Nach dem Brüsseler Marathon-Gipfel: Was die EU-Milliarden bringen – und wer dafür zahlt
Die EU-Staaten haben sich auf ein 1,8-Billionen-Paket geeinigt. Wie werden die Mittel aus Brüssel finanziert? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Am Dienstag um 5.31 Uhr, am Morgen des fünften Tages des Brüsseler Marathon-Gipfels, stand die endgültige Einigung über das größte Haushalts- und Finanzpaket in der Geschichte der EU. Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten einigten sich auf ein Paket, das insgesamt ein Volumen von rund 1,8 Billionen Euro hat.
750 Milliarden Euro sollen dabei für einen neuartigen Corona-Hilfsfonds lockergemacht werden, der vor allem Italien und Spanien dabei helfen soll, aus der Krise zu kommen. Eine Einigung gab es auch beim billionenschweren Finanzrahmen der EU für die kommenden sieben Jahre.
Wie funktioniert der Hilfsfonds und wer hat sich bei den Verhandlungen durchgesetzt?
Finanziert wird der Corona-Hilfsfonds, aus dem in den kommenden drei Jahren die Hilfen fließen sollen, mit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme durch die EU. Dabei haften die Mitgliedsländer lediglich anteilig. Die EU-Kommission nimmt Anleihen über 750 Milliarden Euro auf, die Tilgung erfolgt bis 2058 über den EU-Haushalt. Das bedeutet, dass auf die EU-Länder mit dem Beginn der Tilgung höhere Einzahlungen in den EU-Haushalt zukommen.
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Bemerkenswert an der Finanzierung ist, dass die EU damit erstmals Schulden im großen Umfang aufnimmt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zuvor im Mai eine überraschende politische Kehrtwende gemacht und diese Lösung zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in der EU gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagen.
Für die Gruppe der „sparsamen“ Länder – die Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland – war es nicht einfach, die Schuldenaufnahme durch die EU zu akzeptieren. Im Gegenzug verlangten die fünf Länder einen geringeren Anteil nicht rückzahlbarer Zuschüsse im Corona-Hilfsfonds. Damit setzten sie sich durch und erreichten eine Senkung der Zuschüsse von 500 auf 390 Milliarden Euro.
Vor allem zu Lasten Italiens und Spaniens geht die beim Gipfel gefundene Regelung, dass der Anteil der rückzahlbaren Kredite am Hilfsfonds auf 360 Milliarden Euro steigt. Allerdings hatte der niederländische Regierungschef Mark Rutte ursprünglich gefordert, gar keine Zuschüsse zu vergeben. Damit konnte er sich nicht durchsetzen.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hob am Dienstag nach der Einigung hervor, dass der Corona-Plan bei diesem Marathon-Gipfel unter Dach und Fach gebracht wurde, obwohl ihr eigener Vorschlag für den Corona-Hilfsfonds noch nicht einmal zwei Monate alt ist. „Das ist in der Historie der EU ein absoluter Rekord für ein neues Haushaltsinstrument“, sagte sie.
Wie wird kontrolliert, dass das Geld sinnvoll eingesetzt wird?
Mark Rutte kann in seinem Heimatland vorweisen, dass im Abschlusstext des Gipfels eine „Super-Notbremse“ verankert wurde. Sie gibt einzelnen Staaten wie den Niederlanden die Möglichkeit, die Auszahlung von Corona-Hilfen vorübergehend zu stoppen. Mit dieser Regelung haben die Geberländer die Möglichkeit, zu überprüfen, ob die Nehmerländer im Gegenzug für die Hilfen auch tatsächlich Reformen umsetzen.
Die „Super-Notbremse“ sieht vor, dass sich die 27 Staats- und Regierungschefs noch einmal über die Reformpläne eines Empfängerlandes beugen müssen, wenn es in der Frage der Umsetzung zum Streit kommt. Ein lupenreines Vetorecht, wie es der niederländische Regierungschef, der sich nächstes Jahr zur Wiederwahl stellt, zunächst gefordert hatte, ist dies aber nicht.
Was bedeutet der Deal für Deutschland finanziell?
Deutschland muss als wirtschaftsstärkste Nation in der Gemeinschaft nach einem EU-internen Schlüssel 27 Prozent des Hilfsfonds stemmen. Von den Zuschüssen in Höhe von 390 Milliarden Euro könnte Berlin also bis zum Ende der Tilgungsfrist 2058 die Summe von 105 Milliarden Euro übernehmen.
Auch bei den planmäßigen Einzahlungen in den Sieben-Jahres-Etat der Staatengemeinschaft ab 2021 werden auf Deutschland erwartungsgemäß höhere Beiträge zukommen, da Großbritannien durch den Brexit als Nettozahler wegfällt. Brutto – also ohne Einberechnung der Rückflüsse aus Brüssel – wird Deutschland pro Jahr künftig rund zehn Milliarden Euro mehr als bisher in den EU-Haushalt einzahlen, berichtete die Deutsche Presse-Agentur unter Berufung auf Regierungskreise in Berlin.
Insgesamt umfasst der neue EU-Haushalt 1074 Milliarden Euro, wie auch ursprünglich von EU-Ratschef Charles Michel vorgesehen.
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Merkel beteiligte sich beim Gipfel nicht an der von den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Schweden angezettelten „Rabattschlacht“ der Nettozahler. Die vier Länder konnten erreichen, dass ihnen in den kommenden sieben Jahren bei den Einzahlungen in die EU-Kasse zusätzliche Nachlässe von insgesamt 7,86 Milliarden Euro garantiert werden.
