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In der Hauptstadt Budapest gibt es regelmäßig Demonstrationen gegen die Regierung Orbán.
© REUTERS

Ungarns Opposition ist hoffnungsvoll: Warum ein linker Stadtteil von Budapest Orbán gefährlich werden könnte

Viktor Orbán ist übermächtig, doch in Budapest gibt es eine linke Enklave. Jetzt will von dort der Oppositionelle Karácsony durchstarten – mit guten Chancen.

In der holzvertäfelten Aula der Musikschule zum Heiligen Stephan singen rund 200 Kindergärtnerinnen die ungarische Nationalhymne: „Gott, segne die Ungarn“. Budapest im Frühling 2019, es ist der nationale Tag der Kinderkrippen. Und vor den Frauen steht ein Mann mit braunem Haar und rechteckiger Brille.

Er sagt: „Es ist wichtig, dass wir einmal im Jahr innehalten und uns anschauen, was wir für die Bürger von Zugló tun, die uns am wichtigsten sind: die Kleinsten.“ Wenn die Frauen wollten, könnten sie im Oktober mit ihrer Stimme zeigen, wen sie unterstützen – ihn oder die Regierung.

Der Mann ist Gergely Karácsony, 43 Jahre alt, Co-Vorsitzender der linken Partei Dialog und seit fünf Jahren Bürgermeister hier im Budapester Bezirk Zugló. Im Herbst will er Oberbürgermeister von Budapest werden.

Ungarn ist ein zentralistisches Land, ein Fünftel der Bevölkerung, etwa zwei Millionen, lebt in der Hauptstadt. Und ein Großteil der Ungarn hält der rechtsnationalen Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orbán die Treue: 52 Prozent stimmten bei der Europawahl für Fidesz.

Jene, die sich wünschen, der autoritär regierende Orbán möge an Macht verlieren, wissen aber: Wer die Hauptstadtführung innehat, kann dafür entscheidend sein, Karácsony könnte entscheidend sein. Er verspricht den Budapestern eine klimafreundliche Stadtpolitik, ein starkes Sozialnetz und ein hartes Auftreten gegen Korruption – sollte er gewinnen. Immerhin: Fast 50 Prozent der Zuglóer wählten am vergangenen Sonntag bei der Europawahl das linke Bündnis, dem auch seine Partei angehört.

Er ist einer der Guten, sagen manche. Er ist naiv, zu weich für die ungarische Politik, sagen andere.

Karácsony stammt nicht aus Budapest

120.000 Menschen leben in Zugló, der Bezirk ist der drittgrößte der Stadt – und voller Widersprüche. Zugló gilt als reich, im Westen grenzt es an den zentralen Heldenplatz, nicht weit entfernt von der Andrássy-Prachtstraße mit ihren Botschaftsvillen. Im Osten liegt eine der größten Plattenbausiedlungen des Landes.

Gergely Karacsony
Gergely Karacsony
© picture alliance/AP Photo

Gergely Karácsony stammt nicht aus Budapest, er kommt aus einer Kleinstadt im Osten des Landes, nahe der ukrainischen Grenze. Bevor er 2010 in die Politik einstieg, arbeitete er im Meinungsforschungsinstitut Medián und lehrte Soziologie an der Budapester Corvinus-Universität. Mit Politik und Wahlkampf kennt er sich sehr gut aus, jedenfalls theoretisch.

Er argumentiert gut, seine Reden sind verständlich und mitreißend. Die Kindergärtnerinnen, die Gergely Karácsony an diesem Vormittag zuhören, sind begeistert. Selbst, wenn er schon kurz nach seiner Rede verschwinden muss, zurück ins Rathaus, wo wenig später eine wichtige Bezirksversammlung ansteht. Sein Fahrer wartet vor der Tür, zum Rathaus sind es nur ein paar Kilometer.

Das Rathausgebäude liegt in einer ruhigen, schattigen Straße. Von der ockerfarbenen Fassade des Gründerzeitbaus bröckelt der Putz. Im Büro des Bezirksbürgermeisters stehen Möbel aus dunklem Holz, in der Ecke Fahnen des Bezirks und der Hauptstadt, an einer Wand hängt eine gerahmte Karte von Zugló.

Karácsony bietet sofort das „Du“ an, er wirkt sympathisch und nahbar. Politische Probleme, die er angehen möchte, skizziert er gern anhand persönlicher Anekdoten. Wie der seiner Ziehtochter, die beim Abendessen eröffnete, sie wolle mit 18 Jahren bald ausziehen. „Als meine Frau und ich ihr gesagt haben, wie viel ein Zimmer zur Miete in Budapest kostet, ist ihr die Kinnlade heruntergefallen.“

Für eine 40-Quadratmeterwohnung zahlt man in Budapest rund 400 Euro monatlich, bei etwa 800 Euro liegt ein durchschnittliches Monatsgehalt in der Hauptstadt. Eine gerechtere Wohnungspolitik, ja, das ist eines von Karácsonys Anliegen.

