„Das Land verdient etwas Besseres“: Warum Boris Johnson bei vielen Briten so beliebt ist
Boris Johnson könnte bald Großbritannien regieren und den Brexit managen. Aber sorgt er sich wirklich um das Wohl des Landes oder nur um sein eigenes?
Dann hängt er da. Hoch über den Köpfen der jubelnden Menge im Ost-Londoner Victoria-Park, in jeder Hand ein britisches Fähnchen im Wind, einen blauen Helm auf dem flachsblonden Haar. Es ist der Sommer 2012, die britische Hauptstadt richtet die Olympischen Spiele aus – und ihr damaliger Bürgermeister Boris Johnson feiert die erste Goldmedaille für Großbritannien, indem er an einem Drahtseil hängend über den Park rutscht. Bis er plötzlich stoppt. Sekundenlang, Minuten? Und lacht. Und ruft: „Kann mir mal jemand eine Leiter bringen?“
Da ist schon nicht mehr klar, ob die Menschen noch die Sportlerinnen feiern oder den Mann über ihnen.
Die Szene verrät viel über Boris Johnson. Über seine Selbstwahrnehmung und darüber, was andere in ihm sehen. Einen blamabel schiefgegangenen PR-Stunt mit ein bisschen Selbstironie und dummen Sprüchen in einen Erfolg verwandeln, das schafft nicht jeder. Boris Johnson schon. Für ihn gelten andere Regeln.
Deswegen ist es nicht unwahrscheinlich, dass der 55-Jährige der nächste britische Premierminister werden wird. Selbst wenn er vor Jahren noch behauptet hat, es sei viel eher möglich, dass er als Olive wiedergeboren werde.
Er wolle die Menschen im krisengeschüttelten Land vereinen, verkündet er in seiner Bewerbungsrede am 12. Juni. Er sagt: „Die Menschen in diesem Land verdienen etwas Besseres.“ Vermutlich meint er damit auch sich selbst.
Alle internen Vorwahlgänge der konservativen Unterhausfraktion gewann er souverän, die Stichwahl zwischen ihm und dem verbleibenden zweiten Kandidaten, Außenminister Jeremy Hunt, ist für Mitte Juli angesetzt. Der Schreck war unterdessen ganz auf Seiten der EU-Offiziellen in Brüssel, die sich auf das Abenteuer vorbereiten müssen, den Brexit mit Boris Johnson zu verhandeln. Er schwört, die Sache sei bis Ende Oktober erledigt, mit oder ohne Deal. Dass US-Präsident Donald Trump ihm das Lob aussprach, er sei „sehr talentiert“, taugt nicht als Beruhigung.
Ausgerechnet Johnson. Wuschelköpfiger Ex-Bürgermeister, ausfällig gewordener Ex-Außenminister, streitbarer Abgeordneter, Journalist mit flexiblem Verhältnis zur Wahrheit, Lebemann.
Jetzt also Premierminister?
„Jetzt ist die Zeit, uns an unsere Pflicht gegenüber der Bevölkerung zu erinnern, die wir seit der Brexit-Abstimmung haben“, sagt Boris Johnson in seiner Rede. Es klingt, als seien in der Zwischenzeit nicht drei Jahre vergangen, in denen Großbritannien sich in Austrittsverhandlungen mit der Europäischen Union verkeilte. Jahre, in denen von Boris Johnson wenig zu sehen gewesen war.
Vor dem Referendum im Sommer 2016 hatte Johnson die „Leave“-Kampagne der Brexit-Befürworter angeführt. Manche behaupten, er habe dies nur getan, weil es ihm mehr politische Profilierung versprach. Überzeugend war er jedenfalls: Den Briten prophezeite er, ihre Insel werde von Migranten überschwemmt, wenn die Türkei bald der EU beitrete. Die Behauptung, London zahle der EU wöchentlich 350 Millionen Pfund (die man doch besser ins nationale Gesundheitssystem NHS investieren solle), zierte als Slogan seinen Kampagnenbus. Weil sich das als Lüge herausstellte, wurde er kürzlich vor Gericht zitiert – wo er nicht erschien. Die Klage eines Privatmanns wurde ohnehin abgewiesen.
Politisch hat ihm das nicht geschadet.
Kaum hatte die Bevölkerung für den Brexit gestimmt, zog sich Boris Johnson zurück. Er wollte keine Regierungsverantwortung übernehmen – und wurde trotzdem nicht müde, die Arbeit der Premierministerin Theresa May zu kritisieren. Die machte ihn 2016 zu ihrem Außenminister, in dessen Zuständigkeitsbereich der Brexit explizit nicht fiel.
