eine ukrainische Provinz. Es ging darum, die Versorgung der im Krieg verwüsteten Ukraine mit Lebensmitteln und Energie möglichst effizient zu organisieren. Dafür musste die Krim von Kiew aus regiert werden. Nur jeder vierte Bewohner der Krim ist Ukrainer. Ethnisch gesehen ist die Krim von allen ukrainischen Regionen am wenigsten ukrainisch. Auf dieser autonomen Halbinsel, die mit 26 000 Quadratkilometern und knapp zwei Millionen Bewohnern etwas kleiner ist als Brandenburg, leben mehr als ein Dutzend unterschiedliche Nationalitäten zusammen. Bislang friedlich. In der Stadt Bachtschissaraj, wo Mustafa Dschemilew wohnt, ist fast jeder Zweite ein Tatar. Im ältesten Teil der Stadt ertönt die Stimme eines Muezzins über den Dächern. Die schönste Moschee befindet sich in einem prachtvollen Komplex, dem Khan-Palast. Einst war Bachtschissaraj die Hauptstadt der Krim – als das Gebiet noch tatarisch war.

Fast 200 000 wurden deportiert

Mehrere Jahrhunderte herrschten die Tataren über die Krim, bis 1783 Katharina die Große die Halbinsel eroberte. Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Tataren in der Mehrheit. Erst Stalin änderte dieses Bild komplett. Wegen des Vorwurfs der Kollaboration mit den Nazis wurden die Tataren 1944 aus der Krim deportiert, als Verräter und Feinde des Sowjetstaats. Tatsächlich hielten einige Tataren – nach den stalinistischen Repressionen vor dem Krieg – die Deutschen zunächst für Befreier. Manche waren sogar bei der Wehrmacht. Aber andere kämpften im sowjetischen Untergrund, einige in der Roten Armee.

Innerhalb von zwei Tagen wurden damals fast 200 000 Krimtataren deportiert. Die Hälfte kam während der Fahrt ums Leben. Tatarische Spuren wurden verwischt, Moscheen zerstört, Ortschaften umbenannt. Nur Bachtschissaraj durfte weiter unten tatarischem Namen existieren, dank des russischen Dichters Alexander Puschkin, der einst über Bachtschissaraj Gedichte schrieb.

„Sie haben nicht nur Menschen umgebracht, sondern auch unsere Identität“, sagt Dschemilew. Er ist noch auf der Krim geboren. Er war ein Jahr alt, als seine Familie nach Usbekistan deportiert wurde. In Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Sibirien kamen die nächsten Generationen auf die Welt, überall dort, wohin die Tataren zwangsumgesiedelt worden waren. Später begann Dschemilew, sich für sein Volk einzusetzen: Er sammelte tausende Unterschriften für Petitionen und er organisierte Demonstrationen der Krimtataren in Moskau. Denn obwohl die 1967 rehabilitiert worden waren, durften sie weiterhin nicht zurück.

Faschisten - das Wort taucht hier wieder auf

Nach der Deportation der Tataren waren neue Bewohner auf der Krim angesiedelt worden: ehemalige sowjetische Soldaten, überwiegend Russen. Sie zogen in die Häuser der Tataren ein, übernahmen ihr Land. Jahrelang hörten sie, die Krimtataren seien Verräter und Verbrecher. Faschisten. Auch im Februar 2014 ist diese Bezeichnung auf der Krim wieder zu hören. Gemeint sind damit die Tataren und alle europafreundlichen Ukrainer. Die sowjetische Propaganda überlebte das Imperium.

Als die Tataren schließlich doch zurück konnten, fühlten sie sich diskriminiert. Politisch, kulturell, wirtschaftlich. Jeder zweite Krimtatar ist arbeitslos. Die Sowjetunion habe die Tataren zwar rehabilitiert und die Ukraine die Deportationen für rechtswidrig erklärt, sagt Dschemilew. Eine Wiedergutmachung habe es aber bis heute nicht gegeben „Hätte der Staat die 80 000 konfiszierten Wohnungen zurückgegeben, hätten die Tataren keine Wohnungsprobleme. Hätten sie uns unser Land zurückgegeben, hätten wir keine Landprobleme. Hätten sie uns alle Schulen zurückgegeben, die uns mal gehörten und wo Tatarisch unterrichtet wurde, hätten wir keine Probleme mit der tatarischen Sprache“, sagt Dschemilew.

