Nach dem Anschlag: Was macht der Terror mit Barcelona?
Sie ist die Heimat Gaudís und Guardiolas, begehrtes Ziel von Reisenden aus der ganzen Welt. Doch jetzt ist die Stadt am Meer tief getroffen.
Jedes zweite Wochenende im Monat pflegt Boris Tosas ein Ritual. Dann fährt der leidenschaftliche Fan des FC Barcelona mit seinem Rollstuhl vom einen Ende der Stadt zum anderen, von seinem Wohnort bis zum Stadion Camp Nou. Mal zehn, mal 15 Kilometer. Je nachdem, welche Strecke er gerade nimmt. „Ich mag vor allem die Route unten am Wasser entlang an der Barceloneta. Ich mag es, wenn mir die Meeresluft in die Nase bläst, und die vielen Menschen, die in der Gegend herumlaufen“, sagt der 22 Jahre junge Mann. Aber eigentlich sei es auch egal, wo entlang er fahre, denn Barcelona „ist überall wunderschön“.
Barcelona. Heimat Gaudís und Guardiolas, der Klugen und Kreativen. Metropole am Mittelmeer mit eigenem Sandstrand, wo Deutsche und Engländer sich mit Hingabe selbst grillen, bis die Haut rote Blasen schlägt. Gelegen am Fuße des Montjuic, der über die Stadt wacht wie ein Riese über einen Schatz. Nichts anderes ist Barcelona für seine Besucher und Bewohner.
Doch auch der große Berg und Schutzpatron konnte nicht verhindern, dass am Donnerstag 13 Menschen ums Leben kamen, als ein Lieferwagen auf der Rambla kurz nach 17 Uhr in eine Menschenmenge fuhr. Zu einer Zeit, in der stets viele Menschen auf den Straßen unterwegs sind. Menschen, die gerade vom ausgiebigen Mittagessen kommen und zurück an ihre Arbeitsplätze eilen. Oder Menschen, die einfach nur schlendern, schauen und verweilen wollen. Touristen.
Dass die Terroristen die Rambla wählten, liegt nahe
Dass die Terroristen die Rambla als Anschlagsort ausgewählt haben, liegt nahe. Die Flaniermeile, knapp einen Kilometer lang, Verbindungslinie zwischen der Placa Catalunya und dem Hafen, ist der internationalste Ort in der internationalsten Stadt Spaniens. So touristisch, dass Einheimische sie inzwischen meiden. Abgesehen von den Gauklern und Jongleuren, den Straßenkünstlern und den Kleingaunern.
Früher, da hatten die Bewohner ihrem Boulevard ein eigenes Verb gewidmet, ramblejar. Kaum zu übersetzen, am ehesten mit: auf der Rambla rumhängen. Am Freitagmorgen strömten viele Barcelonesen wieder auf die Rambla, manche von ihnen zum ersten Mal seit langer Zeit. Eine Annäherung an einen einst geliebten und dann verloren gegangenen Ort, der mit seiner Nähe zur imposanten Markthalle La Boqueria immer noch das Herz der pulsierenden Metropole bildet. Die Ereignisse haben die Stadt und ihre Bewohner geschockt. Cordula Roura, eine Sportreporterin und fast nie um Worte verlegen, spricht am Freitag einsilbig durchs Telefon. „Das ist alles ganz schlimm. Es hätte jeden hier treffen können, und sich darüber im Klaren zu sein, macht einfach nur Angst.“
Zwei, drei Tage nach dem Anschlag wabert eine Mischung aus Trauer und Trotz durch die Straßen rund um den Hafen, durch das Barrio Chino, die In-Viertel Born und Gracia, durch Raval und die verwinkelten Gassen des gotischen Viertels, das in der Nähe zur Rambla liegt. „Das war ein gezielter Anschlag auf unsere Art zu leben“, sagt Roura. Sie selbst war am Donnerstag weit weg von der Rambla.
Was Bedrohungen angeht, hat die Stadt eine lange Historie
Auf die Straße gehen, auswärts essen, das Leben vor der eigenen Haustür leben, das alles eint die verschiedenen Gegenden Spaniens, die sich ansonsten doch sehr voneinander unterscheiden. Das gilt gerade für Katalonien und seine größte Stadt Barcelona, in der heute etwas weniger als zwei Millionen Menschen leben. Um Wesen, Lebensart und Kultur zu verstehen, muss man die Geschichte bemühen. Was den Umgang mit Bedrohungen angeht, blickt Barcelona auf eine lange Historie zurück. Anschläge gab es auch in früheren Zeiten schon. „Aber das alles liegt weit zurück. Der Schock besteht darin, dass so etwas auch in der Gegenwart möglich ist“, sagt Roura.
Mauren und Franzosen versuchten sich ohne dauerhaften Erfolg als Besatzer, während der Industrialisierung entwickelten sich vor allem in Barcelona verstärkt anarchistische Tendenzen. Im spanischen Bürgerkrieg war hier ein Zentrum des republikanischen Widerstands gegen die Truppen Francos.
