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Das umstrittene Holocaust-Gesetz sieht bis zu drei Jahre Haft vor, wenn jemand dem polnischen Volk oder Staat die Verantwortung für vom „Dritten Reich“ begangene Nazi-Verbrechen zuschreibt.
© REUTERS

Polen: Warum Israel Warschaus Holocaust-Gesetz fürchtet

Mit dem Holocaust-Gesetz will Polens Regierung den Ruf des Landes schützen. Israel befürchtet, dass es eine offene Debatte über historisch belegte Verbrechen verhindern könnte.

Seit fast drei Jahrzehnten setzt sich der israelische Holocaust-Überlebende Schmuel Atzmon intensiv für eine Versöhnung mit Polen ein. Immer wieder reist er in die alte Heimat, um dort die jüdische Kultur neu aufleben zu lassen. Der heftige Streit um ein neues Gesetz in Polen setzt dem 88-jährigen Gründer des Theaters „Jiddisch-Spiel“ in Tel Aviv stark zu. „Es ist sehr schmerzhaft für mich, was da passiert“, sagt Atzmon der Deutschen Presse-Agentur. „Jeder von uns trägt die Erinnerung in sich, die Geschichte, die er erlebt hat. Kein Gesetz kann das ändern.“

Eine umstrittene Vorschrift sieht Geldstrafen oder bis zu drei Jahre Haft vor, wenn jemand öffentlich und entgegen den Fakten dem polnischen Volk oder Staat die Verantwortung oder Mitverantwortung für vom „Dritten Reich“ begangene Nazi-Verbrechen zuschreibt. Dies betrifft auch andere Verbrechen gegen den Frieden, die Menschheit oder Kriegsverbrechen. Bestraft werden kann auch, wer die Verantwortung der tatsächlichen Täter dieser Verbrechen extrem schmälert. Die umstrittenen Regelungen müssen noch vom Senat verabschiedet und vom Staatsoberhaupt unterschrieben werden, um in Kraft zu treten. Aus israelischer Sicht darf dies nicht passieren.

Der Zweite Weltkrieg hatte am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen. Durch Krieg und Besatzung, Zwangsarbeit und Terror kamen sechs Millionen Polen ums Leben, darunter drei Millionen polnischer Juden als Opfer des Holocaust.

Mit den strengen Strafen will Polens Regierung den Ruf des Landes schützen. Besonderen Zorn löst der historisch falsche Begriff „polnische Todeslager“ aus. „In diesem Fall haben sie Recht - es sind keine polnischen Vernichtungslager, sondern Lager, die die Deutschen auf polnischem Boden errichtet haben“, sagt David Silberklang, ein führender Historiker der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Es sei jedoch „völlig übertrieben“, für die Verwendung des irreführenden Begriffs Haftstrafen von bis zu drei Jahren anzudrohen.

In Israel wird befürchtet, das polnische Gesetz solle eine offene Debatte über historisch belegte Verbrechen polnischer Bürger an ihren jüdischen Nachbarn während der deutschen Besatzung im Keim ersticken. „Das Thema ist die legitime und wichtige Freiheit, über die Beteiligung von Polen am Mord an Juden zu sprechen, ohne Angst vor Bestrafung“, sagt ein Sprecher des israelischen Außenministeriums.

Polens Institut für Nationales Gedenken (IPN), das historische Aufklärung betreibt und auch staatsanwaltlich ermittelt, hält das Gesetz jedoch für gerechtfertigt. Polen sei in den letzten Jahrzehnten vielfach verleumdet und als „Hitlers Komplize“ dargestellt worden, argumentiert die Behörde, die das neue Gesetz nach dessen Inkrafttreten ausführen soll.

Der stellvertretende Vorsitzende der IPN-Behörde, Dr. Mateusz Szpytma, hält Sorgen von Kritikern, Polens Regierung könne das Gesetz benutzen, um Fälle der bewiesenen Mitverantwortung Polens zu leugnen, für unbegründet. Strafen riskierten nur diejenigen „die entgegen den Fakten“ über Polen sprechen würden, zitiert er aus dem Gesetzestext. „Es gibt also keine Möglichkeit, dass gegen jemanden ermittelt wird, der über etwas spricht, das stattgefunden hat“, meint er. Zudem würden Kunst und Wissenschaft von Strafen im Gesetzestext ausgenommen.