Boris Johnson auf dem „diplomatischen Parkett“, das muss man sich in etwa so vorstellen wie in einer viel zitierten Szene von 2015, als der damalige Bürgermeister von London beim Rugbyspiel mit einer Gruppe Kinder in Japan einen Zehnjährigen zu Boden rempelt.
Als Außenminister sagte er der libyschen Stadt Sirte eine Zukunft wie Dubai voraus – wenn die Offiziellen der Stadt erst mal die ganzen Leichen aus dem Weg geschafft hätten. Bei einem Empfang grüßte er Diplomaten mit den Worten: „Wir sind in die meisten Ihrer Länder eingefallen, haben sie besiegt oder erobert, aber wir sind hier als Freunde.“ Europäische Diplomaten, die ihn halbwegs ernst nehmen, sind der Meinung, mit seiner Art beschädige er britische Interessen.
Jetzt also Premierminister?
"Er glaubt nur an sich"
Er kann das! Sagt sein Vater Stanley, ehemaliger konservativer EU-Abgeordneter, ehemaliger Mitarbeiter der Weltbank, ehemaliger Teilnehmer beim britischen Dschungelcamp.
„Ich glaube nicht, dass er an irgendetwas anderes glaubt als an sich selbst und seine eigenen Ambitionen“, sagt ein langjähriger Bekannter von Boris Johnson in der britischen Wochenzeitung „New Statesman“. Anderswo heißt es, er sei ein „politisches Chamäleon“, weit entfernt vom klar konservativen Profil der Tories, deren Vorsitz er nun übernehmen will – und doch nicht eindeutig liberal. Für die gleichgeschlechtliche Ehe, für die Unterstützung des Bankenwesens – und der Einwanderung. Dazu EU-skeptisch und hart gegen Kriminalität. Mal so, mal so.
Also teilt sich die Menge der politischen Beobachter in jene die meinen, er sei nur ein weiterer populistischer Regierungschef in der weltweit größer werdenden Gruppe populistischer Regierungschefs; und solche, die denken, er sei das Beste was Großbritannien passieren könne – wenn überall nur Populisten regieren, unter denen er sich behaupten kann. Typisch Johnson ist, dass beides auch gleichzeitig möglich erscheint.
Alexander Boris de Pfeffel Johnson kam am 19. Juni 1964 in New York City zur Welt. Schon mit der Geburt seiner jüngeren Schwester Rachel, so erzählt es seine Mutter, die Malerin Charlotte Johnson-Wahl in dem Dokumentarfilm „Boris Johnson: The Irresistible Rise“, sei sein Ehrgeiz geweckt worden. Als ältestes von vier Geschwistern konkurrierte er später auch noch mit zwei Brüdern. Gefragt, was er einmal werden wolle, antwortete Boris, das Kind: König der Welt! Seine Familie nennt ihn Al. Wie Alexander. Alexander der Große.
Als Boris fünf war, zogen die Johnsons nach London, als er neun war, trennten sich seine Eltern. Johnson bekam ein Stipendium für das Elite-Internat Eton, wo er später Schulsprecher wurde. Einer, zu dem Mitschüler aufsahen. Unter ihnen auch der jüngere David Cameron.
Der Dokumentarfilm zeigt unscharfe Bilder von Johnson, lesend im Krankenbett, lachend – trotz schwerer Verletzung. Viermal, heißt es, habe er sich zu Schulzeiten beim Sport die Nase gebrochen. Er spielte trotzdem weiter.
Mit einem weiteren Stipendium studierte Johnson in Oxford klassische Philologie. Er wurde Präsident des Debattierzirkels „Oxford Union“, und wenn aus den Filmaufnahmen offizieller Anlässe aus dieser Zeit eines garantiert nicht herauszusehen ist, dann, dass Boris Johnson ein großer Auftritt unangenehm ist. Es passt in die Erzählung seines Lebens, dass ausgerechnet die Schönste seines Jahrgangs, Allegra Mostyn-Owen seine Frau wurde. Ebenso wie die Anekdote, er habe sich für die Trauung einen Anzug leihen müssen und den Ehering binnen weniger Stunden verloren. Die Ehe hielt kurz.
Boris Johnson mag kein brillanter Redner sein, charmant ist er schon.
