Doch keine Volkspartei?: Warum das Wachstum der Grünen Grenzen hat
Ob Umfragen oder Mitgliederzuwachs - die Grünen sind die großen Gewinner des Jahres. Doch ein Politologe meint: Viel weiter geht’s nicht.
Sie haben einen Lauf, sie reiten die Welle, sie sind der Hype der Saison. Die Grünen waren im Juni zwischenzeitlich sogar mal stärker als die Union in den Umfragen. Aber so stark sie auch wirken – noch immer haben sie ein Problem. Sie sind eine an Stimmen reiche, aber an Mitgliedern arme Partei – auch wenn sie als einzige im Bundestag vertretene politische Kraft im vergangenen Vierteljahrhundert stetig Mitglieder hinzugewonnen haben.
Doch die Rekrutierungsfähigkeit der Grünen ist immer noch relativ schwach. Mit ihren neuerdings 85.000 Mitgliedern binden sie nach wie vor deutlich weniger Frauen und Männer an sich als die beiden alten Volksparteien, denen sie in Wahlen und Umfragen mehr (im Fall der SPD) oder weniger (im Fall der Union) den Schneid abkaufen. Trotz des schleichenden Schwunds zahlender Anhänger und der eingebrochenen Wahl- und Umfrageergebnisse – SPD und CDU haben immer noch mehr als 400.000 Mitglieder, und 140.000 Bayern besitzen ein CSU-Parteibuch.
Immerhin lassen die Grünen ihre einstigen Mitbewerber um den Rang der stärksten Kleinpartei mittlerweile deutlich hinter sich: Die FDP kommt auf 64.500 Mitglieder, bei den Linken sind es 61.500, die AfD-Mitgliederzahl lag zuletzt bei 33.500. Und noch eines, das zeigt die neue Studie zu den Parteimitgliedern des Berliner Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer, hebt die Grünen von den anderen ab: Nur bei ihnen ist mehr als ein Drittel der Mitglieder jünger als 40.
Boom mit mehreren Ursachen
Einen Mitgliederboom hatten die Grünen schon einmal: Zwischen 2009 und 2011 legte die Zahl um ein Drittel zu. Aktuell ist sogar noch ein bisschen mehr Schwung dahinter: Ende 2016 gab es gut 61.500 eingeschriebene Grüne, das Plus seither beträgt also 38 Prozent.
„Es kommt einiges zusammen, was die Mitgliederzahl steigen lässt. Neben den guten Umfrageergebnissen, die natürlich Neumitglieder anziehen, kommt die optimale Besetzung der Parteiführung, die attraktiv wirkt“, sagte der Politikwissenschaftler Niedermayer dem Tagesspiegel.
Es sei den Grünen gelungen, nach außen einheitlicher zu wirken als in früheren Jahren. „Sie gelten zudem als regierungsfähig und regierungswillig, ein wichtiger Faktor für Beitritte. Die Schwäche der SPD hilft zusätzlich.“ Zudem bestimme der traditionelle Markenkern, die Umwelt- und Klimapolitik, jetzt schon einige Zeit die Debatten. „In der Flüchtlingspolitik werden sie als Gegenpol zur AfD wahrgenommen. Und sie haben, auch aus diesen Gründen, eine starke Medienunterstützung.“
Aber die Rekrutierungsfähigkeit bleibt eben bescheiden. Laut Niedermayer schafften es die Grünen Ende 2018 nur, 0,09 Prozent derer bei sich zu versammeln, die Mitglied der Partei werden könnten. Mittlerweile ist der Wert durch die Beitrittswelle im ersten Halbjahr etwas höher. Aber von FDP und Linken, die ebenfalls einen Rekrutierungsgrad von 0,09 Prozent haben, heben sich die Grünen dennoch kaum ab (die AfD liegt bei nur 0,04 Prozent).
Noch immer scheint es deutlich attraktiver zu sein, ein Parteibuch von Union oder SPD zu haben. Trotz des Mitgliederzuwachses „stehen wir noch nicht vor der Volksparteiwerdung der Grünen“, lautet Niedermayers Einschätzung. „Dafür ist die Zahl der Mitglieder und Wähler einfach noch zu gering. Und der Teil der Bevölkerung, aus der sich die Grünen rekrutieren, ist nicht breit genug.“ Hier dominierten die jüngeren Hochgebildeten, und bei denen mache die Linke zumindest in Westdeutschland den Grünen schon Konkurrenz.
"Potenzial an Stimmen ausgeschöpft"
Auch bei den Wählerstimmen glaubt der Parteienforscher von der Freien Universität nicht an weitere Höhenflüge. „Mit Ergebnissen in den Umfragen um die 25 Prozent schöpfen die Grünen aktuell ihr Potenzial aus, weit darüber hinaus wird es nicht gehen.“
Und man müsse abwarten, ob sie dieses Niveau halten werden. „Zur nächsten Bundestagswahl tauchen mindestens zwei mögliche Klippen auf. Zum einen ist da die Frage, wer als Kanzlerkandidat ins Rennen geht – ein Duo ist dann nicht mehr gefragt, und so kann es zu innerparteilichem Knatsch kommen. Zweitens stellt sich dann die Frage, ob und wie die Versprechen und Ankündigungen der Grünen auch finanzierbar sind.“
Doch ein Viertel der Stimmen bedeutet, dass die Grünen links der Mitte die Vorherrschaft übernommen haben. „Möglicherweise erleben wir derzeit eine Neuausrichtung des Parteiensystems mit der Verdrängung der SPD durch die Grünen“, sagt Niedermayer. „Aber der Eindruck ist sehr frisch.“ Ein wirtschaftlicher Abschwung zum Beispiel könne die politische Agenda schnell verändern und andere Themen als die der Grünen nach vorn treten lassen. „Dann kann es schnell anders aussehen.“
Stärkerer Niedergang der SPD seit Schröder
Die Sozialdemokraten sind zwar nach Mitgliedern (nach Parteiangaben etwa 426.000) noch immer knapp stärkste Partei vor der CDU mit etwa 415.000. Aber der relativ stärkere Niedergang der SPD lässt sich in den Zahlen zur Rekrutierungsfähigkeit in Niedermayers Studie verfolgen.
Nach 1990 lagen CDU wie SPD hier nahezu gleichauf, mit einem leichten Vorteil für die Sozialdemokratie. In der Ära von Kanzler Gerhard Schröder aber begann die Partei abzufallen. Zwar fiel es beiden Volksparteien immer schwerer, neue Mitglieder zu gewinnen. Aber seit 2003 ist die Rekrutierungsfähigkeit der SPD hinter die der CDU zurückgefallen. Verglichen mit der CSU ist sie sogar nur noch halb so groß – 0,61 Prozent gegenüber 1,27 Prozent. Die VCDU liegt bei 0,71 Prozent.
Auch die CSU war schon besser. Aber was ist das Geheimnis ihres relativen Erfolgs? „Sie profitiert weiterhin von ihrem Nimbus als Staatspartei“, lautet Niedermayers Erklärung. „Will man in Bayern etwas werden, kommt man an ihr nicht vorbei.“ Aber die Partei sei in der Gesellschaft auch immer noch sehr breit und tief vernetzt. „Sollte die CDU ihren Volksparteistatus endgültig verlieren, wäre sie die letzte verbliebene echte Volkspartei.“