Neuer Schulvergleich: Warum der Osten die Nase vorn hat
Im bundesweiten Vergleich bleiben die meisten westdeutschen Neuntklässler in den Naturwissenschaften weit zurück. Den Erfolg des Ostens erklären die Bildungsforscher mit der besseren Qualität des Unterrichts.
Ob Mathematik oder Biologie, Chemie oder Physik: In allen diesen Fächern sind ostdeutsche Schüler in der neunten Klasse besser als westdeutsche. Das ist das Ergebnis des bundesweiten Schulvergleichs dieser Altersstufe für Mathematik und die Naturwissenschaften. Untersucht wurde, inwieweit bereits Neuntklässler in diesen Fächern die Bildungsstandards erreichen, die für den Mittleren Schulabschluss (MSA) ein Jahr später gelten. Der MSA entspricht dem früheren Realschulabschluss. Die Resultate im Überblick (die gesamte Studie findet man hier):
Die Länder im Vergleich
In Mathematik haben Schüler aus Sachsen 65 Punkte Vorsprung vor dem Schlusslicht Bremen. Das entspricht einem Lernvorsprung von zweieinhalb Jahren. Die Rangfolge der Länder ähnelt sich in allen vier Fächern: Von den westdeutschen Ländern können allein Bayern und Rheinland-Pfalz mit dem Osten mithalten. In den Naturwissenschaften liegt die Spitze ebenfalls eineinhalb bis zweieinhalb Jahre vor der Schlussgruppe. Ostdeutsche Schüler schaffen es dementsprechend besser, die Standards für den MSA zu erreichen. In Sachsen verfehlen nur zwölf Prozent die Mindeststandards in Mathematik. Bundesweit sind es ein Viertel der Schüler, in Bremen sogar 39 Prozent. Diese Neuntklässler können nur auf Grundschulniveau rechnen.
„Erfreulich“ sei das Ergebnis in Biologie, sagt Petra Stanat vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das die Studie durchführte. In Biologie scheiterten bundesweit nur sechs Prozent an den Mindeststandards (hier werden aber anders als in Mathematik nicht die Schüler berücksichtigt, die nur einen Hauptschulabschluss anstreben).
Berlin und Brandenburg
Berlin schneidet eher schwach ab. In Mathematik haben die Berliner einen Lernrückstand von mehr als zwei Jahren auf Sachsen. Hier bringen die Schüler bereits Defizite aus der Grundschule mit, wie ein Leistungsvergleich aus dem vergangenen Jahr zeigte. „Das lässt sich in der Sekundarstufe 1 nicht mehr so leicht aufholen“, sagt Stanat. Dass Berlin in den naturwissenschaftlichen Fächern etwas besser dastehe, könne daran liegen, dass diese Fächer in der Grundschule noch keine große Rolle spielen und die Schüler daher in der Grundschule keine Leistungsrückstände aufbauen. Beim Fachunterricht an der Oberschule „profitiert die Stadt von den östlichen Bezirken“.
Insgesamt erreichen in Berlin in allen Fächern besonders viele Schüler nicht die Mindeststandards. Jeder dritte verfehlt sie in Mathematik. Ein Problem hat Berlin auch bei der leistungsstarken Schülerschaft. Gymnasiasten erzielen weniger Spitzenergebnisse als bundesweit: In Mathematik etwa nur halb so viele.
Brandenburg liegt dagegen überall an der Spitze. Mit Thüringen und Sachsen-Anhalt sei das Land im Vergleich zu früheren Studien ein „Aufsteiger“, sagt Hans Anand Pant, ebenfalls Direktor am IQB. Womöglich seien die pädagogischen Neuerungen nach dem Pisa-Schock in Brandenburg auf besonders fruchtbaren Boden gefallen, vermutet Petra Stanat. So würden dort Lehrer vom Ministerium zur Verfügung gestellte Beispielaufgaben, die die Bildungsstandards mit Leben füllen sollen, sehr rege nutzen.
