Der Koalitionsvertrag: Was vom Regierungsprogramm zu halten ist
Union und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Was ist von den Beschlüssen zu halten? Zehn Tops und Flops im Überblick.
Bis zuletzt wurde hart um Kompromisse gerungen. Dabei ist manches, was die Parteien noch vollmundig in ihre Wahlprogramme geschrieben hatten, letztlich im Koalitionsvertrag auf der Strecke geblieben. Wir haben an zehn Schwerpunktthemen geprüft, wie viel Union und SPD am Ende durchsetzen konnten, und was das dann für die Bürger bedeutet.
1. Mindestlohn
Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro kommt – die SPD hat Wort gehalten. Die Union konnte aber längere Übergangsfristen durchsetzen. Eingeführt werden soll der Mindestlohn Anfang 2015, uneingeschränkt gelten aber erst 2017. Bis dahin sind Abweichungen nach unten möglich: Das gilt dann, wenn die Tarifpartner geringere Mindestlöhne vereinbaren oder bereits vereinbart haben. Derzeit gibt es laut Hans-Böckler-Stiftung 41 Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und DGB-Gewerkschaften mit unteren Tariflöhnen von weniger als 8,50 Euro.
FAZIT: Die Einigung beim Mindestlohn bedeutet, dass es bis 2017 noch Löhne geben kann, die unter 8,50 Euro liegen. Das wird den Osten stärker als den Westen betreffen. Vor allem die Arbeitgeberverbände in den Branchen, in denen es bisher völlig veraltete oder gar keine Tarifverträge gab, werden ein Interesse daran haben, die Übergangsfrist für niedrigere Löhne zu nutzen. Es wird also auf die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ankommen, wie flächendeckend der Mindestlohn von 8,50 Euro schon ab 2015 eingeführt wird.
2. Rente
Bei der Rente erfüllen sich Union und SPD ihre Wünsche gleichermaßen. Den dicksten Brocken, eine bessere Anerkennung von Kindererziehung, setzten CDU und CSU durch. Für jedes Kind, das vor 1992 geboren wurde, erhalten Mütter oder Väter einen Entgeltpunkt mehr gutgeschrieben Im Westen entspricht das derzeit 28,14 Euro, im Osten 25,74 im Monat. Die SPD wiederum erreichte, dass Versicherte mit 45 Beitragsjahren schon mit 63, also zwei Jahre früher als bisher, ihre volle Rente erhalten. Anders als vormals werden dabei nun auch Zeiten der Arbeitslosigkeit eingerechnet. Allerdings bleibt das Zugangsalter nicht bei 63, sondern steigt mit der Regelaltersgrenze bis 2030 allmählich wieder auf 65 an. Eine Garantierente gegen Altersarmut hatten Union wie SPD im Programm, als „solidarische Lebensleistungsrente“ soll sie „voraussichtlich bis 2017“ kommen. Geringverdiener, die nach 40 Beitragsjahren auf weniger als 30 Entgeltpunkte (umgerechnet 844 Euro im Westen, 772 Euro im Osten) kommen, erhalten unter bestimmten Voraussetzungen einen Zuschuss aus Steuermitteln. Auf Drängen der SPD wurden die Zugangsbedingungen etwas gelockert.
FAZIT: Die Verbesserungen sind teuer erkauft. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wie die Honorierung von Erziehungszeiten, sind von den Beitragszahlern zu stemmen. Einzig die Lebensleistungsrente soll aus Steuern bezahlt werden. Deshalb werden die Beiträge langfristig weiter steigen. Und von der Rente mit 63 profitieren vor allem männliche Facharbeiter und nicht diejenigen, die wirklich von Altersarmut bedroht sind: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Solo-Selbständige.
3. Gesundheit und Pflege
Beim Thema Gesundheit musste die SPD klein begeben. Weder schaffte sie es, das System in Richtung Bürgerversicherung zu bewegen, noch gelang es ihr, den Arbeitgebern wieder den hälftigen Krankenversicherungsbeitrag aufzudrücken. Ihr Anteil bleibt bei 7,3 Prozent eingefroren. Arbeitnehmer und Rentner müssen alle künftigen Erhöhungen alleine stemmen. Allerdings werden die Zusatzbeiträge der Kassen nun nicht mehr pauschal, sondern prozentual berechnet. Und Ärztekorruption wird strafrechtlich geahndet, Privatmediziner bleiben also nicht mehr außen vor.