Unterhaltsames Privatleben
Im offiziellen Video zu seiner Kandidatur ist er beim Wahlkampf an Haustüren zu sehen. Mit ausladender Gestik und einnehmender Entschlossenheit erklärt er zwei alten Damen, wie wichtig es sei, den Menschen so kurz vor dem Brexit mutig zu erklären, „dass wir das schaffen, wenn wir wirklich wollen“. Sie nicken ergriffen: „Sie sind der Einzige, der das kann.“
Die nächste Haustür:
Würden Sie sich als konservative Wählerin sehen?
Frau (lacht): Nein.
Würden Sie mich wählen?
Frau: Ja.
„Boris bringt die Leute dazu, sich gut zu fühlen“, sagt Ken Livingstone, den Johnson 2008 als Bürgermeister von London ablöste. Ein hoch zu schätzendes Talent, gerade in diesen Zeiten. Johnson, bullig, geradeaus, hat eine Verbindung zum Volk, das ihm seine elitäre Erziehung offenbar nicht nachträgt. Auch nicht seine Angeberei: In der Einleitung einer Biografie, die Johnson über Winston Churchill schrieb, schafft er es, 31 Mal sich selbst zu erwähnen.
In seiner Bewerbungsrede spricht Johnson viel von seiner Zeit als Londoner Bürgermeister 2008 bis 2016, er erzählt von weniger Verkehrstoten und mehr erschwinglichen Wohnungen. Britische Zeitungen, die in den Tagen danach die Fakten checken, kommen zu weniger eindeutigen Ergebnissen. Das Leihradsystem, das Johnson in der Stadt einführte, bleibt in Erinnerung. Genauso wie die 43 Millionen Pfund an öffentlichem Geld, das für eine grün bewachsene „Garden Bridge“ über die Themse ausgegeben wurde – 21 Millionen davon für die Baufirma, 400 000 für ein Galadinner, 3200 als Entschädigung für einen Privatspender, dem als Gegenleistung ein Tischtennisspiel mit Johnson versprochen worden war. Das Spiel fand nie statt. Die Brücke wurde nicht gebaut.
Fast scheint es, als kümmere es die Leute nicht, welche Erfolge oder Nicht-Erfolge er in der Politik aufzuweisen hat. Sein Privatleben ist einfach zu unterhaltsam! Eben kursierten Fotos seines vermüllten Autos: der Wannabe-Premier – ein Messie? Wochen zuvor rätselte das Land, ob Johnson zu Studienzeiten Kokain genommen hat, und wenn ja, ob er – weil er nach dem Durch-die-Nase-Ziehen niesen musste – überhaupt etwas davon gemerkt haben kann.
Nächtlicher Polizeieinsatz
Die Briten nahmen Anteil, als seine zweite Frau, die Anwältin Marina Wheeler, mit der er vier Kinder hat, ihn nach einer Affäre aus dem Haus warf. Und sie verfolgten am Wochenende mit Interesse einen Polizeieinsatz vor dem Haus, in dem Johnson mit seiner derzeitigen Freundin lebt: Ein lauter Streit des Paares hatte Nachbarn alarmiert – die Polizisten sahen jedoch keinen Grund einzuschreiten. Bislang schien die Beziehung zwischen Boris Johnson und Carrie Symonds harmonisch gewesen zu sein. Der 31 Jahre alten ehemaligen Kommunikationschefin der Tories wird ein positiver Einfluss auf sein Auftreten zugeschrieben. Johnson hat abgenommen, fast wirkt er gekämmt.
Vorbei die Zeiten, als er in Interviews auch einfach mal Quatsch erzählte, statt Fragen zu beantworten. Etwa als er mit Jeremy Paxman von „BBC Newsnight“ eine Fahrradtour durch London unternahm, der ihn zum vermeintlichen Misserfolg seines Leihradsystems befragen wollte und stattdessen einen Lachanfall bekam. „Warum heißen sie ,Boris Bikes’, es war nicht mal Ihre Idee?“ Sondern, suggeriert die Frage, die des Vorgängers Ken Livingstone. Da beruft sich Boris Johnson mit erhobenem Zeigefinger auf Dennis Johnson, den britischen Fahrraderfinder aus dem 18. Jahrhundert. „Und er ist einer Ihrer Vorfahren?“, fragt Paxman schon prustend vor Lachen. „Das behaupte ich, ohne Überprüfung“, sagt Johnson. Themenwechsel.
Es heißt, er arbeite äußerst viel und gewissenhaft. Es heißt: Er meint das jetzt ernst. Nicht alle, die in ihrem Leben schon mit Boris Johnson zusammengearbeitet haben, können das glauben.