Orbán hat einen Plan für das Land

In den neun Jahren, seitdem Viktor Orbán das Land mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament regiert, wurden die Verfassung und Wahlgesetze nach Vorlieben der Fidesz gestaltet. Medien gehören zu 90 Prozent dem Staat oder Fidesz-Freunden. Geschäftsmänner profitieren von der Nähe zu Orbán, ob es nun sein Schwiegersohn ist oder der ehemalige Bürgermeister in seinem Geburtsort Felcsút: Lörinc Mészáros.

Nachdem Orbán an die Macht gekommen war, gewann dessen Firma Mészáros und Mészáros zahlreiche öffentliche Aufträge, verdiente zwischen 2011 und 2018 umgerechnet 1,5 Milliarden Euro, wie das Investigativportal Átlátszó.hu herausfand. Orbán hat einen Plan für das Land. Er nennt es „System der nationalen Zusammenarbeit“. Im Ranking der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International rangiert Ungarn auf Platz 64, noch hinter Rumänien.

Ungarns Premier Viktor Orbán baut sein "System der nationalen Zusammenarbeit" auf.
Ungarns Premier Viktor Orbán baut sein "System der nationalen Zusammenarbeit" auf.
© Daniel MIHAILESCU/AFP

Für linke Politiker wie Karácsony, die sich für Menschenrechte oder Umweltschutz einsetzen, die einen toleranten Sozialstaat fordern und Korruption den Kampf ansagen wollen, ist in diesem System kein Platz. Oder?

Zugló ist Karácsonys Experiment – und Wahlkampfprojekt zugleich. Er wolle zeigen, dass es möglich sei, soziale, transparente und faire Politik zu machen – selbst in dem illiberalen System, das Orbán aufgebaut hat. „Ich wollte mit den schlechten Traditionen brechen, die hier und im ganzen Land herrschen“, sagt er.

In einer der ersten Sitzungen der Bezirksverordnetenversammlung, die im November 2014 unter seinem Vorsitz stattfand, verabschiedeten die Verordneten ein Anti-Korruptionspaket, das mehrere Nichtregierungsorganisationen ausgearbeitet hatten. Die Vergabe von öffentlich Geldern sollte fortan transparent geregelt werden. Und, klappt das? „Wir sind die Ersten, die das machen. Das ist anstrengend“, sagt Karácsony.

Karácsony setzte auf Wohnen und Grundeinkommen

Generell gilt Budapest im Vergleich zu den ländlichen Regionen als liberal. Doch im gesamten Land gingen nur 15 von 106 Direktmandaten bei der vergangenen Parlamentswahl nicht an Fidesz, zwölf davon aus Budapest. Bei den letzten Kommunalwahlen 2014 wurden nur in sechs von 23 Budapester Bezirken nicht Fidesz-Bürgermeister gewählt.

Einer von ihnen ist Gergely Karácsony. „Ich war der einzige linke Bürgermeister im ganzen Land, der gewählt wurde, ohne vorher diese Position gehabt zu haben“, sagt er stolz. Die Menschen mögen Karácsony, 2018 galt er laut Umfrage von Medián als landesweit beliebtester Oppositionspolitiker. Jetzt liegt er mit 42 zu 45 Prozent knapp hinter dem derzeitigen Budapester Bürgermeister István Tarlós, der volle Rückendeckung von Viktor Orbáns Regierungspartei genießt.

In den ersten Jahren des Orbán-Regimes hatte die linke Opposition noch die Hoffnung, dass Proteste in- oder außerhalb des Parlamentes der zunehmend autoritären Regierung etwas entgegensetzen könnten. Immer wieder gab es Großdemonstrationen in Budapest, von 2011, als das neue Grundgesetz in Kraft trat, bis 2014, als die Regierung eine Internetsteuer einführen wollte.

Doch nach vier Jahren war die Linke zermürbt. Karácsony, der zunächst Abgeordneter der grünen LMP gewesen war, gründete 2014 die Partei Párbeszéd, kurz PM: Dialog. Er glaubt: Wenn man das Orbán-System stürzen möchte, muss man in Dialog treten – notfalls auch mit der korruptionsbelasteten sozialdemokratischen MSZP, mit der die PM koaliert.

Von insgesamt 21 Bezirks-Verordneten kamen neun von der Fidesz. Weil Karácsony wusste, dass die alles daran setzen würden, ihm die Arbeit zu erschweren, überließ er einen Vize-Bürgermeisterposten dem etablierten Fidesz-Politiker Zoltán Rozgonyi. Nachdem die staatliche Sozialhilfe von Orbán auf ein Minimum gekürzt worden war, führte Karácsony 2015 das „Zuglóer soziale Modell“ ein, das ein Recht auf Wohnen und ein Grundeinkommen sichert. 32000 Menschen sei damit bereits geholfen worden.