Auch bei der Pflegereform hat sich die Union durchgesetzt. Die SPD scheiterte mit dem Ansinnen, den privaten Kassen einen Teil ihrer Rücklagen abknöpfen. Und der Beitrag wird nicht, wie von der SPD gewollt, von jetzt auf gleich um 0,5 Punkte erhöht, sondern nur schrittweise und abhängig davon, wann die komplizierte Neudefinition von Pflegebedürftigkeit gelingt. 2015 steigt der Beitrag erst mal nur um 0,3 Punkte. Davon wird dann noch ein Drittel für eine Rücklage abgezweigt, die nur die Union wollte. Die SPD muss mit dem verhassten Pflege-Bahr leben. Ihr einziger Erfolg: Wer sich kurzfristig um einen Pflegefall in der Familie kümmern muss, bekommt seinen Lohn für zehn Tage weiterbezahlt.
FAZIT: Fein raus in der Krankenversicherung sind nur die Arbeitgeber. Für die Versicherten wird es teurer, sie sollen alle Kostensteigerungen über Zusatzbeiträge alleine wuppen. Auch für Privatversicherte sieht es düster aus. Es gibt keine Preis- oder Mengenkontrollen und kaum Wechselmöglichkeiten zu günstigeren Anbietern. Für die Pflege fließt endlich mehr Geld.
Zwei heiße Eisen: doppelte Staatsangehörigkeit und Maut
4. Doppelte Staatsangehörigkeit
Im Koalitionsvertrag heißt es jetzt recht kurz und knapp: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. Im übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehörigkeitsrecht.“ Der SPD dürfte das reichen. Denn SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte den Doppelpass auf dem SPD-Bundesparteitag noch zur Bedingung für eine Koalition hochgejazzt. Dabei war den Sozialdemokraten vor allem der Optionszwang, wonach sich in Deutschland geborene Kinder von Einwanderern zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen, ein Dorn im Auge. Mit der jetzt gefundenen Formulierung im Koalitionsvertrag wird die SPD gut leben können. Die CSU hatte zumindest in Form ihres Vorsitzenden Horst Seehofer bereits davor Kompromissbereitschaft signalisiert. Das untermauerte er am Mittwoch, indem er sagte, dass er die Reform des Optionsmodells „ausdrücklich“ begrüße und spitz anmerkte: „Daran war die CSU nicht ganz unbeteiligt.“ Dass der eigene Innenminister, Hans-Peter Friedrich (CSU), ein entschiedener Gegner der Abschaffung des Optionsmodells ist, geschenkt.
FAZIT: Die Koalitionsverhandlungen haben ein gutes Ergebnis erbracht. Denn für die vielen jungen Türken in Deutschland, die vom Optionszwang betroffen waren, ist die geplante Neuregelung eine echte Erleichterung. Und sie sind die größte Gruppe, bei der es diese Debatten um die Staatsangehörigkeit überhaupt gab.
5. Verkehr
Beim Thema Verkehrs stand vor allem eine Frage im Mittelpunkt: Kommt die Pkw-Maut für Ausländer, wie von der CSU gefordert oder nicht. Nun steht sie zumindest im Koalitionsvertrag. Man wolle eine Pkw-Maut, „mit der wir Halter von nicht in Deutschland zugelassenen PKW an der Finanzierung zusätzlicher Ausgaben für das Autobahnnetz beteiligen wollen, ohne im Inland zugelassene Fahrzeuge höher als heute zu belasten“, heißt es im Vertrag. Allerdings lesen viele der Beteiligten das nur als eine Art Prüfauftrag. Denn kaum waren die Verhandlungen abgeschlossen, ging der Streit wieder los. CDU-Vize Julia Klöckner rechnet nicht damit, dass die Maut umgesetzt wird. „Das wird überprüft. Ich sehe es noch nicht, dass es wirklich am Ende dazu kommt“, sagte sie im ZDF. Ähnlich äußerte sich der schleswig-holsteinische SPD-Chef Ralf Stegner: „Wenn Weihnachten und Ostern zusammengelegt werden im nächsten Jahr, dann kommt auch die Maut.“ Die CSU rechnet weiter damit. „Die Pkw-Maut wird kommen und so steht's drin“, sagte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt.
