Geschlechtergerechte Sprache im Tagesspiegel: Was Sie davon halten, dass wir jetzt gendern
Die Tagesspiegel-Redaktion hat sich Leitlinien für geschlechtergerechte Sprache gegeben und Sie gefragt, was Sie davon halten. Eine Auswahl aus den Reaktionen.
Vor zwei Wochen hat der Tagesspiegel sich nach ausführlicher Diskussion in der Redaktion Leitlinien für geschlechtergerechte Sprache gegeben. Der Kern dieser Leitlinien: Wir wollen sowohl fair und inklusiv als auch verständlich und undogmatisch schreiben. Wir überlassen es deshalb unseren Autorinnen und Autoren, je nach ihrem Sprachgefühl alternative Formen des Plurals zu verwenden, um kenntlich zu machen, dass jeder und jede gemeint ist. Der Lesbarkeit halber haben wir „schnelle“ Texte und Textteile davon ausgenommen: In Nachrichtentexten oder in Anreißertexten auf der Webseite sollen keine neuen Formen geschlechtergerechter Sprache verwendet werden, da wir wissen, dass diese zwar gängiger werden, aber immer noch viele Leserinnen und Leser irritieren. Auch in Überschriften verzichten wir eigentlich auf Doppelpunkteund Asteriske – auf dieser Seite hier erlauben wir uns mal einen.
Wir haben unsere Leitlinien vor zwei Wochen auch im Tagesspiegel und auf Tagesspiegel.de veröffentlicht und Sie gebeten, uns Ihre Meinung dazu zu schreiben. Seither haben wir etwa 200 Leserbriefe erhalten, rund 300 Leserinnen und Leser haben die Leitlinien online kommentiert. Ihnen allen dafür vielen Dank – für uns ist das eine wichtige Orientierungshilfe. Unten lesen Sie Auszüge aus den Zuschriften und Online- Kommentaren, die die wichtigsten Argumente repräsentieren. Das Stimmungsbild ist sehr gemischt, quantitativ überwiegen unter denen, die uns geschrieben haben, leicht diejenigen, die diesen Schritt skeptisch sehen, eher tolerieren als begrüßen oder rundweg ablehnen. Doch auch diejenigen, die die neuen Schreibweisen ausdrücklich begrüßen, sind offenbar keine kleine Gruppe. Wir möchten zunächst dabei bleiben, mit neuen Schreibweisen zu experimentieren und werden weiter versuchen, einen guten Kompromiss zwischen den verschiedenen Bedürfnissen unserer Leserinnen und Leser zu finden, zwischen Fairness und Lesbarkeit.
Eine Auswahl aus Ihren Reaktionen
Tagesspiegel-Online-Leser „Queerdenker“: Ich reagiere allergisch auf Bevormundung
Ich reagiere allergisch auf akademisch-elitäre Bevormundung und möchte als Leser auch nicht pädagogisch betreut und erzogen werden. Ich bin Akademiker, gehöre mehreren derzeit identitätspolitisch aktiven Gruppen an, komme aber aus den sogenannten kleinen Verhältnissen, die mit diesen Elfenbeintürmen nichts am Hut haben. Sprache entwickelt sich von unten, nicht von oben, und Diskriminierungen werden nicht durch Sprache aufgehoben, sondern nur in der sozialen Realität angegangen.
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Margot Wichniarz: Endlich, ich bin begeistert!
Ich bin über Ihre Leitlinien zum Umgang mit gendergerechter Sprache begeistert. Als ich 1974 meine Berufstätigkeit in einer Berliner Grundschule begann, hat es etliche Jahre unermüdlichen Ringens bedurft, bis mein Schulleiter bereit war, die weiblichen Beschäftigten nicht mit Lehrer und Kollegen, sondern mit Lehrerinnen und Kolleginnen anzusprechen. Anfang 1990 schrieb ich zum ersten Mal an den Tagesspiegel. Es ging um die Berichterstattung über den zehnwöchigen Kita-Streik unter Rot-Grün. Damals arbeiteten in den Kindertagesstätten zu 95 Prozent Frauen. Es waren Erzieherinnen, die streikten. Aber im Tagesspiegel wurde nur über Erzieher berichtet, also über Personen, die es im Grunde genommen an den Kitas gar nicht gab. (...) Nun ist es endlich so weit.