Die Ukraine ist das geringere Übel. Im Vergleich zu Russland

In Simferopol gibt es viele, die die ukrainische Opposition unterstützen. Etwa 15 000 Krimtataren waren dabei, als Ende Februar Menschen auf die Straße gingen, um für die EU-Annäherung und die neue Regierung zu demonstrieren. „Slawa Ukrainje, es lebe die Ukraine“ riefen sie, schwenkten die gelb-blauen ukrainischen Fahnen. „Krim ist die Ukraine!“ Dschemilew ist Abgeordneter der Partei von Julia Timoschenko, Batkiwschtschyna. An seiner Jackentasche steckt eine Stecknadel mit der ukrainischen Fahne. Seit Jahren bilden Krimtataren eine politische Allianz mit der prowestlichen Opposition in der Ukraine. Bei der letzten Wahl standen sie auf gemeinsamen Listen mit der Batkiwschtschyna, der Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“. Die Vereinbarung hatte Dschemilew, der krimtatarische Anführer, ausgehandelt mit Arsenij Jazenjuk, dem aktuellen Ministerpräsidenten und Alexandr Turtschynow, dem aktuellen Übergangspräsidenten.

Die Tataren wissen, dass sie immer wieder von den Mächtigen instrumentalisiert wurden. Als in den 90er Jahren die Separation drohte, sei die Krim bei der Ukraine geblieben, weil die Tataren loyal blieben, sagt Dschemilew. „Wir sind für die Politiker nur dann wichtig, wenn sie unsere Unterstützung brauchen.“ Trotzdem sei die Ukraine im Vergleich mit Russland das geringere Übel. Das Kriegstrauma ist noch lange nicht überwunden. „Da hat man keine Wahl als Krimtatar“, sagt Dschemilew. „Unsere Heimat darf nie wieder russisch werden.“

Sie verstehen sich als die einzigen Einheimischen

„Die Krim und der Tatar sind eins“, sagt Dschemilew. Sie selbst nennen sich oft einfach nur Krimtschanie, „die Krimer“, die Ur-Bewohner der Krim. Sie verstehen sich als die einzigen Einheimischen. „Die Krim haben wir im Blut. Nur hier sind wir wirklich daheim.“ So etwas Ähnliches sagt auch Leila Mamonova, Monate zuvor: „Die Aborigines der Krim sind wir.“ Beim Treffen in Simferopol wollte die 26-Jährige vom Alltag der Krimtataren erzählen. Damals war es noch ruhig, niemand sprach von Kampf oder gar Krieg. Leila Mamonova hat Internationale Beziehungen an der Uni in Simferopol studiert, Treffpunkt ist ihr Lieblingsrestaurant im Zentrum der Stadt. Es war die Zeit, in der sich das ukrainische Volk ein Abkommen mit der Europäischen Union erhoffte. Leila Mamonova, die als Stipendiatin auch schon im Ausland studierte, sah darin eine Chance für viele junge Menschen. In diesem Restaurant saßen am Nachmittag viele Leute. Es war das erste Lokal dieser Art in der Stadt, eines im tatarischen Stil. „Noch vor ein paar Jahren wäre kaum jemand hierhergekommen“, sagte sie. „Die tatarische Kultur wurde als minderwertig betrachtet. Doch jetzt finden das Restaurant auch die Ukrainer und Russen einfach cool.“

„Russland werden wir hier nie akzeptieren“

Leila Mamonova ist modern. Sie trägt einen Stiftrock, Stiefel, eine modische Tasche. Ihr Handy klingelt, sie nimmt es aus einem mit goldenen Fäden bestickten Etui. Handarbeit, nach tatarischer Tradition. Sticken hat sie in Simferopol gelernt. Vereine bieten Kurse an, wo die tatarische Sprache und Tradition gelehrt werden. Damals, bei diesem Treffen, war Leila Mamonova optimistisch. „Unter den jungen Menschen zählt nicht mehr, ob man Russe oder Ukrainer ist – oder Tatar“, versicherte sie. Sie selbst hatte gute Freunde sowohl unter den Russen als auch den Ukrainern. „Sie fühlen sich einfach als Krimer, Einheimische, unabhängig von der Herkunft“, sagte sie damals, „nur die Älteren glauben noch an Stereotype“.

„Nur in der Ukraine sehen wir unsere Zukunft“, sagt Leila Mamonova jetzt am Telefon. „Russland werden wir hier nie akzeptieren.“ Die Stimme der jungen Frau klingt hart. „Nicht wegen Nationalität oder Religion, sondern weil Russland eine ewige Diktatur ist.“

Am liebsten würde sie mit ihren Mitstreitern auf die Straße gehen, doch sie befürchtet, dass die Proteste wie in Abchasien enden könnten. Dort habe Putin doch ebenfalls nur einen Vorwand gesucht, um einzumarschieren. Eine solche Gelegenheit wolle man ihm nicht noch einmal bieten. „Wir gehen nicht auf die Straßen, weil wir hier keinen Krieg haben wollen.“

Mitarbeit: Sven Goldmann und Jens Mühling

Agnieszka Hreczuk

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