Großbritannien vor Neuwahlen: Welche Chancen Boris Johnson auf einen Sieg hat
In sechs Wochen wählen die Briten ein neues Parlament. Boris Johnson, so zeigen erste Zahlen, kann auf eine Mehrheit hoffen. Sicher ist aber sein Sieg nicht.
Seit Dienstagabend ist klar, dass es in Großbritannien am 12. Dezember eine vorgezogene Neuwahl gibt – also innerhalb der verlängerten Brexit-Frist. Bis spätestens 31. Januar 2020 muss das Vereinigte Königreich nach derzeitigem Stand dann aus der EU austreten.
Das Neuwahl-Datum bedeutet einen sehr kurzen Wahlkampf: Gerade sechs Wochen haben die Parteien, um ihre Kandidaten für das Unterhaus aufzustellen und Wahlkampf zu machen. Dominantes Thema wird weiterhin der Brexit sein: Laut einer BBC-Umfrage halten mehr als 60 Prozent der Befragten den EU-Austritt für das wichtigste Thema in Großbritannien, alle anderen Bereiche – etwa Gesundheitssystem, Kriminalität, Einwanderung – liegen weit abgeschlagen dahinter.
Die große Frage ist, wie die Wahl im Dezember die Kräfteverhältnisse im Parlament verändern wird. Premierminister Boris Johnson hofft, dass er für seine Tory-Partei eine Mehrheit zurückbekommt – auch um seinen Brexit-Deal durchs Parlament bekommen zu können.
Wie riskant eine Neuwahl ist, zeigt ein Blick auf 2017. Die damalige Premierministerin Theresa May hatte ebenfalls eine Neuwahl auf den Weg gebracht, auch sie wollte damals für ihren Brexit-Plan ein starkes Mandat bekommen.
Das Vorhaben ging ziemlich schief: Die Torys büßten ihre Mehrheit ein. May konnte nur mit den Stimmen der nordirischen Partei DUP wieder zur Premierministerin gewählt werden. Ein Umstand, der fortan die ohnehin verfahrene Brexit-Diskussion zusätzlich erschwerte, denn die Splitterpartei wollte in den Verhandlungen mit der EU ihre Vorstellung zur Nordirland-Problematik durchsetzen. Auch Johnson bekam für seinen Brexit-Deal nicht die Stimmen der DUP.
Wahlkampf beginnt gerade erst
Wird es nun Johnson anders ergehen als May im Jahr 2017? Der Wahlkampf beginnt gerade erst, zudem erschwert das britische Mehrheitswahlsystem belastbare Vorhersagen: Man muss mehr als die Hälfte der Wahlkreise gewinnen, um die Regierung stellen zu können – und pro Wahlkreis reicht einem Kandidaten die relative Mehrheit der Stimmen, um ins Unterhaus zu ziehen. Trotz dieser Unwägbarkeiten gibt es in Großbritannien zahlreiche Umfrageinstitute, die regelmäßig neue Zahlen der Parteipräferenzen veröffentlichen.
Vorsprung von zehn Prozentpunkten für die Tories
Einen guten Überblick liefert der Service „Electoral Calculus“ des Meinungsforschers Martin Baxter. Dort sind viele Umfragen zusammengerechnet und mit regionalen Daten verrechnet. Die konservativen Tories von Premierminister Johnson haben hier einen deutlichen Vorsprung von 35,5 Prozent der Befragten. Damit liegen sie zehn Prozentpunkte vor Labour, die auf 25,3 Prozent kommen. Die Liberaldemokraten folgen mit 18,1 Prozent.
In Deutschland wäre eine Partei mit 35,3 Prozent weit entfernt davon, ohne Koalitionspartner regieren zu können. Durch das Mehrheitswahlsystem aber kann Johnson dennoch auf eine Mehrheit im Parlament hoffen.
Johnson kann auf eine Mehrheit hoffen
„Electoral Calculus“ hat zudem Vorhersagen für jeden Wahlkreis. Deren Berechnungen zufolge könnten die Konservativen aktuell mit 363 Sitzen rechnen – das wäre eine satte Mehrheit im Unterhaus mit 650 Sitzen. Die Zahlen beruhen auf Umfragen vom 1. Bis 25. Oktober. Die jüngsten Entwicklungen – Brexit-Verschiebung, Neuwahlbeschluss – sind noch nicht vollständig mitberücksichtigt. Auch das berücksichtigen die Statistiker von „Electoral Calculus“: Sie haben die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass es eine konservative Mehrheit im Unterhaus gibt. Sie liegt bei nur 52 Prozent – eine Zahl, die Johnson nicht beruhigen sollte.