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Manfred Patzlaff : Willfährige Untertänigkeit von Verlagen
Mir scheint, (...) die Diskussion um die gendergerechte Sprache ist der Versuch einer für mich schwer einzuordnenden Minderheit. Eine Minderheit, die sich (...) einer willfährigen Untertänigkeit von Verlagen und Autoren bedient, aus Angst, eine Leserschaft und Gehör zu verlieren. Sorry, bei mir ist es eher umgekehrt. Ich achte vermehrt darauf, welche Zeitung und welcher Artikel wie geschrieben ist. Schlimmer noch, beim Lesen entwickelt sich immer dann, wenn ich über diese gendergerechte Schreibweise stolpere, ein Bild vom Autor selbst. Statt dass ich mich auf den Inhalt konzentriere, kann ich diese Gedanken einfach nicht ausblenden – das ist mir früher nicht passiert und gibt mir selbst zu denken.
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Florian Adler, Honorarprofessor für Kommunikationsdesign, HTW Berlin: Wir bleiben auf der Suche
Dass der Tagesspiegel eine gemeinsame Haltung zum umstrittenen Thema gendergerechte Sprache sucht, ist richtig. In den gestaltenden Berufen weiß man, wie sehr Bedeutung durch Form geprägt wird. Wir haben uns anders entschieden, und so bleiben wir auf der Suche nach einer für möglichst viele akzeptablen Lösung. Richtig ist Ihre Entscheidung für eine gendergerechte Schreibweise, weil sie sich zum Ziel gesetzt hat, ausgewogen, nämlich sowohl „inklusiv als auch undogmatisch und verständlich“ zu sein. Letzteres spricht zu Recht für die Verwendung des Doppelpunkts, da er den Lesefluss der Leser:in deutlich weniger irritiert als es der Asterisk tut (...) oder der Gender-Gap, welcher den Lesefluss so abrupt unterbricht wie ein Schlagloch die Fahrer_in. Allen Zeichen gemeinsam ist jedoch, dass ihre ursprünglichen Bedeutungen (...) mit ihrer Verwendung in der gendergerechten Sprache nichts zu tun haben. Hier bietet sich ein weiteres Zeichen an, das sich in diesem Zusammenhang bisher kaum etabliert hat, aber sowohl einen niedrigeren Störfaktor im Lesefluss als auch eine gewisse semantische Sinnhaftigkeit aufweist: der Medio·punkt (Windows: Alt+0183, MacOS: Shift+Alt+9). Er ist dezent in seinem Auftritt und uns allen bekannt als Multiplikationszeichen. Als solcher kann er als ein Symbol für Vielfalt gelten und damit vielleicht auch für Leser·innen aus der queeren Community ein akzeptables Zeichen darstellen.
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Jürgen Kussatz : Unlogisch
Natürlich entwickelt sich eine Sprache. Aber die Regeln werden erst dann durch den Deutschen Rechtschreibrat geändert, wenn sich diese Änderungen verfestigt haben und werden dann l o g i s c h vorgenommen. Und der Deutsche Rechtschreibrat hat – meiner Kenntnis nach – zuletzt eine von Ihnen vorgeführte Verballhornung der Rechtschreibregeln 2018 strikt abgelehnt, was natürlich meine Zustimmung findet. Es ist nämlich eine kolossale Erschwernis des Lesens, wenn man beim Lesen Hauptwörter wieder zusammensetzen muss (...). Und was sage ich eigentlich meinem schulpflichtigen Enkel, der in der Schule natürlich korrektes Deutsch lernt, wenn ich mit ihm die Kinderseite am Samstag anschaue und ihm erklären muss, was die Sternchen da zu suchen haben.
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Tagesspiegel-Online-Leser „Arbeiterklasse“: Projekt studierter Intellektueller
Das Projekt „Genderkonforme Sprache“ ist ein Projekt von studierten Intellektuellenschichten, welche zur Lebenswirklichkeit der restlichen 85 Prozent der Bevölkerung keinen Bezug haben. Da diese überproportional (...) in maßgeblichen Institutionen wie Parlament und Medien vertreten sind, können sie ihre einseitigen Vorstellungen gegenüber der Mehrheit durchsetzen!