Am Dienstagmorgen erklärte die Kanzlerin mit Blick auf die Geschenke für die „sparsamen“ Länder, dass der Kompromiss „natürlich auch durchaus Schmerzen bereitet“. Andererseits kann Deutschland auch künftig an seinem ohnehin schon geplanten Rabatt festhalten: Berlin erhält bei den Einzahlungen pro Jahr einen Nachlass von 3,7 Milliarden Euro. Zudem sollen ostdeutsche Regionen laut der Gipfel-Einigung in der nächsten Sieben-Jahres-Periode des europäischen Etats 650 Millionen Euro zusätzlich erhalten.
Wie nimmt Italien die Einigung auf und was ist dort mit dem Geld geplant?
In Rom lässt sich Premier Giuseppe Conte als großer Gewinner des Gipfels feiern. Ihm ist es mit hartnäckigem Verhandeln gelungen, für sein von der Corona-Krise schwer gebeuteltes Land 208,8 statt der ursprünglich geplanten 172 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds herauszuholen (81,4 Milliarden an Zuschüssen und 127,4 Milliarden an Krediten).
Es gelang ihm auch, das von Rutte geforderte Veto-Recht bei der Auszahlung der Zuschüsse abzublocken und durch einen milderen Mechanismus zu ersetzen. „Wir haben die bestmögliche Lösung für Italien erhalten“, frohlockte Conte in den frühen Morgenstunden nach dem Ende des Gipfels. Und: „Die EU-Wiederaufbauhilfe stärkt den Handlungsspielraum der Regierung: Mit den 209 Milliarden Euro haben wir die Möglichkeit, Italien zu einem Neubeginn zu verhelfen.“
Der politische Sieg der Italiener über die Niederländer heißt nicht, dass alle Bedenken Ruttes unbegründet wären. Die 209 Milliarden Euro an EU-Hilfen werden in ein Land fließen, wo die Steuerhinterziehung grassiert, die Bürokratie die unternehmerische Initiative behindert, das einen gigantischen Schuldenberg vor sich her trägt und das sich in den vergangenen 20 Jahren als resistent gegen die meisten Reformbemühungen erwiesen hat.
Die einzige Reform, die diesen Namen verdient, war die Erhöhung des Rentenalters durch die Regierung von Mario Monti im Jahr 2012 gewesen – und diese wurde von der Vorgänger-Regierung Contes aus Protestbewegung und rechtspopulistischer Lega wieder weitgehend rückgängig gemacht.
Vor wenigen Wochen hat das Parlament zwar eine Verwaltungsreform verabschiedet, welche die bürokratischen Abläufe vereinfachen und bürger- und unternehmerfreundlicher gestalten soll. Experten sind freilich skeptisch und befürchten im schlimmsten Fall eine gegenteilige Wirkung. Eine Steuerreform, mit der die Steuerhinterziehung und die Schwarzarbeit wirksam bekämpft würde, ist weit und breit nichts zu sehen. Conte ist sich durchaus bewusst, dass die EU Italien auf die Finger schauen wird: „Wir haben eine große Verantwortung und werden ambitionierte Reformen durchführen“, erklärte er in Brüssel.
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Conte hat mit der für Italien vorteilhaften Einigung nicht nur einen europapolitischen, sondern auch einen innenpolitischen Sieg errungen. Seine ohnehin schon bemerkenswerte Beliebtheit dürfte nun weiter ansteigen, während die großzügigen Hilfen für Oppositionsführer Matteo Salvini ein großes Problem darstellen: Dem Hassprediger gegen Brüssel, Paris und Berlin kommt nichts ungelegener als ein solidarisches Europa, das dem angeschlagenen Italien unter die Arme greift.
Am Dienstag versuchte er deshalb, den Erfolg Contes ins Gegenteil zu verkehren: „Wir erleben eine bedingungslose Kapitulation unserer Regierung“, sagte der Lega-Chef. Die EU-Hilfen würden der EU-Kommission einzig dazu dienen, Italien Bedingungen zu diktieren und das Rentenalter wieder zu erhöhen.
Wie wird die Rechtsstaatlichkeit künftig geschützt?
Da Prinzipien wie die Gewaltenteilung und die Medienfreiheit in Ländern wie Ungarn und Polen in Gefahr sind, will die EU-Kommission künftig eine Vergabe von Subventionen aus Brüssel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit koppeln. EU-Ratschef Michel hatte allerdings schon vor dem Gipfel darauf gedrungen, die Hürde für eine Kürzung von EU-Geldern hoch zu legen.
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Nach seinem Vorschlag soll eine qualifizierte Mehrheit unter den EU-Mitgliedern nötig sein, um eine Kürzung von Subventionen in die Wege zu leiten. Darauf einigten sich die Gipfelteilnehmer im Grundsatz auch. Die Details über eine konkrete Beschlussfassung zum künftigen Sanktionsmechanismus blieben nach dem Gipfel aber offen. Denkbar ist indes, dass demnächst auf Ebene der EU-Minister ein Beschluss fällt, der zum neuen Rechtsstaats-Mechanismus führt.
Warum droht jetzt Streit mit dem Europaparlament?
Das Europaparlament, das dem Finanzdeal zustimmen muss, will am kommenden Donnerstag über das Brüsseler Gipfelergebnis beraten. Auch wenn sie möglicherweise ein Scheitern des Finanzpakets nicht herbeiführen wollen, so dürften die Europaabgeordneten bei den bevorstehenden Verhandlungen mit den EU-Staaten auf Nachbesserungen dringen.
Unter anderem ist es vielen EU-Parlamentariern ein Dorn im Auge, dass die Ausgaben für eine gemeinsame Gesundheitspolitik, an der es zu Beginn der Pandemie haperte, im Sieben-Jahres-Haushalt unter die Räder zu kommen drohen. „Das ist keine Zukunftsfähigkeit Europas“, kritisierte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber im Deutschlandfunk.