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Hunderte Menschen warten vor dem Impfzentrum des Landkreises Vorpommern-Greifswald.
© Stefan Sauer/dpa-Zentralbild/dpa
Update

Impfungen für alle ab Juni?: Was das Ende der Priorisierung für die Impfkampagne bedeutet

Bald soll sich jeder gegen Corona impfen lassen können. Reichen die Kapazitäten? Zentren und Ärzte ringen um Vakzine und Patienten – doch es gibt erste Vorstöße.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geht davon aus, dass die Priorisierung beim Impfen gegen das Coronavirus im Juni aufgehoben werden kann. Derzeit seien bereits die Hälfte der über 60-Jährigen in Deutschland mindestens einmal geimpft, sagte der CDU-Politiker am Donnerstag im Bundesrat.

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Im Mai könne entsprechend mit der Impfung der Prioritätsgruppe 3 begonnen werden - das sind alle älter als 60-Jährigen und weitere Menschen in systemrelevanten Berufen oder besonders hohem Ansteckungsrisiko. Dies lasse darauf schließen, dass Bund und Länder "dann im Juni die Priorisierung werden aufheben können" - sollte das früher möglich sein, wäre er froh, sagte Spahn am Donnerstag im Bundesrat.

Die geltenden Impfpriorisierungen wurden nach Vorschlägen des Deutschen Ethikrates festgelegt, um zuerst besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe - alte Menschen, Vorerkrankte und Berufsgruppen mit besonders hohem Infektionsrisiko - vor Ansteckungen und besonders schweren Verläufen der durch das Coronavirus verursachten Krankheit Covid-19 zu schützen.

Berlin gab Astrazeneca am Donnerstag für alle frei

Erste Lockerungen gibt es bereits: Berlin gab Impfungen mit Astrazeneca am Donnerstag für alle Interessenten frei. Der Impfstoff könne ab sofort in den Arztpraxen unabhängig von der Priorisierung nach der Impfverordnung des Bundes verimpft werden, teilte die Senatsgesundheitsverwaltung mit. Damit schloss sich die Hauptstadt einem Vorstoß von Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern an, die zuvor bereits ähnliches verkündet hatten - und überholte Spahn kurz nach dessen Rede im Bundesrat.

Bei den Corona-Impfungen könnte wohl im Juni keine offiziell festgelegte Reihenfolge mehr nötig sein, verkündete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Donnerstag.
Bei den Corona-Impfungen könnte wohl im Juni keine offiziell festgelegte Reihenfolge mehr nötig sein, verkündete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Donnerstag.
© Wolfgang Kumm/dpa

"Mit dieser Entscheidung werden wir der aktuellen epidemiologischen Lage gerecht, so wie es auch die Impfverordnung vorsieht", erklärte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). "In der aktuellen Infektionswelle kommt es darauf an, möglichst viele Menschen möglichst bald zu immunisieren – auch mit dem aufklärungsintensiven Astrazeneca-Impfstoff."

Bereits seit Anfang April werde in Berlin bei der Erstimpfung Astrazeneca nur in Haus- und Facharztpraxen verimpft, erläuterte die Gesundheitsverwaltung. Dabei sei die Zielgruppe bisher auf die Paragrafen 2 und 3 der Impfverordnung begrenzt gewesen und lediglich der Personenkreis der 60- bis 69-Jährigen schon mit einbezogen worden.

Brandenburg hielte Astrazeneca-Freigabe für "populistisch und unseriös"

Die Nachbarn Berlins ticken durchaus anders: Brandenburg plant derzeit nämlich keine Astrazeneca-Freigabe für alle. „Astrazeneca wurde in Brandenburg stets gut nachgefragt und wir haben alle aktuellen Bestände in die impfenden Arztpraxen gesteuert“, teilte der Sprecher des Innenministeriums, Martin Burmeister, am Donnerstag in Potsdam mit. Dort könnten sich alle über 60-Jährigen damit impfen lassen, rund 6000 Erstimpfungen pro Tag mit diesem Impfstoff gebe es in den Hausarztpraxen. Für dieses Tempo reiche der Bestand.

[Impfstoff-Forscher Leif Erik Sander von der Berliner Charité und Tagesspiegel-Gesundheitsredakteur Ingo Bach beantworten Fragen rund ums Impfen. Hier können Sie live Ihre Fragen stellen.]

„Es wäre populistisch und unseriös, Astrazeneca darüber hinaus für alle freizugeben. Wir würden den Menschen damit eine Verfügbarkeit vorgaukeln, die es nicht gibt“, erläuterte Burmeister. Brandenburg werde Prioritätengruppen weiter in der Reihenfolge freigeben, in der sie von Corona-Infektionen bedroht seien. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg (KVBB) plädierte dafür, sich vorerst an die Priorisierung zu halten.

Wie ist Berlin auf Impfungen für alle Bevölkerungsgruppen vorbereitet?

