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Kurz gedacht, schnell getippt – und Jahre später dann den Riesenärger?
© Kacper Pempel/Reuters

Tweets für die Ewigkeit?: Was der Fall Sarah-Lee Heinrich über Aufwachsen im Digitalen erzählt

Die Millenniumskinder wurden mit Social Media groß, ohne dass Erwachsene ihnen dabei helfen konnten. Die Überforderung wird gerade offenbar. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

An diesen Tweet könne sie sich nicht erinnern, bekundet Sarah-Lee Heinrich. Die neue Bundessprecherin der Grünen Jugend soll 2015, vermutlich sarkastisch gemeint, auf ihrem Twitter-Account das Wort „Heil“ unter ein Hakenkreuz getippt haben. Heinrich kam 2001 zur Welt, sie war 2015 ein Teenager und aktiv, wie sie sagt, in einer „antifaschistischen Jugendorganisation“. Das Wort sei „dumm und unangebracht“ gewesen, erklärt sie nun. Wie auch immer, die digitale Spur war im Netz zu finden, bis sie jetzt gelöscht wurde.

Als Millenniumskind wurde Heinrich mitten ins digitale Zeitalter hineingeboren und wuchs wie alle Kinder ihrer Generation zwischen Bildschirmen und Displays, Klicks, Posts, Chats, Tweets und Likes auf. In aller Selbstverständlichkeit teilen, „sharen“ junge Leute mit einer kaum kontrollierbaren Öffentlichkeit, was sie im Augenblick bewegt, irritiert, begeistert, womit sie angeben oder wie sie gerade gesehen werden wollen.

[Lesen Sie hier bei T-Plus: Die neue Sprecherin der Jungen Grünen im Porträt: "Ich war schon immer streitlustig".]

Verwehte früher im Lauf der Zeit ein flapsiger Spruch, ein politischer Unfug, ein flüchtiges Verhältnis oder blieb auf vergilbendem Briefpapier in der Schublade liegen, flirrt all das heute offen durch ein gemeinsam besiedeltes Digitalien, sichtbar für Tausende.

„Ich war jung und brauchte die Aufmerksamkeit“

Sprichwörtlich heißt es oft, halb zerknirscht, halb ironisch: „Ich war jung und brauchte das Geld“, wenn sich jemand zu ehemaligen, irregulären Tätigkeiten bekannte. Bald könnte eine neue Formel lauten: „Ich war jung und brauchte die Aufmerksamkeit.“ Vorsicht, Rücksicht, Einsicht kommen oft zu spät. Freilich gab es das Ressort der aufgedeckten Jugendsünden schon vor dem Digitalen. Archive aus Papier und Zelluloid wurden durchforstet, um Joschka Fischer das Steinewerfen bei Krawallen nachzuweisen, oder Schauspielern, dass ihre Karriere mit dem „Schulmädchen-Report“ anfing. Doch noch nie war derart massenhaft Material von Menschen für derart große Massen anderer Menschen abrufbar.

Der Sprung ins Digitale war epochal wie die Erfindung des Feuermachens

Ältere Erwachsene von heute zählen zu den letzten Generationen in der Gesamtgeschichte der Kulturtechniken, die noch prädigital groß geworden sind. Der Sprung ins Digitale ist womöglich so epochal wie die Erfindung des Feuermachens. Doch vom gigantischen Kosmos der Kommunikation, in dem die digitale Welt zu einem flirrenden Kontinent verschmilzt, haben Gesellschaften zugleich noch lange nicht genug verstanden.

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Als die erste Generation digital aufwuchs, waren kaum Erwachsene da, die ihr als Wegweiser dienen konnten. Auch darum zeigt sich als Gegenpol zur Utopie sozialer Netzwerke eine Dystopie des asozialen Netzes. Nicht nur, weil viele Leute den digitalen Raum als rechtsfrei auffassen, sondern schlicht auch deshalb, weil das Private unwillentlich ins Öffentliche diffundiert, weil mit den häufig uneinholbaren digitalen Spuren öffentliches Erinnern und Vergessen nicht mehr von Individuen beeinflusst werden können. Nur im eigenen Account lässt sich etwas löschen, und oft geschieht das nur dann, wenn es bereits Aufruhr gab – und schon Kopien zirkulieren.

Die Unhintergehbarkeit von Erfahrungen der menschlichen Seele

„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, schrieb William Faulkner Mitte des 20. Jahrhunderts. Er meinte damit die Unhintergehbarkeit von Erfahrungen der menschlichen Seele und benannte auf seine Weise die Erkenntnis von Sigmund Freud zum Unbewussten als großem Speicher von Erfahrungen und Eindrücken. Freuds Forschungsreisen in diesen Speicher fanden im diskreten Raum statt, zu dessen Rahmen das absolute Schweigegebot der Therapierenden gehört.

Neben allem anderen produziert der Megaspeicher des Digitalen eine unübersehbare, intime Dateninflation aus Fragmenten vergangener Affekte, Haltungen und Impulse, die, anders als im Therapieraum, selten Sinn stiften. Wie hier die Balance zwischen intim und öffentlich, spontan und reflektiert gesucht und gefunden werden kann, das wird eine der zentralen Lernaufgaben der kommenden Jahre, vielleicht auch die eines künftigen Digitalministeriums.

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