Das Gesetz sei unpräzise, kritisieren Wissenschaftler

Polnische Forscher beruhigt das nicht. Die Formulierung des Gesetzes sei weit gefasst und unpräzise, meinen Wissenschaftler des Zentrums für Holocaustforschung der polnischen Akademie der Wissenschaften. Sie würden Regierenden und Behörden Interpretationsspielraum geben und die Möglichkeit, sie in ihrem Sinne auszulegen, meinen sie und warnen: „Das ist eine Gefahr für das ganze öffentliche Leben und die andauernde Debatte über die polnische Vergangenheit.“ Eine Einflussnahme drohe in den Bereichen Publizistik und Bildung und damit auch in Kunst und Wissenschaft.

Auch Professor Jan Spiewak, Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, sieht diese Bereiche nicht vor Strafen gefeit: „Es wird nicht erläutert, was eine künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeit ist“, kritisiert er den Gesetzestext. Viele Forschungen würden von Menschen ohne wissenschaftlichen Titel geführt, argumentiert er und hält das Gesetz für einen Rückschritt bei der Forschungsfreiheit und Verbreitung von Wissen.

Das Misstrauen gegen die Warschauer Regierung hat ihre Gründe. So hatten nationalkonservative Politiker in der Vergangenheit bereits eine kritische Auseinandersetzung mit Polens Geschichte im Film „Ida“ als antipolnisch kritisiert. In dem Oscar-prämierten Werk von Pawel Pawlikowski werden die Eltern einer Nonne jüdischer Herkunft während der deutschen Besatzung von einem polnischen Nachbarn getötet.

„Das Gesetz ist nicht gut, es ist undemokratisch und propagandistisch“, sagt der 82-jährige emeritierte israelische Geschichtsprofessor Schimon Redlich, auch ein Holocaust-Überlebender aus Polen. „Man muss dagegen vorgehen, aber einige Reaktionen in Israel sind etwas hysterisch.“ Er habe „große Zweifel, dass sie dieses Gesetz wirklich anwenden werden, vor allem, nachdem es so viel Lärm darum gibt.“

Als „Gerechte unter den Völkern“ ehrt Yad Vashem nichtjüdische Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens Juden retteten. Mit bisher 6706 Gerechten gingen die meisten Auszeichnungen an Polen.

Historisch sehe Polen sich als Opfer Russlands und Deutschlands, aber auch als moralisch hochstehendes Volk, sagt Redlich. Diese Selbstsicht könnte durch Geschichten grausamer Verbrechen von Polen an jüdischen Nachbarn getrübt werden.

Der an der renommierten US-Universität Princeton lehrende Historiker Jan Tomasz Gross hatte in seinem Buch „Nachbarn“ im Jahr 2000 die Ermordung der Juden von Jedwabne durch ihre polnischen Nachbarn im Juli 1941 beschrieben. Die Opfer wurden lebend in einer Scheune verbrannt. Zuvor war der Mord jahrzehntelang den Deutschen angelastet worden. Das Buch von Gross löste eine lange und kontroverse Debatte über das polnisch-jüdische Verhältnis und Antisemitismus auch während des Zweiten Weltkrieges aus. Für viele Polen war es bis dahin undenkbar gewesen, dass auch Polen Verbrechen an Juden begangen haben könnten.

„Eine Gesellschaft kann gleichzeitig Opfer sein und eine andere Gruppe zum Opfer machen“, meint Redlich. Polen habe während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Besatzung gelitten, gleichzeitig habe es schwere Übergriffe von Polen auf Juden gegeben. „Trotzdem darf man nicht vergessen - die Deutschen waren die Haupttäter.“

Schmuel Atzmon glaubt weiter, dass die jüdisch-polnische Kultur eine Brücke darstellt zwischen beiden Völkern. „Wir müssen die kommenden Generationen stärken, meine Enkel und die Enkel der Polen“, sagt der 88-Jährige mit den weißen Locken und dem weißen Bart. „Aber wir müssen die echte Geschichte (des Holocaust) erzählen, damit sich diese Dinge nicht wiederholen.“ (dpa)

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