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Brigitte Ernst: Die Kritik lässt mich schmunzeln
Den Umgang mit geschlechterbezogener Sprache, den Sie in Zukunft praktizieren wollen, kann ich nur begrüßen. Als 74-jährige Frau, die ein Germanistikstudium absolviert hat, 40 Jahre als Deutschlehrerin tätig war und der die Frauenemanzipation immer am Herzen lag, ohne dass sie sich den militanten Feministinnen zugehörig gefühlt hätte, kann ich nur immer wieder schmunzeln über die helle Aufregung, die der Versuch hervorruft, Frauen im öffentlichen Leben auch sprachlich etwas deutlicher vorkommen zu lassen. Am lustigsten finde ich, zu welch abenteuerlichen Argumenten sich die Kämpfer:innen gegen das Wort „Studierende( r)“ hinreißen lassen. Da zeigt sich leider viel sprachgeschichtliche Ahnungslosigkeit. Erst einmal übersehen die Kritiker:innen dieses Begriffs, dass sich ja bereits das Wort „Student“ von einem lateinischen Partizip des Präsens ableitet. (...) Außerdem wird behauptet, die Verwendung dieses Begriffs sei dem „links-grünen Gendergaga“ des 21. Jahrhunderts entsprungen. Falsch. Neulich sah ich eine Abbildung des Ausweises der Dessauer Bauhausschülerin Gunta Stölzl aus dem Jahr 1922. Darauf stand ihr Name und darunter „Studierende“.
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Horst Scholz: Das Sternchen muss weg!
Der Doppelpunkt wäre ein gerade noch brauchbarer Kompromiss. Aber das Sternchen muss weg!!
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Renate Massoth, Frankfurt: Ich fühle mich richtig befreit
Platz muss sein, so oft wie möglich, für „Journalistinnen und Journalisten“, „Wählerinnen und Wähler“ ... Ansonsten das Gender-Sternchen *, denn der Doppelpunkt hat bereits eine andere Funktion! Super, dass das Thema endlich ordentlich angegangen wird! Ich fühle mich richtig befreit!
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Grit Schneider: Die Welt ändern, nicht die Bezeichnung
Gegen die getrennte Benennung von Personen (spricht), dass man das, was man verschieden bezeichnet, auch unterschiedlich behandeln kann. Das kann nicht das Ziel sein. Eine Einwendung ist immer, Frauen würden strukturell benachteiligt und schlechter bezahlt. Im Moment arbeite ich im öffentlichen Dienst, Frauenanteil gefühlt 50 Prozent, diverse Nationen, Hintergründe, Lebensentwürfe. Die Chefposten sind vorwiegend männlich besetzt. Es fehlt nicht an talentierten Frauen, die sind nur nicht bereit, den harten, zehrenden Job zu machen und irgendwann an dem Punkt, wo sie zufrieden mit Arbeit und Privatleben sind. Hier bedarf es einer Änderung von Führungsaufgaben und Arbeitsbelastungen, keiner gesonderten Bezeichnungen.
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Peter Thaben : Ich fühle mich diskriminiert
Ich fühle mich diskriminiert. Wenn man das spricht, hört man nur den weiblichen Anteil der beschriebenen Gruppe. Ist das so gewollt? Und was macht dieser Doppelpunkt mitten im Wort? Ist das ein neuer Buchstabe? Ja,ja, ich weiß: gendergerechte Sprache und so. Aber hilft so etwas wirklich gegen Missachtung oder Geringschätzung des anderen Geschlechts? Diese Sprechweise macht sich im Radio und im Fernsehen breit und mehr oder weniger halten sich die Ansager: innen auch an diese neue Regel. Wann geht das wieder weg? (...) Bitte bleibt bei der deutschen Sprache! Dieses Sprechgewirr mit * oder : oder großem I im Wort ist nicht klug und schon gar nicht hilfreich bei der notwendigen Gleichsetzung der Geschlechter.
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Helmut Lück: Die aberwitzige Karriere der Gerundiva
Betrachtet man die aberwitzige Karriere der Gerundiva (hier hat der Berliner Senat mit den „toten Radfahrenden“ stilprägend gewirkt), die für Behörden und Bildungseinrichtungen verordneten Sternchen und Grundstriche, so ist zu befürchten, dass all dies nicht zum Mitmachen einlädt, sondern insgesamt ein Projekt verdirbt, das eigentlich gut gemeint ist. Schließlich soll dazu beigetragen werden, dass die Verhältnisse „geschlechtergerechter“ werden. Wenig überzeugende Praktiken können das Vorhaben nur schädigen. (...) Jedenfalls freue ich mich, dass der Tagesspiegel, zumindest in kurzen Texten, „gnädig“ sein will. Er dürfte also weiter melden, dass ich zum Arzt gehe, auch wenn das schon immer eine Frau ist. Er könnte sogar kurz erwähnen, dass meine Enkeltochter im Wettstreit stolz „Erster“ gejubelt hat. Alles nicht selbstverständlich, wenn man hört, dass sogar der Duden wackelt, also generische Maskulina problematisiert. Es kann einem angst und bange werden!