Nach seinem Studium begann Johnson, als Journalist für die „Times“ zu schreiben. Doch weil er für einen seiner ersten Artikel ein Zitat erfand, wurde er bald entlassen. „Es war schrecklich“, sagte Johnson Jahre später in einem BBC-Interview. Er sei beschämt gewesen und habe sich sehr schuldig gefühlt.
Beim „Daily Telegraph“ bekam Johnson damals schnell eine neue Chance, 1989 schickte die Zeitung ihn als Korrespondent nach Brüssel. Zwischen all den Journalisten war Johnson mit seiner EU-Skepsis eine Ausnahme. Seine Berichterstattung war entsprechend. Oft eher satirisch als faktisch, überspitzend allemal. Bei den ohnehin wenig EU-freundlichen britischen Konservativen kamen seine Texte gut an. Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin Großbritanniens, soll Johnsons Arbeit geliebt haben.
Er selbst sagte später, es habe ihm ein Gefühl von Macht gegeben. „Ich schmiss diese Steine über die Gartenmauer und hörte zu, wie sie ins Gewächshaus nebenan in England krachten, während alles, was ich aus Brüssel schrieb, einen unglaublichen, explosiven Effekt auf die Tory-Partei hatte.“ Wenn er in Interviews darauf angesprochen wird, lacht er darüber wie über einen gelungenen Streich.
Wie viel ist echt und wie viel Theater?
Im „New Statesman“ wird seine ehemalige Kollegin aus Brüssel zitiert. Sonia Purnell, die später auch eine Biografie über Johnson geschrieben hat, sagt, er sei „die rücksichtsloseste, ehrgeizigste Person“ gewesen, die sie jemals getroffen habe. Chaotisch, scheinbar nicht organisiert sei Johnson nur oberflächlich. Darunter versteckten sich beinahe beängstigender Antrieb und Motivation.
Johnson selbst sagt, dass es ein Vorteil sein kann, wenn die Menschen nicht direkt erkennen, ob etwas improvisiert ist oder nicht. Als Schüler in Eton trat er in einem Theaterstück auf. Weil er seinen Text nicht gelernt hatte, hielt er sich ein Kissen vors Gesicht und las ihn dahinter ab. Das Publikum, so erzählt es seine Schwester Rachel im Dokumentarfilm „The Irresistible Rise“, sei begeistert gewesen. Alle dachten, das sei Teil der Show.
Wie viel echt ist und wie viel Theater, das lässt sich bei Boris Johnson nicht mit Bestimmtheit sagen. Er haut verbal oft daneben. Aber ist das nun ein Beweis dafür, dass er authentisch ist, oder arrogant?
Auf die Sorge britischer Industrieller angesichts des nahenden Brexit antwortete Johnson noch 2018 mit „Fuck Business“. Ein Zitat, das er nun wieder einzufangen sucht.
Er bereut öffentlich. Etwa, dass er 2011, als gewalttätige Proteste im Süden Londons ausbrachen, nicht sofort seinen Urlaub in Kanada abbrach und in die Stadt zurückkehrte. Filmaufnahmen zeigen, wie er in den Tagen danach von einer wütenden Menschengruppe umringt ist, die ihn beschimpft und beschuldigt, bis Sicherheitsleute ihn fortbringen.
Jetzt, drei Jahre später, sagt er, es sei ein Fehler gewesen, sich 2016 zurückzuziehen und Theresa May unangefochten Premierministerin werden zu lassen.
Boris Johnsons Vorfahren kommen aus Frankreich, Deutschland, sogar aus der Türkei. Sein Urgroßvater väterlicherseits, Ali Kemal Bey, war der letzte Innenminister des Osmanischen Reichs. Johnson spricht fließend Italienisch und Französisch. In vielerlei Hinsicht war er als Londoner Bürgermeister eine perfekte Repräsentation der „Melting-Pot-Stadt“. Er, stets Fahrrad fahrend, den „Boris“-Rufenden am Straßenrand fröhlich zuwinkend, den aus absoluter Überzeugung getragenen Helm tief ins Gesicht gezogen, die Anzugjacke flatternd. Aber als Premierminister? Sorgt er sich wirklich um das Wohl der Allgemeinheit, oder doch nur ums eigene?
Seine Partei zu überzeugen, ist der erste – und vermutlich der leichteste Schritt. Dem „Evening Standard“ sagte Boris Johnson: Es sei wichtig, wieder etwas Spannung in die Politik zu bringen. „Aber es ist auch ein ernsthaftes Stück Arbeit zu erledigen.“