Bundeswehr-Ausbildungsschiff: Was ein Veteran der Gorch Fock erlebte
Sie mussten gleich in den Mast klettern. Erst langsam, dann immer schneller, bis sie hinaufliefen. Teo Oltmanns, Kapitän zur See a.D., gehörte 1959 zu den ersten, die auf der Gorch Fock zum Offizier ausgebildet wurden. Vieles empfand er als Schikane – und das hat ihn geprägt.
Sie schickten sie als Erstes in die Takelage. Teo Oltmanns erinnert sich an sein Herzklopfen im Hafen von Kiel, die Aufregung, ob er es schaffen würde. An den dringenden Wunsch, sich zu beweisen, und sei es an diesen Masten, die jetzt über 40 Meter über ihnen aufragten. Er hatte sich entschlossen, jetzt galt es, die Angst zu überwinden. Seine Füße fanden Halt in den schwingenden Webleinen, im Kopf sagte er sich: „Eine Hand für’s Schiff, eine für mich.“ Er stellte erleichtert fest: Keine Anzeichen für Schwindel.
In diesen Tagen liest Teo Oltmanns aufmerksamer Zeitung. Denn sie erinnert ihn täglich an seine Jugend. Man redet vom „Skandalschiff“ und von „schlimmen Zuständen“. Und obwohl die Seefahrt aus eleganten, jederzeit wieder lösbaren Knoten besteht, scheint die Sachlage plötzlich so unauflösbar wie ein von Seemännern verlachter „Altweiberknoten“: Die Gorch Fock, das legendäre Segelschulschiff der Marine, ist verstrickt in ein Netz aus Verdächtigungen, Vorwürfen und Todesfällen.
Bislang wurde nur eine Seite gehört. Kadetten schilderten dem Wehrbeauftragten, was nach dem Unfalltod der Offiziersanwärterin Sarah Seele geschehen sein soll. Betrunkene Vorgesetzte, fehlendes Einfühlungsvermögen in die Trauer der Neulinge, Schikane. Königshaus’ Bericht hat in Berlin hohe Wellen geschlagen. Der Kommandant Norbert Schatz wurde von Verteidigungsminister Guttenberg abgesetzt, das Schiff nach Kiel zurückbeordert. In Ushuaia traf die Untersuchungskommission auf eine Stammcrew, die hinter ihrem Kapitän steht.
Teo Oltmanns kennt keine Antworten, aber er kann vielleicht die richtigen Fragen stellen. Fragen, die mit der Tatsache zu tun haben, dass er, Teo Oltmanns, am 25. Januar 1938, hineingeboren in eine Familie voller Kapitäne, sechs Onkels fuhren zur See, im Alter von 21 Jahren im April 1959 mit über 100 Kollegen die Gorch Fock betrat. Im Gepäck eine Leica, deren Anschaffung ihn zwei Monatsgehälter gekostet hatte, körperlich fit für 25 Klimmzüge, entschlossen, ein Abenteuer zu erleben. Sie alle hatten sich für die Offizierslaufbahn entschieden. Und dies war die erste Reise der neuen Gorch Fock.
Doch ernüchtert wanderte sein Blick jetzt durch das Zwischendeck: Keine Kojen, nur Hängematten und für jeden ein Schließfach für Persönliches. Hier sollten sie ein Vierteljahr die Nächte zubringen, schwingend, übereinander aufgeknüpft, jeder in seinem Kokon. Soldaten, die auf „Verwendung“ warteten.
Es hatte auch damals eine öffentliche Debatte über Sinn und Sicherheit der Segelei auf der Gorch Fock gegeben. Denn eine der größten Segelkatastrophen lag gerade anderthalb Jahre zurück: Als am 21. September 1957 die „Pamir“ im Atlantik versank: Eine Ausbildungssegler der Handelsmarine, ein Viermaster, nur sechs Leute überlebten.
„Bist du verrückt?“, fragten sie Teo Oltmanns in der Familie. Auf die Gorch Fock!