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Birgitt M., Marienfelde: Versuch einer zeitgemäßen Veränderung
Ich begrüße diese Form der Ansprache aller Geschlechter sehr. (Leser:innen). Immer wieder bin ich erstaunt, wie selbstverständlich die männliche Form ist und fühle mich um ein Vielfaches mehr von einem Artikel Ihrer Zeitung angesprochen. Sicherlich ist es eine neue Form des Lesens, kurz komme ich beim schnellen Lesen ins Stocken, aber wie schon von Ihnen erwähnt, ist es ein Versuch für eine zeitgemäße Veränderung. Bitte unbedingt dranbleiben.
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Dr. Hermann H. Dieter, Trebbin: Der Versuch kann nur scheitern
Mein Eindruck: Die Autoren des Tagesspiegels verwenden die Leitlinien durchaus dezent und leserfreundlich. Eine zwanghafte „Genderlogik“ ist nicht zu erkennen, stattdessen allerdings unvermeidliche sprachlogische Willkür. Wer sich der durchaus ärgerlichen bis lächerlichen Mühe unterzog, beim zweiten Lesen eines Beitrags gegenderte und nicht gegenderte Personenbezeichnungen pro Artikel zu zählen, konnte beispielsweise in dem „Kampf und die Stadt-Oasen“ zehn nicht gegenderte und nur eine gegenderte Bezeichnung entdecken, während in „Operation im Korallenriff“ zehn gegenderte vier nicht gegenderten gegenüberstanden. Dürfen oder sollen die Leser dieser ansonsten sehr gut geschriebenen und hoch informativen Artikel mit den freundlicherweise grammatisch korrekten, also (noch) nicht gegenderten Pluralia nun ausdrücklich nur noch Männer assoziieren? (...) Was nach zwei Wochen Tagesspiegel-Leitlinien bleibt, ist folgender Eindruck: Der Begriff „Gendersprache“ entzieht sich ebenso wie „guter“ oder „schlechter“ Sprachstil einer sprachlogisch nachvollziehbaren Definition. (...) Fazit: Die „Gender“-Leitlinien des Tagesspiegels sind gut gemeint, können jedoch trotz (bisher) dezenter Anwendung sprachlich nur scheitern.
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Claudia Gehrke: Der Tunnelblick wird immer enger
Ich habe mich zeitlebens nie benachteiligt gefühlt, weil diese Form verwendet wurde und Gott sei Dank, in der Literatur noch wird. (...) Wenn Frauen in einer Gesellschaft gleichberechtigt repräsentiert sind, ist eine sprachliche Unterscheidung hinfällig. Mich persönlich nervt diese Debatte extrem, gäbe es meines Erachtens doch soviel Wichtigeres, über das zu debattieren notwendig wäre. Es scheint sich zurzeit jeder nur noch mit einzelnen Worten und Formulierungen zu beschäftigen, dem Inhalt eines Textes aber keine Bedeutung mehr beizumessen. Der Tunnelblick wird immer enger und kleinlicher – und das merkwürdigerweise oft von Menschen, die gar keine direkte Benachteiligung erfahren haben. Das betrifft nicht nur das Gendern, sondern leider auch sehr viele andere Bereiche, es sei nur der „Umbenennungs-Hype“ erwähnt. Manchmal warte ich nur noch auf die Forderung, weibliche Personen als Menschin zu bezeichnen und die Bibel endlich umzuschreiben. Meine geringste Erwartung an den bisher doch so großartigen Tagesspiegel ist, dass die neuen „gendergerechten“ Varianten für Ihre Autoren nicht verpflichtend werden.
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Tagesspiegel-Online-Leser „Falkenhausierer“: Nehmen wir eben nur die weibliche Form
Ich bin erstaunt (...) wie viele Foristinnen und Foristen sich an Doppelpunkt oder Binnen-I stören: Wenn es denn für das flüssige Lesen oder aus anderen Gründen so vorteilhaft erscheint, nur eine Form, und zwar die bisherige, beizubehalten, dann schlage ich vor, für die nächsten 400 Jahre – ungefähr so lange gibt es bereits Zeitungen und ich unterstelle, dass bisher die männliche Form verwendet wurde – ausschließlich die weibliche Form zu verwenden.
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