Erste Runde der Präsidentschaftswahl: Welchen Weg nimmt Frankreich?
Mit Spannung schaut Europa auf die französische Präsidentschaftswahl am Sonntag. Vier Kandidaten haben eine realistische Chance auf den Einzug in die Stichwahl - es wird spannend.
Frankreich befindet sich im Ausnahmezustand. Das gilt nicht nur für den Notstand, der nach den Pariser Terroranschlägen vor eineinhalb Jahren verhängt wurde und bis heute Wohnungsdurchsuchungen ohne Richterbeschluss und den Hausarrest für mutmaßliche Dschihadisten möglich macht. Auch für die Politik lässt sich schon seit Längerem nicht mehr von einem Normalzustand sprechen. Wie ließe es sich sonst erklären, dass der amtierende Präsident François Hollande Ende des vergangenen Jahres einfach das Handtuch warf und erklärte, er werde bei der kommenden Präsidentschaftswahl gar nicht mehr antreten? Das hatte es zuvor in der seit 1958 bestehenden Fünften Republik noch nie gegeben: Ein amtierender Staatschef verzichtet auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit.
In dieser außergewöhnlichen Lage treffen die Franzosen an diesem Sonntag eine Vorentscheidung über ihr künftiges Staatsoberhaupt. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl wählen sie aus insgesamt elf Bewerbern jene beiden Kandidaten aus, die bei der Stichwahl am 7. Mai anschließend das Rennen unter sich ausmachen werden.
Mit einem einzigen Schlagwort lässt sich die Stimmung, mit der sich die Franzosen in die landesweit insgesamt 67.000 Wahllokale begeben werden, kaum zusammenfassen. Zu unterschiedlich sind die Motive der Wähler: Die einen sind beherrscht vom Gefühl des „Ras le bol“ („die Schnauze voll“), das diesmal zu einem nie dagewesenen Wahlerfolg der Extremen von Links und Rechts führen könnte. Für andere stehen wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund, und wieder andere werden angetrieben von der Hoffnung auf einen echten politischen Neubeginn.
Skandale, gebrochene Versprechen und politische Winkelzüge
Fest steht in jedem Fall, dass der Graben zwischen den Regierenden und den Regierten in Frankreich nie so tief war wie heute. Skandale, bereits vor dem Wahltag gebrochene Versprechen der Kandidaten und politische Winkelzüge – all dies habe das Vertrauen der Wähler in den vergangenen Monaten erschüttert, analysierte in dieser Woche die Zeitung „Le Monde“.
Wie tief der Riss zwischen der Bevölkerung und der Politik in Frankreich geht, hatte eine von der Zeitung in Auftrag gegebene Umfrage im vergangenen Herbst gezeigt. 57 Prozent der Befragten vertraten damals die Ansicht, dass die Demokratie schlecht funktioniere. Bei den Anhängern des Extremlinken Jean-Luc Mélenchon äußerten sich 66 Prozent entsprechend, bei den Wählern des rechtsextremen Front National (FN) waren es sogar 78 Prozent.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung erklärt auch zum Teil, warum der unbeliebte Hollande im vergangenen Jahr seinen Verzicht erklärte. Für den Sozialisten wurde in erster Linie die schlechte wirtschaftliche Lage seines Landes zum Verhängnis. Hollande erklärte zwar am vergangenen Donnerstag noch einmal, dass er das Land in einem besseren wirtschaftlichen Zustand hinterlasse als bei seinem Amtsantritt im Jahr 2012. Allerdings liegt Frankreichs Arbeitslosenquote von zehn Prozent immer noch über dem Durchschnitt der Euro-Zone. Da verwundert es nicht, dass sich trotz Hollandes Durchhalte-Parolen bei vielen Franzosen politische Apathie breitgemacht hat.
Anstelle von Hollande schicken die Sozialisten als Kandidaten den Parteirebellen Benoît Hamon ins Präsidentschaftsrennen. In den Umfragen landet Hamon aber nur abgeschlagen auf dem fünften Platz. Nach einer am Freitag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Sopra Steria verbucht der Sozialist nur einen Stimmenanteil von 7,5 Prozent.
Stattdessen sind es die laut Umfrage vier bestplatzierten Kandidaten, welche die Entscheidung über den Einzug in die Stichwahl unter sich ausmachen werden. An erster Stelle liegt der Sozialliberale Emmanuel Macron mit 24 Prozent, der mit der von ihm gegründeten Bewegung „En Marche“ („In Bewegung“) antritt. Damit liegt er zwei Punkte vor der Front-National-Chefin Marine Le Pen (22 Prozent). Gleichauf bei jeweils 19 Prozent liegen dahinter der radikallinke Kandidat Mélenchon mit seiner Bewegung „La France insoumise“ („das unbeugsame Frankreich“) und der Konservative François Fillon.
Unklar ist, ob der jüngste Anschlag die Wahl beeinflusst
Allerdings wurde die Umfrage vor dem jüngsten Pariser Terroranschlag durchgeführt, der zu einem Stimmen-Plus für Marine Le Pen führen könnte. Weil die Umfragewerte der Kandidaten so eng zusammenliegen, herrscht große Unsicherheit, denn verschiedene Faktoren könnten sich in der einen oder anderen Richtung auswirken. So ist Le Pens Wählerschaft höchst motiviert. Bis zu 90 Prozent der FN-Wähler sind laut Umfragen sicher, dass sie für Marine Le Pen stimmen wollen. Bei dem Mitte-Kandidaten Macron dagegen bewegen sich diese Zahlen nur bei 60 bis 70 Prozent. Zusätzlich kann sich die Zahl der Nichtwähler stark auswirken – allerdings weniger für Le Pen, da ihre Wählerschaft, vor allem viele Protestwähler, ihrem Ärger über die Politik Luft machen will.