Die Kletterei, sagt Oltmanns, wurde im Hafen erst langsam geübt, und dann auf Tempo gedrillt. Die Ausbilder beobachteten, wie sich die Leute anstellten, die Griffe immer sicherer. Am Ende sollten sie hinaufrennen. Sie schürften sich die Schienbeine und Waden auf, wenn sie in der Eile von den beweglichen Leinen abrutschten, hinein in das Netz. Sie bekamen schwielige Hände vom Tau. Zum Segeleinholen lehnten sie sich mit dem Bauch über die Rah, hängten den Karabiner ein, die Füße in eine Trittleine gestemmt. Es ist Aufgabe des Ausbilders, zu beurteilen, wie viel ein junger Mensch da aushält, sagt Oltmanns. Ob er schwindelfrei ist, Angst hat. Wenn heute ungeübte Abiturienten an Bord kommen, dürfe man nicht denen die Schuld geben, sondern muss halt vorher Muskeltraining machen.
Oltmanns, inzwischen 73 Jahre alt, sitzt südlich von Bonn in Unkel am Rhein an seinem Wohnzimmertisch und beschreibt, wie die Dünung sich im Mast vervielfacht, wie Fliehkräfte hinzukommen, wie die Bewegung des Schiffes sich um die Länge des Mastes verstärkt, dass man im Zweifelsfall sein Körpergewicht mit einem Arm halten muss.
Obwohl man auf der Gorch Fock keine Waffe in die Hand nimmt, begibt sich, wer sich an den Elementen schult, in eine viel umfassendere Gefahr. Wer abgelegt hat, kann nicht mehr zurück. Wer sich entschieden hat, muss da durch.
Ob man die Gefahr vermeiden kann? Das wird jetzt immer wieder gefragt. Und es ist natürlich eine unmögliche Frage. „Es gibt ja etwas, wodurch sich der Beruf des Soldaten von anderen unterscheidet,“ sagt Oltmanns ernst. Das ist die Gegenwart von Gefahr. Alle Risiken ausschließen zu wollen, wäre, wie wenn der Feuerwehrmann sagt, er gehe nirgendwohin, wo es brennt.
Und nicht Vermeiden der Mastkletterei führt zu Sicherheit, sondern im Gegenteil, es immer wieder zu üben. Man müsse die Scheu verlieren. Sicher werden. Die Aufregung bekämpfen. Die Kräfte steigern. „Sie müssen bei gutem Wetter üben, sonst geht bei Sturm gar nichts mehr.“
Jeden Morgen pfiff man auf der Gorch Fock die Kadetten an Deck, zur Kontrolle der zusammengerollten Hängematten. Ob die Knoten stimmten. Wer es nicht ordentlich genug gemacht hatte, sollte zur Strafe mit der Matte über der Schulter über die erste Rah klettern.
„Aber wenn man Knoten können soll, muss man Knoten üben lassen“, sagt Oltmanns. Es bringt nichts, mit der Hängematte über den Mast zu klettern.
Unsinnig war vieles, das war klar. Das Gebrüll aus nächster Nähe, eine Typfrage. „Dieser Typ ist beim Militär natürlich häufiger anzutreffen als woanders.“ Nirgends sonst gibt es das Konzept bedingungslosen Gehorsams. Selten fällt es so leicht, Macht übereinander auszuüben.
Haben sie also protestiert? Sich beschwert wie die Kadetten heute über ihre Übermüdung?
Vielleicht, sagt er, sei seine Generation, die tote Soldaten hat liegen sehen, doch von anderem Kaliber. Sich über Entbehrung beschweren? Entbehrung ist doch das Programm! Es ist die Idee, durch Training die Grenzen der Leistungsfähigkeit über Schwellen hinaus zu dehnen, die die Beteiligten selbst nicht mehr für möglich halten.
„Ich möchte, dass sie das verstehen – den Unterschied zwischen notwendiger Härte und unsinnigem Handeln.“ In seiner lichten Küche lässt er Ostfriesentee über einen Klunker Kandis fließen, dass es knistert.
Im Rückblick, vor dem Hintergrund seiner Jahre auf See, zählen für Oltmanns zu unsinnigem Handeln: Unnötiges Gebrüll, Strafen, die nichts mit der Aufgabe zu tun haben. Es zählen zu notwendiger Härte: Ausdauerübung. Muskeltraining. Und vor allem Schlafentzug.