So lief alles gut – bis er Spitzenkandidat für die Oberbürgermeisterwahl wurde. Er sagt: „Die Zusammenarbeit mit Fidesz ist wie auf Knopfdruck zerbrochen.“

Viele potenzielle linke Wähler haben sich von der Politik abgewandt

Budapest sei die Gefangene der Fidesz, hier baue Viktor Orbán seine Stadien und Paläste, sagt er und fordert die Wähler auf, bei einer Umfrage abzustimmen, wofür sie das Budget der Stadt investieren würden: in bezahlbare Mieten, bessere Bildungsinstitutionen oder umweltfreundliche Transportmittel.

Er will den Bürgern zeigen, dass die Regierung über ihre Köpfe hinweg entscheidet – zum Beispiel darüber, was in Budapest gebaut werden soll. Im historischen Viertel der Budaer Burg, Unesco-Weltkulturerbe, gibt es Demonstrationen, seit Anfang des Jahres Ministerpräsident Orbán seinen Amtssitz dorthin verlegte. „Eine demokratische Regierung kann nicht in die Burg ziehen, wo einst Könige weit entfernt von den Menschen lebten. Das ist das falsche Zeichen“, sagt Karácsony.

Doch auch, wenn ein liberales Klientel in Budapest seiner Meinung sein mag, viele potenzielle linke Wähler haben sich in den letzten neun Jahren von der Politik abgewandt. Sie zeigen ihre Meinung bei Demonstrationen oder über Aktivismus– und wählen wenn überhaupt neue Parteien wie die liberale Momentum, die bei der Europawahl mit knapp zehn Prozent überraschend drittstärkste Kraft wurde. Landesweit stimmten weniger als sieben Prozent für die Koalition der MSZP-PM.

Fridays for Future in Budapest: Auch die jüngste Generation beteiligt sich an Demonstrationen für besseren Klimaschutz.
Fridays for Future in Budapest: Auch die jüngste Generation beteiligt sich an Demonstrationen für besseren Klimaschutz.
© AFP

Vor dem Rathaus hat an diesem Tag László Várnai ein Mikrofon aufgebaut. Várnai sitzt seit neun Jahren in der Bezirksversammlung von Zugló und vertritt das grüne Zuglóer Aktivistenbündnis. Karácsony hat seiner Meinung nach keine Handhabe über die langjährigen Verflechtungen und den Filz im Bezirk, sagt er. „Er lässt die Korruption einfach geschehen.“

Várnai ist 52 Jahre alt, grauhaarig, er trägt ein kariertes Hemd. Vor ihm stehen Journalisten mit Kameras, vom staatlichen Fernsehen bis zum unabhängigen Nachrichtenportal 24.hu. Eine Viertelstunde später soll die Bezirksversammlung zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Thema sind Parkuhren, deren Bewirtschaftung an eine Firma vergeben wurde, die in Korruptionsfälle verstrickt ist.

„Fidesz hat sich das überlegt, MSZP hat dafür gestimmt und Karácsony hat das Ganze abgenickt“, sagt Várnai. Transparenz, ja, die gab es, doch der Vertrag sei trotzdem schlecht gewesen.

Ganz ohne die großen Parteien, ohne Kompromisse, geht es nicht

Im Gespräch wird László Várnai nicht müde, zu betonen, dass er schon in der zweiten Generation Zuglóer sei und den Bezirk wirklich kenne. Anders als Karácsony, der hier wie mit einem Fallschirm gelandet sei, um seine politische Karriere aufzubauen. Während Karácsony viel verspreche und wenig handele, habe er sich mit seinen Kameraden des Bündnisses an die Bäume des Stadtparks gekettet, als diese für ein neues Museumsviertel abgeholzt werden sollten.

Karácsony ist mittlerweile lange genug in der Politik aktiv, um zu wissen: Ganz ohne die großen Parteien, ohne Kompromisse, geht es nicht. Der Skandal mit den Parkuhren, das sei wieder so ein Versuch, ihn zu diskreditieren, sagt er. Doch dass dies mehr als eine Lappalie ist, wird wenig später bei der Bezirksverordnetenversammlung deutlich.

Die Verordneten tagen im Hochzeitssaal des Rathauses. Er liegt im Erdgeschoss, ein quadratischer Raum mit Holzpaneelen an den Wänden. In der Mitte sitzen die 21 Bezirksverordneten an U-förmig angeordneten Tischen. Vor ihnen nehmen an einem langen Podium Karácsony und seine vier Vizebürgermeister Platz. Ein Dutzend Bewohner und Journalisten sind auch gekommen.

Karácsony beantragt, dass künftig nur das Bezirksamt Parkuhren betreiben soll. Er hofft, damit sein Ansehen als transparenter Politiker wiederherzustellen. Doch weder Fidesz noch MSZP wollen Karácsonys Vorschlag für die neue Tagesordnung diskutieren. Jede Abstimmung zeigt den Bürgermeister in der Minderheit gegen die Bezirksverordneten. Die Debatte ist heftig, nach einer Stunde wird die Sitzung abgebrochen.

Gergely Karácsony sagt, er glaube noch immer, dass Politik anders sein könne. Er würde es zu gern beweisen, als Oberbürgermeister von Budapest. Und wenn er die Wahl verliert? „Es gibt keinen Plan B.“

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