In Berlin organisiert das Deutsche Rote Kreuz die Impfzentren. Der Berliner Präsident des DRK, Mario Czaja, sagte dem Tagesspiegel: „Bis weit in den Juni sind unsere Impfzentren ausgebucht – und zwar mit Berlinern, die älter als 70 Jahre oder chronisch krank sind. Die Priorisierung in sechs Wochen aufzuheben, ist dennoch richtig. Erstens haben alle Risikopatienten bis dahin die Möglichkeit gehabt, einen Termin zu vereinbaren. Zweitens: Die Zentren können im Juni wieder mehr, auch die vielen zu erwartenden Jüngeren impfen. Drittens: auch die Arztpraxen werden das leisten können. Denn schon jetzt ist klar, dass viele Jüngere sich in Praxen impfen lassen – insbesondere mit Dosen, die übrig geblieben sind."

Insofern ist aus Sicht von Czaja keine grundsätzlich neue oder erweiterte Infrastruktur für die Aufhebung der strengen Priorisierungsregeln notwendig. Dies sehen auch niedergelassene Ärzte in der Hauptstadt so. In Berliner Praxen hat es bisher mehr als 100.000 Corona-Impfungen gegeben, hatte die zuständige Kassenärztliche Vereinigung am Mittwoch mitgeteilt. Derzeit impfen 1400 Berliner Praxen gegen Sars-Cov-2.

Impfzentren sollen bestehen bleiben

Auch viele weitere Bundesländer haben schon angekündigt, ihre Impfzentren beizubehalten - Bremen und Brandenburg etwa wollen sie auch noch weiter ausbauen. In der Hansestadt können die Kapazitäten des Impfzentrums von 2.000 bis 3.000 Impfungen am Tag auf 15.000 bis 20.000 Impfungen ausgebaut werden, heißt es dort - falls genug Impfstoffe zur Verfügung stehen.

Auch die Brandenburgerinnen und Brandenburger sollen sich ihren Schutz gegen das Coronavirus weiter in den Impfzentren holen können - unabhängig von der geplanten Steigerung der Impfungen in Arztpraxen. Das teilte Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Donnerstag in Potsdam mit.

Damit wandte sich Stübgen gegen eine Forderung der Kassenärzte, die Impfungen komplett den Ärzten zu überlassen. Stübgen hält zugleich an dem Ziel eines Impfangebots bis zum Ende des Sommers fest. „Bis Mitte September wollen wir allen den vollständigen Impfschutz ermöglichen“, sagte er. „Dafür brauchen wir ausreichend Impfstofflieferungen vom Bund und müssen alle Impfstränge optimal auslasten.“

In den kommenden Monaten sollen deutschlandweit sukzessive noch mehr Hausärzte und dann auch die Fachärzte und Betriebsärzte in die Impfkampagne einbezogen werden; schließlich auch die Praxen der Privatärzte. Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB) fordert, das Impfen in Impfzentren schnellstmöglich zu beenden und ganz auf die Haus- und Fachärzte übergehen zu lassen.

Mehr zur Corona-Pandemie:

  • Das Robert Koch-Institut (RKI) hat am Donnerstagmorgen binnen eines Tages 29.518 Neuinfektionen verzeichnet. Darin könnten Nachmeldungen aus Nordrhein-Westfalen enthalten sein.
  • Der Tagesspiegel zeigt die aktuellen Zahlen der Corona-Pandemie live in Karten und Grafiken. Demnach gibt es Stand Donnerstagmorgen 308.333 aktive Fälle in Deutschland.
  • Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.

Es gibt jetzt immer mehr Impfstoff

Dass die Impf-Liefermengen im Verlauf des Sommers extrem ansteigen werden, ist schon seit Beginn des Jahres klar. Zwar kam es wiederholt zu Lieferengpässen und zurückgezogenen Lieferzusagen, die das Vertrauen in die Impfkampagne erschütterten. Letztlich standen dem aber immer wieder Erhöhungen der Margen etwa durch BioNTech/Pfizer gegenüber, zusätzlich abgeschlossene Lieferverträge der EU – und jüngst auch die Aussicht, bald aus Russland den Vektorimpfstoff Sputnik V in großen Mengen geliefert zu bekommen.

[Mehr zum Thema Impfen mit T+: Jung, gesund – trotzdem geimpft. Lesen Sie hier die 3 legalen Tricks der Ungeduldigen.]

Kurzum: Allein anhand der Liefermenge kann derzeit mit einiger Zuversicht angenommen werden, dass die Bundesregierung ihr Versprechen tatsächlich halten kann, jedem Impfwilligen bis Ende des Sommers ein Impfangebot zu machen. Ob jeder BioNTech-Willige auch BioNTech bekommt, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Eingespieltes System zur Verteilung der Impfdosen

Für die Bestellungen und Verteilungen der Impfungen, die außerhalb der Impfzentren verabreicht werden, steht in Deutschland das eingespielte System bereit, Impfdosen über Apotheken an Arztpraxen zu verteilen. Mittlerweile sind fast alle der 50.000 deutschen Hausarztpraxen in die Impfkampagne eingebunden – und nicht nur die. So wiesen gestern gleich mehrere Facharztverbände energisch darauf hin, dass auch sie bereits bei den Impfungen mitmachten, auch wenn dies in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit untergehe.