Katalanen sind ein sehr stolzer, mitunter eigenwilliger Menschenschlag, der sich nicht gern in die inneren Belange hineinreden lässt. Wie sehr der Diktator ein mögliches Auflehnen fürchtete, zeigte sich darin, dass er Katalonien samt Barcelona besonders repressiv behandelte. Katalanisch wurde als Sprache zwar nicht verboten wie heute oft behauptet, aber durch sozialen Druck geächtet und so aus dem öffentlichen Raum verbannt.
Das Gleiche gilt für das Aufführen des Volkstanzes Sardana oder die Menschentürme, Castells genannt. Auflehnung war nur im privaten Raum möglich, in geheimen Lesekreisen, wo katalanische Kultur auf Katalanisch gelesen wurde. Bei Festen innerhalb der Familie, wo Katalanisch gesprochen und gesungen wurde, oder im Camp Nou, dem Fußballtempel mit den 100.000 Plätzen, wo Protest in der Masse möglich, weil der Einzelne schwer zu identifizieren war und jeder Sieg des Fußballklubs zum Symbol des Aufbegehrens avancierte.
Der Gemütszustand der Metropole hängt vom Fußball ab
Noch heute hängt der Gemütszustand der Bewohner von der Formkurve des wichtigsten Fußballklubs ab, vielleicht stärker als in jeder anderen Stadt dieser Welt. Zu spüren ist das nach großen Siegen wie dem 6:1 im März gegen Paris, als die halbe Stadt bis vier Uhr in der Früh auf den Beinen war. An einem Donnerstagmorgen.
Wenn Barça gewinnt, gewinnt Katalonien, heißt es, und natürlich steckt auch der Wunsch nach Anerkennung dahinter. In dem erfolgreichen Fußballklub haben Stadt und Region etwas, worum sie die ganze Welt beneidet. Ein Symbol der Eigenständigkeit. Unabhängigkeit vom Rest Spaniens ist ein bei großen Teilen der Bevölkerung tief verwurzelter Wunsch. Nicht nur im Hinterland, auch im Stadtgebiet von Barcelona. Bei Demonstrationen für die Abspaltung gingen bis zu einer Million Menschen auf die Straße.
Kultur, Lebensstil und politische Ansichten nach außen zu tragen, ist für die Menschen identitätsstiftend geworden. Spätestens seit Ende der Diktatur ist Verstecken keine Option. Auch jetzt nicht, nach dem Anschlag. „Über allem steht der Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Frieden“, sagt Loreta Canepa. Die 40-Jährige arbeitet in der Tourismusbranche und half einst mit, die Stadt zu einer internationalen Marke zu machen.
Acht Millionen Übernachtungen pro Jahr
Heute ist Barcelona ein touristischer Hotspot Europas mit knapp acht Millionen Übernachtungen pro Jahr, aber auch ein Symbol für Billig- und Partytourismus. Die Entwicklung wurde durch die Wirtschaftskrise vor neun Jahren verstärkt, setzte aber schon früher ein.
Die Moderne begann für Barcelona 1992. Vermutlich gibt es keine Stadt weltweit, die mehr von der Austragung der Olympischen Spiele profitiert hat. Durch die Vergabe setzte eine lange überfällige Restaurierung heruntergekommener Viertel ein, vor allem in der Nähe des Wassers. Es dauerte einige Zeit, bis Barcelona gelernt hat, mit dem Meer auszukommen und es für sich zu nutzen. Früher lebte die Stadt mit dem Rücken zum Mittelmeer – weil von dort nur Schlechtes kam. Krankheiten und Plünderer, Überschwemmungen und Fäule. Rund um den Stadtstrand Barceloneta lebten die Huren und Tagelöhner, heute zählen die Wohnungen dort zu den teuersten der Stadt. Gentrifizierung, klar, wie in jeder anderen Großstadt der Welt. Nur ist es Barcelona trotz aller Internationalisierung gelungen, eine eigene Identität und ein aufmüpfiges Wesen zu bewahren.
Die Bewohner sind stolz auf ihre Söhne wie Pep Guardiola
Stolz sind sie, die Stadtbewohner, auf ihre Heimat und deren bekannteste Söhne. Söhne wie Pep Guardiola. Der meldete sich am Freitag aus England, wo er derzeit arbeitet: „Das alles ist sehr traurig. Aber Barcelona wird wieder aufstehen und nach vorne schauen“, sagte er. Es gab mal eine Zeit, da wurde der Fußballtrainer in der Stadt wie ein Heiliger verehrt. Sein Wort hat Gewicht.
Wenn es derzeit etwas gibt, das die Menschen in Barcelona hören wollen, dann sind es Sätze wie die aus Guardiolas Mund. Kann eine Stadt nach einem solchen Anschlag die gleiche bleiben? „Ich weiß es nicht“, sagt Boris Tosas. Was er weiß, ist, dass er sein Ritual beibehalten will. Auf die Fahrt einmal quer durch seine Stadt zum Camp Nou wird er nicht verzichten.