FAZIT: Wenn die Maut kommt, ist das für den Autofahrer ein unterm Strich eher unerfreuliches Ergebnis. Zwar ist es gut, wenn mehr Geld in die Kassen fließt, um Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Doch ob die Maut tatsächlich für den Autofahrer kostenneutral wird, ist zweifelhaft, in jedem Fall bedeutet sie mehr Aufwand. Und zu erwarten ist, dass die Nachbarstaaten gerade im Westen Deutschlands dann selbst bald eine Maut einführen werden. Die der Nordrhein-Westfale dann auch bezahlen muss, wenn er in die Niederlande fährt.
Und wie sieht es bei Bildung und Familie?
6. Bildung /Wissenschaft
Die größte Niederlage hat die SPD beim Thema Ganztagsschule erlitten. Acht Milliarden Euro wollte sie für den Ausbau vom Bund bereitstellen. Dafür hätte die Verfassung geändert werden müssen, wofür die SPD seit Jahren kämpft. Vergebens. Die Union will darüber nicht sprechen. Beim Bafög hat sich die SPD ebenfalls nicht durchgesetzt. Weil die Länder sich bislang aus finanziellen Gründen gegen eine Erhöhung gesperrt haben, sollte der Bund die Zuwächse zu hundert Prozent übernehmen. Das lehnte die Union ab. Das Bafög kommt im Koalitionsvertrag nicht mehr vor. Den Hochschulpakt für neue Studienplätze wollte die SPD auf Dauer stellen – auch das wurde aus finanziellen Gründen abgelehnt. Allerdings haben Bildungspolitiker von SPD und Union gemeinsam finanzielle Zusagen von neun Milliarden Euro für Bildung erreicht. Und die SPD hat die Garantie auf einen Ausbildungsplatz im Vertrag durchgesetzt.
FAZIT: Eine große Offensive bei den Ganztagsschulen ist nicht in Sicht, obwohl sie dringend nötig wäre: um Schülerleistungen zu verbessern und um insbesondere Müttern die Berufstätigkeit zu erlauben. Bedürftige Studierende werden weiter auf lang ausstehende Bafög-Reform warten müssen.
7. Familie
Wichtigstes Versprechen der SPD in der Familienpolitik war im Wahlkampf die Abschaffung des Betreuungsgeldes. Doch damit konnten sich die Sozialdemokraten nicht durchsetzen: Die vor allem von der CSU vehement verteidigte Leistung, die von vielen CDU-Frauen sogar kritisch gesehen wird, bleibt bestehen und wird auch nicht in das Ermessen der Bundesländer gestellt. Auch das Vorhaben der SPD, das Kindergeld vom Einkommen der Eltern abhängig zu machen, als ärmere Familien zu bevorzugen, scheiterte. Auf der Habenseite der Sozialdemokraten steht: Die neue Bundesregierung wird sechs Milliarden Euro mehr für Kitas, Schulen und Hochschulen ausgeben. Und: Die Gleichberechtigung von Frauen soll durch ein Gesetz gegen ungleiche Bezahlung und eine gesetzliche Quote in Aufsichtsräten großer, börsenorientierter Unternehmen vorangebracht werden. Die flexiblere Gestaltung der Elternzeit und das „ElterngeldPlus“ für Teilzeit arbeitende Eltern, die ebenfalls von der Union eingebracht wurden, verstoßen nicht gegen sozialdemokratische Grundüberzeugungen.
FAZIT: Obwohl eine breite Mehrheit in der Bevölkerung das Betreuungsgeld ablehnt, und auch ein Großteil der Fachleute es als kontraproduktiv für eine moderne Familienpolitik erachtet, wird das Betreuungsgeld nicht abgeschafft. Die Milliarden, die das kostet, wären besser in den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung geflossen.
Geht so: Vorratsdatenspeicherung, Energiewende und Mieten
8. Vorratsdatenspeicherung
Hier haben sich beide Seiten ebenfalls geeinigt – mit einem leichten Vorteil für die Union. Denn die SPD hätte lieber länger auf Zeit gespielt mit der Umsetzung. Daraus wird aber wohl nichts. Angela Merkel stellte am Mittwoch klar: „Das wird eines der ersten Gesetze, die wir beschließen werden.“ In der EU sind Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, Verbindungsdaten ihrer Kunden auch ohne konkreten Verdacht mindestens sechs Monate lang aufzubewahren, damit Ermittler zur Aufklärung schwerer Verbrechen darauf zugreifen können. Deutschland hat diese EU-Richtlinie bisher nicht umgesetzt, weshalb nun am Europäischen Gerichtshof ein Vertragsverletzungsverfahren läuft. Die SPD ist nicht generell gegen die Vorratsdatenspeicherung, aber unter anderem nur bei kürzeren Speicherfristen (drei Monaten). Das findet sich auch im Koalitionsvertrag ebenso die SPD-Forderung nach einer Reform der EU-Richtlinie. Nur wird wohl nicht gewartet, bis das Gericht entschieden hat – und das hieße erstmal sechs Monate Speicherfrist, wie es die aktuelle Richtlinie vorsieht.