Denn dienstlich begründete Erschöpfungszustände gehören zum Leben eines Offiziers. In Friedenszeiten auf einem Zerstörer kriegt man bei einer Dreierwache acht Stunden Schlaf, aber bei einer Zweierwache etwa ist man vier Stunden davon auf den Beinen. Man hat am Radarschirm Verantwortung für ein schlafendes Schiff voller Besatzung. Da ist es gut, beizeiten ein Bonbon zu lutschen.
Aber zunächst rang Oltmanns auf schwerer See mit Übelkeit. Er lernte, wie man auf dem Wasser eine Böe erkennt. Und er ließ sich an einem sonnigen Tag eine Sondergenehmigung geben, damit er im Mast bis ganz oben klettern durfte, um zu fotografieren. 45 Meter über Null stellte er scharf, regelte die Belichtung, verschoss die Filme. Oltmanns öffnet in seinem Unkeler Wohnzimmer die Kästen voller messerscharfer Glasdias und ein meerblaues Album.
Tief unten sieht man vier Kadetten in einer Reihe an Deck auf Knien liegen. „Beten“ nannten sie das, wenn mit einem speziellen Stein die Planken gereinigt wurden. Oltmanns lacht, denn jetzt fällt ihm wieder ein, dass er selbst diesen Dienst nie machen musste, denn er konnte Gitarre spielen. Sie scheuerten immer zu Musik und sangen „Rolling Home“ und Oltmanns hatte Dienst an der Gitarre.
Er erinnert sich an die Nächte, in denen er Wache hatte, und in denen ihm der Divisionsoffizier mit zotigen Merksprüchen die Sternbilder erklärte. Noch heute sieht er den nächtlichen Himmel so.
Oltmanns hat sich bei seiner Fahrt auf der Gorch Fock nirgendwo beschwert. Wenn einer brüllte, wenn es unsinnige Strafen gab, dachte er sich: „Bei mir wird es das nicht geben.“ Und: „Irgendwann bin ich dein Vorgesetzter.“
Denn es ist ja so: Niedere Ränge bilden auf der Gorch Fock ihre späteren Vorgesetzten aus. Da liegt die Spannung im System. Die Stammmannschaft auf dem Schiff befehligt drei Monate lang Leute, die ahnungslos sind, jünger und schwächer, später aber mächtiger sein werden als sie. Von der Stammcrew, sagt Oltmanns, wurden sie nur „Kanaken“ genannt. Die Stammcrew hat natürlich auch nicht selbst geputzt. Die „Kanaken“ mussten die „Frauenarbeit“ tun.
Das Training fürs Leben hieß: Wie ich mit unangenehmen Typen umgehe. Auch das war nützlich. Denn die würden einem immer wieder begegnen. Das war Training auf einer Meta-Ebene. „Verstehen Sie mich richtig, ich bin ein Anhänger, kein Gegner der Gorch Fock.“
Und das, obwohl an Bord ein gewisser Darwinismus herrschte. Es gab Konkurrenz, Habgier, die Socken verschwanden von der Leine. Es gab Leute, die sich unfair Vorteile sicherten. Ihn ärgert es deshalb maßlos, wenn alle immer reflexhaft sagen, dass man auf der Gorch Fock Kameradschaft lernt, als entstünde sie zwangsläufig schon dort, wo alle aufeinander angewiesen sind und keiner weglaufen kann. Als wäre das ein automatischer Prozess.
„Ist es schon Kameradschaft, wenn fünf Leute an einem Tau ziehen? Ich würde sagen, Nein.“ Er würde sagen, es herrschte eher Wettbewerb.
Aber was sich mit der Konkurrenz automatisch immer wieder einstellt, ist die Rollensuche in der Gruppe, oder?