So betonte etwa der Verband der HNO-Ärzte, dass niedergelassene Kollegen bereits seit zwei Wochen eingebunden seien, „entgegen den Äußerungen einzelner Ärztevertreter“. Dahinter steckt der traditionelle Konflikt zwischen Fach- und Hausärzten, der nun auch bei der Impfkampagne zum Tragen kommt: So stören sich die Fachärzte sichtlich daran, nicht offensiv genug als Ansprechpartner für impfwillige Patienten benannt zu werden.

Bereit für mehr Impfwillige: Ein Impfzentrum im brandenburgischen Rathenow
Bereit für mehr Impfwillige: Ein Impfzentrum im brandenburgischen Rathenow
© imago/Jochen Eckel

Tatsächlich besteht damit die Gefahr, Impfpotenzial zu verschenken. „Die sehr einseitige Kommunikation“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Facharzt-Spitzenverbands Lars Lindemann, „irritiert die Patienten“. Rund 40.000 Facharztpraxen gibt es in Deutschland, würden alle eingebunden, könnte das die Zahl der Verimpfungen allein im Bereich der ambulanten Ärzte nochmal verdoppeln.

„Durch die sichtbar steigenden Impfstoffmengen werden wir die in den letzten Wochen noch zu bewältigende Mangelsituation bald hinter uns lassen“, sagt Lindemann – und plädiert für eine „zeitnahe“ Einstellung der bislang noch geltenden Impf-Priorisierung.

[Mehr zum Thema: Wie wahrscheinlich sind Impfreaktionen wirklich?]

Dirk Heinrich, Präsident des HNO-Verbands und Vorstandschef des Fachärzte-Spitzenverbands betonte gestern, dass es weiterhin ein Nebeneinander von Impfzentren der Länder und niedergelassenen Ärzten bei der Impfkampagne brauche – Heinrich selbst impft regelmäßig in einem Hamburger Impfzentrum. „Die Debatte, wer jetzt vorranging mit Impfstoff beliefert werden sollte, wird künstlich angeheizt und ist überflüssig. Es gibt keine Konkurrenz zwischen Impfzentren und Arztpraxen.“ Auch Heinrich geht davon aus, dass man „in wenigen Wochen“ mit der „Priorisierung durch ist“. Spätestens im Juni werde sich der Schwerpunkt der Impfungen dann auf die Arztpraxen verlagert haben.

Nach aktuellen Angaben des Bundesgesundheitsministeriums werden im April zwei Millionen Dosen BioNTech an die Arztpraxen geliefert. Im Mai sollen es dann pro Woche 1,6 Millionen sein, im Juni 3,5 Millionen – Prognosen für Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson&Johnson fehlen in der Auflistung. Auf jeden Fall dürfte spätestens im Juni so viele Impfdosen außerhalb der Impfzentren zur Verfügung stehen, dass auch die Kapazitäten im niedergelassenen Bereich knapp werden. Es dürfte dann die vom Gesundheitsministerium bereits angekündigte Einbindung der Betriebsärzte beginnen.

Die Impfbereitschaft in Deutschland steigt

Während im November noch 57 Prozent der Deutschen bereit waren, sich gegen Sars-CoV-2 impfen zu lassen, sind es inzwischen 67 Prozent. Vor allem jüngere Menschen sind gegenüber einer Impfung gegen das Coronavirus jetzt aufgeschlossener, berichtet der "Spiegel": Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, stieg in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen von 36 Prozent im November auf 51 Prozent im April. Bei den 25- bis 34-Jährigen stieg sie von 47 Prozent auf 60 Prozent an. "Wenn einige Menschen geimpft sind, die man kennt, dann sinken auch die eigenen Bedenken", sagt Jonas Schreyögg, Gesundheitsökonom und wissenschaftlicher Direktor am Hamburg Center for Health Economics (HCHE), dem "Spiegel".

Die allgemeine Impfbereitschaft von 67 Prozent hält Schreyögg allerdings immer noch für zu niedrig: "Dieser Anteil reicht nicht, um die Pandemie zu beenden", sagte er. "Denn selbst wenn sich diese 67 Prozent Impfwilligen tatsächlich alle impfen lassen, haben wir trotzdem noch 33 Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen oder unsicher sind, plus Kinder und Jugendliche sowie Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können", so Schreyögg.

Fast jede:r Dritte lehnt eine Astrazeneca-Impfung ab

29 Prozent der befragten Deutschen gaben an, dass sie eine Impfung mit dem Impfstoff von AstraZeneca ablehnen würden. Die Ablehnung gegenüber dem britisch-schwedischen Impfstoff falle damit sogar viel höher aus als gegenüber dem russischen Impfstoff Sputnik V oder dem chinesischen Impfstoff Sinopharm, so Schreyögg.

Das HCHE fragte auch die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung ab. Nur sechs Prozent der befragten Deutschen gab an, mit den Maßnahmen gegen die Coronapandemie in Deutschland vollkommen einverstanden zu sein. 23 Prozent gaben hingegen an, mit dem Pandemiemanagement der Regierung vollkommen unzufrieden zu sein, 26 Prozent sagten, sie seien unzufrieden. (mit dpa)

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