Überbietungswettbewerb der Angstszenarien: Weltkriegs-Apokalypse oder ein von Putin dominiertes Europa?
In der Debatte um Waffenlieferungen wird Frieden gegen Freiheit ausgespielt. Beide Positionen tendieren ins Extreme. Ein Kommentar.
Die Stimmung ist gereizt. Frieden oder Freiheit? Unversöhnlich scheinen die Lager, unversöhnbar die Gegensätze zu sein. Wer in der Friedensecke sitzt, wird als Pazifist und Putin-Versteher beschimpft.
Die in der Freiheitsecke gelten als Kriegstreiber, die eine unkontrollierbare militärische Eskalation riskieren, bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.
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Es darf nichts getan werden, was den Krieg in der Ukraine verlängert, sagen die Friedens-Apologeten und lehnen jede Art von Unterstützung, insbesondere Waffenlieferungen, ab.
Es muss alles getan werden, um Russland zu besiegen und die Souveränität der Ukraine wieder herzustellen, sagen die Freiheits-Verteidiger, auch wenn es Jahre dauern sollte.
Der apokalyptischen Vision eines dritten Weltkrieges steht diejenige eines von Putins Russland brutal dominierten Teils Europas entgegen.
Dieser Logik zufolge hätten die USA nicht in den Zweiten Weltkrieg eingreifen dürfen
Frieden oder Freiheit? Beide Prinzipien tendieren ins Extreme.
Wer gar nichts tun will, was die Gefahr einer Eskalation mit sich bringt, kapituliert vor der Gewalt.
„So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg“, schreiben prominente Unterzeichner eines Offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz, der am 22. April in der „Berliner Zeitung“ erschien.
Denn der ganz große Krieg – „nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation“ – müsse unbedingt verhindert werden.
[Auch auf tagesspiegel.de: Offener Brief an Scholz wegen Waffenlieferungen – Prominente warnen vor Gefahr eines dritten Weltkriegs]
Dieser Logik zufolge hätten die USA nicht in den Zweiten Weltkrieg eingreifen, sondern Europa der Hitler-Herrschaft aussetzen sollen. Wie unendlich zynisch ist es, die Toten, die der Kampf gegen den Faschismus zur Folge hatte, als zu hohen Preis für dessen Niederschlagung zu betrachten!
„Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden“
Wer hingegen alles tun will, um Putins Russland zu besiegen und für die Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen, muss sich fragen lassen, ob das stimmt.
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Bislang galt, es werde kein Nato-Soldat entsandt, keine Flugverbotszone eingerichtet. Immer wieder sucht der Westen die Balance aus dem Vorsatz, nicht Kriegspartei sein zu wollen, und der Möglichkeit, von Russland als Kriegspartei wahrgenommen zu werden.
Heute Schutzwesten, morgen Luftabwehrpanzer, was geht noch? Auch die Verteidiger von Demokratie, Souveränität und Freiheit erkennen Grenzen an, die von Kräfteverhältnissen und Eskalationsrisiken gesetzt werden.
Wie lässt sich ein Krieg gegen eine atomare Supermacht gewinnen? Wer fixiert ist auf die Möglichkeit des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, flieht in die Unfreiheit aus Angst vor der Irrationalität eines barbarischen Gegners.
„Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden“, beteuerten die fünf Sicherheitsratsmitglieder – USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien – im Januar in einer gemeinsamen Erklärung.
Keiner weiß, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Putin trotzdem die größte aller möglichen Dummheiten begeht.
Er möchte, dass die Menschen im Westen Angst davor haben. Deshalb muss der Westen lernen, diese Angst bis zu einem gewissen Grad auszuhalten. Frieden oder Freiheit? Beides hat seinen Preis.