Als künftiger Präsident Frankreichs war noch zu Jahresbeginn der Konservative Fillon gehandelt worden – bevor ihn eine Scheinbeschäftigungsaffäre um seine Frau Penelope Fillon traf. Trotz des Skandals gab sich Fillon wenige Tage vor der ersten Runde selbstbewusst. „Ich komme in den zweiten Wahlgang“, erklärte er. Tatsächlich könnte Fillon noch nicht am Ende sein. Experten vermuten, dass einige Fillon-Anhänger ihre wahren Wahlabsichten gegenüber den Meinungsforschern nach dem „Penelopegate“- Skandal nicht mehr zugeben.
Gründlich durcheinandergebracht hat das vordere Kandidatenfeld in den vergangenen Wochen Mélenchon, der nach einigen erfolgreichen Fernsehauftritten und Wahlveranstaltungen rapide in der Gunst der Franzosen gestiegen war. Mélenchon war schon 2012 bei der letzten Präsidentschaftswahl angetreten und mit 11,10 Prozent im ersten Wahlgang auf den vierten Platz gelangt.
Doch diesmal erwartet Mélenchon einen deutlich höheren Stimmenanteil. „Le Monde“ nannte seinen Vormarsch auf den letzten Metern des Wahlkampfs „spektakulär“. Offenbar macht sich auch in Frankreich nach dem Brexit und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten der Wunsch nach Veränderung immer mehr bemerkbar.
Wie ein Schreckgespenst steht damit plötzlich eine Stichwahl zwischen Mélenchon und Le Pen, zwischen extrem rechts und extrem links, im Raum. Dies wäre ein Finale von zwei Nationalisten, die gegen Europa ankämpfen. In einer Internet- Umfrage der Zeitung „Le Figaro“ hielten immerhin 33 Prozent der Befragten dieses Szenario für wahrscheinlich. Sogar Präsident Hollande machte gegen ein mögliches Duell zwischen Le Pen und Mélenchon bei Veranstaltungen mobil. Es ist sein letzter Kampf als Präsident.
Am wenigsten muss Emmanuel Macron befürchten
In den vergangenen Tagen verschärften die Kandidaten noch einmal ihre Tonlage. Le Pen hetzte gegen Immigration. Selbst der Pro-Europäer Macron kritisierte, dass Deutschland in der Handelsbilanz zu sehr von Europa profitiert. Dies müsse ausgeglichen werden, forderte Macron. Damit näherte er sich etwas mehr zahlreichen anderen Kandidaten an, die Deutschlands starke Rolle in Europa kritisieren.
Neben den vier Bewerbern im Spitzen-Quartett und dem aussichtslosen Sozialisten Hamon gibt es noch zahlreiche weniger bedeutende Kandidaten, die alle weit unter fünf Prozent in den Umfragen liegen. Darunter sind der Ultragaullist Nicolas Dupont-Aignan von „Debout la France“ („Das aufrechte Frankreich“) und der Rechtsnationalist François Asselineau sowie Nathalie Arthaud von Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf) und Philippe Poutou von der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) vom linken Spektrum. Außerdem kämpfen der Zentrumspolitiker Jean Lassalle und der Chef der ultrarechten Partei „Solidarität und Fortschritt“, Jacques Cheminade, um Stimmen.
Die Rechtsausleger Dupont-Aignan, Asselineau und Cheminade könnten Le Pen einige Stimmen abnehmen. Asselineau hatte schon 2012 versucht, Präsidentschaftskandidat zu werden, aber nicht genügend Unterstützer zusammengebracht. Er bezeichnet sich als Kandidat des „Frexit“ und macht noch schärfer Stimmung gegen die EU als Marine Le Pen. Cheminade, der in der Präsidentschaftswahl 2012 im ersten Wahlgang 0,25 Prozent der Stimmen erreichte, will wie Le Pen die Nato verlassen.
Der Ultragaullist Dupont-Aignan könnte auch im Lager von Fillon nach Stimmen fischen. Er ist schon dreimal bei Präsidentschaftswahlen angetreten und der Aussichtsreichste unter den „kleinen“ Kandidaten. Bei der letzten Präsidentschaftswahl vor fünf Jahren kam er auf 1,79 Prozent der Stimmen. Umfragen sehen ihn diesmal bei drei bis vier Prozent. Er erklärte, er wolle „seinen Weg zwischen Le Pen und Fillon nehmen“.
Die Antikapitalisten Poutou und Arthaud könnten dagegen Mélenchon einige Stimmen strittig machen, allerdings nur in beschränktem Ausmaß. Arthaud trat schon 2012 bei der Wahl an und kam im ersten Wahlgang auf 0,56 Prozent der Stimmen, Poutou erreichte immerhin 1,15 Prozent. Seitdem hat sich indes der Bekanntheitsgrad von Poutou, der in Bordeaux beim Autobauer Ford arbeitet, erhöht. Mélenchon hat im Unterschied zu den beiden allerdings seine Wortwahl zum Klassenkampf gemäßigt. Damit will er nicht nur extrem linke Wähler an sich binden, sondern auch den linken Rand der Sozialisten.
Am wenigsten von den „kleinen“ Kandidaten muss derweil Emmanuel Macron befürchten. Lediglich der Zentrumspolitiker Lassalle, der zum ersten Mal bei einer Präsidentschaftswahl in Frankreich dabei ist, könnte das Lager des Umfragen-Favoriten etwas schwächen.