Tja, Rollensuche, das ist wohl die vorherrschende Herausforderung. „Aber auch die muss gelenkt werden.“ Dazu bräuchte man geeignete Ausbilder. „Was hat mich denn später dazu gebracht, Vorgesetzter zu sein?“ fragt Oltmanns, der Kapitän zur See wurde. Da war zuerst Fachwissen, dann Erfahrung und irgendwann die Empfehlung von einem, der beides bemerkt hat. „Überall heißt es, Menschenführung sei das Wichtigste, aber niemand hat je nach meiner Qualifikation dafür gefragt.“ Wenn schönes Wetter war auf ihrer Reise, und der Dienst getan, lagen sie ausgestreckt auf den Planken. Und eines Tages fuhr der verlorene Krieg in Gestalt der beschlagnahmten alten Gorch Fock, jetzt unter russischer Flagge, umbenannt in „Towarischtsch“, an ihnen vorbei. Die Kadetten standen stramm, die Offiziere grüßten in Richtung Vergangenheit. Aber ihre unmittelbare Zukunft, damals, 1959, lag voraus. Sie sah rosig aus, sonnig und war nicht mehr weit: Teneriffa.
„Wissen Sie, wie man uns dort nannte?“, fragt Oltmanns. Die „Lords“. Sie wurden in einen Club eingeladen, schwammen im Pool, und livrierte Kellner brachten Getränke. Sie füllten ihre weißen Uniformen optimal aus. Vormittags Dienst, nachmittags Landgang. Die Tischdecken, die er dort kaufte, besitzt er noch heute. Er sah auf der Rückreise zum ersten Mal eine Walherde, die Tiere bliesen aus ihrem Loch. Delphine umkreisten sie. Oltmanns erinnert sich an eine Welt voller Schönheit und geblähter Segel.
Geht einer von Bord, gehören auch die „Missstände“ zur eigenen Biografie. Sie werden schlagartig ein durchstandenes, erzählenswertes Abenteuer. Und von der Gorch Fock, benannt nach einem Schriftsteller, wird viel erzählt. Denn niemand, außer den Beteiligten, kann wirklich wissen, was sich dort draußen abgespielt hat.
Oltmanns, der spätere Spezialist für U-Boot-Jagd, Kommandant mehrerer Torpedofangboote, lernte natürlich woanders, wie man von den Geräuschen eines Sonargeräts auf die Bewegung eines U-Boots schließt. Wie er, zuständig für die taktische Nahaufklärung in der Ostsee, im kalten Krieg einen kühlen Kopf bewahren konnte.
Er entwickelte sich zu einem Menschen, dem Willy Brandts Entspannungspolitik früh einleuchtete, der in der Armee Potenzial zum Sparen sah. Der sich deshalb nicht nur Freunde machte. Der seinen Hut nahm und eine zweite Karriere im Bundestag begann. 1976 ging er als SPD- Mann ins Verteidigungsministerium, er war Referent, da hatte er nichts mehr mit der Seefahrt und Kanonen zu tun.
Aber stimmt der Mythos? Wird ein anderer Mensch, wer auf der Gorch Fock war? Oltmanns zählt an den Fingern auf. „Reifer. Verantwortungsbewusster. Kritischer. Fit wie ein Turnschuh.“ Und: „Der Divisionsoffizier war hochzufrieden mit mir. So was Gutes hatte noch nie jemand über mich gesagt.“ Er sei dadurch selbstbewusster geworden.
Teo Oltmanns, der heute eine Galerie betreibt, sitzt zu Hause, in Gedanken an Bord. Er fragt sich, wie die Offiziersanwärterin Jenny Böken über ein brusthohes Schanzkleid fallen konnte. Er fragt sich, wieso der Kommandant ihren Eltern angeblich den Platz hat zeigen können, von dem aus Böken ins Meer gefallen ist, wenn doch niemand es gesehen hat? Er kneift die Augen zusammen: „Suizid? – Gar Mord?“
Er bemerkt, dass Sarah Seele an einer kritischen Stelle aus dem Mast stürzte, nämlich am Übergang von einer Plattform auf das Seil. Sollte ein Ausbilder wirklich gesagt haben, stell dich nicht so an, nachdem sie nach dem sechsten Mal nicht mehr konnte, wäre das höchst fahrlässig. Man muss nämlich an der Plattform außen um die Auskragung herumklettern. Einige Momente hängt das Körpergewicht frei an einem Arm. Und bei Erschöpfung öffnen sich die Hände.