Gründe für den ostdeutschen Erfolg
Die Erfolge im Osten wollen die Wissenschaftler nicht mit einer möglicherweise besseren Lehrerausbildung in der DDR erklären. Auffällig sei, dass in den ostdeutschen Ländern Mathe und Naturwissenschaften mit einem größeren Stundenvolumen unterrichtet werde, als es die Mindestvorgaben der Verwaltung vorschreiben, sagt Pant. Doch mehr Unterricht bringe nur etwas, wenn er von guter Qualität sei. Dies sei im Osten offenbar der Fall. Das zweigliedrige Schulsystem oder die soziale Lage des Landes sei nicht ausschlaggebend. Denn bei der Überprüfung der Englischkenntnisse von Neuntklässlern im Jahr 2009 hatten die ostdeutschen Länder unter dem Schnitt gelegen – wegen eines Mangels an Fachlehrern.
Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh sagt dazu: „Das ostdeutsche Selbstverständnis war stark von den Naturwissenschaften beeinflusst.“ Jedenfalls müsse der Osten angesichts der in den kommenden zehn Jahren anstehenden Pensionierungswelle darauf achten, „den hohen Anspruch durchzutragen“. Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth, die in der DDR Chemielehrerin war, sagt, die Lehrerbildung in der DDR sei „sehr praxisnah“ und „methodisch-didaktisch“ orientiert gewesen.
Die soziale Frage
Der Schulerfolg hängt maßgeblich von der sozialen Herkunft ab: Dieser Befund bestätigt sich erneut. Im bundesweiten Schnitt sind Jugendliche aus sozial besser gestellten Familien ihren Mitschülern aus schlechter gestellten Familien fast drei Lernjahre voraus. In Berlin ist der Vorsprung noch größer, in Brandenburg ist die Leistungsstreuung in Mathematik sogar am größten. „Die Akademikerkinder ragen in Brandenburg im bundesweiten Vergleich besonders heraus“, sagt Stanat. Ein Grund könnten leistungsstarke Kinder aus dem Speckgürtel Berlins sein.
Einen Nachteil haben Jugendliche mit Migrationshintergrund. Schüler, deren Eltern beide im Ausland geboren sind, haben im Durchschnitt einen Lernrückstand von zwei Jahren im Vergleich zu Schülern mit zwei in Deutschland geboren Eltern. Dass dieser Abstand nicht in Stein gemeißelt sein muss, zeigt Niedersachsen, wo knapp ein Viertel der Schüler einen Zuwanderungshintergrund hat: Dort ist die Differenz nur halb so groß. Bayern und Rheinland-Pfalz schaffen auch mit einem Migrantenanteil von 25 Prozent sehr gute Ergebnisse.
Eine scharfe Selektion beim Übergang zum Gymnasium verspricht gute Leistungen – dieser Zusammenhang ist laut Pant „kein Naturgesetz“. So habe Sachsen eine um ein Drittel höhere Gymnasialquote – erreiche aber trotzdem das Niveau der Bayern. Sogar in Großstädten mit einer sozial schwächeren Schülerschaft an den Gymnasien müsse eine geringere Selektivität nicht zu schwächeren Leistungen führen: „Es gibt zwischen den Schülern und den Schulen eine große Heterogenität“, sagt Stanat. Von den Schulen in Berliner Brennpunkten käme manche mit ihrer Klientel weit besser zurecht als andere.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern
In Mathematik liegen Jungen im Schnitt 16 Punkte über dem Schnitt der Mädchen, was zwei Dritteln eines Schuljahres entspricht. Allerdings sind die Mädchen in Hessen zwei Punkte stärker als die Jungen. In den Naturwissenschaften schneiden die Mädchen dagegen besser ab. In Biologie sind sie um elf Punkte voraus, in Chemie um acht. Die Forscher betonen, dass die typische Selbsteinschätzung von Jungen und Mädchen erheblich von den tatsächlichen Kompetenzen abweicht. Gerade in Physik trauen sich die Jungen weit mehr zu als die Mädchen. „Mädchen unterschätzen sich – oder Jungen überschätzen sich“, sagt Petra Stanat. Die jeweiligen Selbstkonzepte entsprechen den Geschlechterstereotypen. Laut Stanat wird hier „Potenzial verschenkt“.
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