FAZIT: Das Thema ist an sich schon emotional besetzt, die NSA-Affäre hat die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung noch einmal angeheizt. Trotzdem ist den Verhandlern ein guter Kompromiss gelungen. Die Vorteile der Speicherung als Strafverfolgungsinstrument überwiegen in dem Fall die Bedenken von Datenschützern. Denn aufbewahrt werden die Daten bei den Unternehmen ohnehin - für Rechnungszwecke.
9. Energiewende
Bei der Energie fanden die Partner relativ schnell zusammen, sie bekennen sich weiterhin zur Energiewende. Dem Markt wird eine stärkere Rolle als bisher zugeschrieben – zumindest bei der Stromerzeugung und -verteilung. Eine „grundlegende Reform“ des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) soll demnach auch das erste Großprojekt der Legislatur werden. Bis Ostern soll der Entwurf stehen, bis zur Sommerpause soll die Novelle verabschiedet sein. Im Vertrag ist viel von Kostensenkung die Rede: So sollen etwa die Vergütungssätze für neue Windräder stark sinken. Die energieintensive Industrie soll von Ökostrom-Kosten verschont bleiben, allerdings soll es nicht mehr so viele befreite Unternehmen geben.
Großen Raum nimmt das Thema Energiesparen- und effizienz ein. Hier trägt das Papier SPD-Handschrift: Die Koalition will einen „Nationalen Aktionsplan“auflegen. Die Förderbank KfW soll mehr günstige Kredite zur Gebäudesanierung vergeben, es soll mehr unabhängige Energieberatung geben – für einkommensschwache Haushalte kostenlos. Die umstrittene Gasfördertechnologie Fracking mit Chemikalien wird de facto verboten. In der Atompolitik setzte sich die Union stärker durch.
FAZIT: Das Vertrag legt nahe, dass die neue Regierung die Kosten der Energiewende in den Griff bekommen will. Das ist überfällig. Die geplanten Einschnitte bei den Fördersätzen für Grünstromerzeuger wird den Druck auf diese erhöhen, technologische Fortschritte zu erzielen. Und er wird hoffentlich dazu führen, dass nur noch Technologien verfolgt werden, die tatsächlich dem Klimaschutz, der Nachhaltigkeit und der Versorgungssicherheit dienen.
10. Mieten
In der Wohnungs- und Mietenpolitik hat sich die SPD behauptet. Die von der CDU gewünschte steuerliche Vergünstigung des Wohnungsneubaus ist gestrichen. Weggefallen ist auch die staatliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung. Die Gewinne von Hauseigentümern werden durch die nunmehr beschlossenen mieterfreundlichen Eingriffe geschmälert: Die Mietpreisbremse begrenzt den Spielraum für Mieterhöhungen auf maximal 15 Prozent in drei Jahren. Bei Neuvermietung darf die Miete um höchstens zehn Prozent angehoben werden. Wer eine Wohnung saniert, darf maximal zehn Prozent der Kosten auf die Miete umlegen, statt bisher elf, und dies auch das nur so lange, bis die Kosten der Investition durch höhere Mieteinnahmen gedeckt sind. Härtefällen soll im Mietrecht besser vorgebeugt werden. Der Mietspiegel soll auf eine „breitere Basis“ gestellt werden und so den Spielraum für Mieterhöhungen einschränken.
FAZIT: Positiv ist, dass der Schutz der Mieter vor Mieterhöhungen deutlich verbessert werden soll. Negativ dagegen ist, dass vermutlich weniger gebaut werden wird, weil die Verdienstchancen der Hauseigentümer sinken werden. Das wiederum wird sich auf die Mieten wird. Das Grundproblem der steigenden Mieten und des Wohnungsmangels wird durch die Beschlüsse der großen Koalition also nicht gelöst.