Israels Ministerpräsident in Berlin: Warum Benjamin Netanjahu besser als sein Ruf ist
Der israelische Premier wird als Hardliner gescholten - dabei agiert er besonnener als viele behaupten. Ein Kommentar.
Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich im Krisenfall. Benjamin „Bibi“ Netanjahu durchlebt derer gerade viele. Am Mittwoch ist der israelische Ministerpräsident zu Regierungskonsultationen in Berlin eingetroffen, während in der Heimat die Gewalt tobt. Seit Wochen werden auf israelischen Straßen Menschen von palästinensischen Attentätern ermordet. Die dritte „Intifada“ habe begonnen, heißt es in den arabischen Medien. Auf ein Neues wurde der Streit um die Kontrolle über den Tempelberg von den Attentätern für die jüngste Gewaltwelle als Grund vorgeschoben: Das Blut, das von den „Märtyrern“ dort vergossen wurde, sei „rein“, stellte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas fest.
Netanjahu derweil bleibt ruhig; seinem Kabinett hat er den Besuch auf dem Tempelberg untersagt, um die Stimmung nicht anzuheizen; jüdische Racheakte verurteilt er und droht Extremisten mit der ganzen Härte des Gesetzes. Beliebt macht er sich mit seinem besonnenen Vorgehen indes nicht – gerade unter Israels politischen Rechten werden die Rücktrittsforderungen nicht länger nur geflüstert, sondern mittlerweile geschrien.
Es ist dabei nicht das erste Mal, dass der viel gescholtene israelische Premier zurückhaltender agiert, als es die Schlagzeilen glauben machen wollen. Bereits im vergangenen Jahr, als Hamas und Islamischer Dschihad tausende Raketen auf den Judenstaat schossen, zögerte er lange, bis er seinen Soldaten den Marschbefehl erteilte. Schon damals wurde ihm das von den Konservativen im Land als Schwäche ausgelegt – und schon damals kümmerte es ihn wenig.
Der einzige Verbündete des Westens im Nahen Osten
Benjamin Netanjahu, ein Schaf im Wolfspelz also? Das nicht. Natürlich verfolgt auch er bisweilen eine Agenda, die mit dem Friedensprozess so kompatibel ist wie ein VW-Dieselmotor mit amerikanischen Umweltbestimmungen. Noch immer lässt Baumeister "Bibi" im Westjordanland Siedlungen bauen, als handele es sich bei der israelischen Regierung nicht in erster Linie um eine Zivilverwaltung, sondern um ein Wohnungsbauunternehmen. Es stimmt, Netanjahu ist Machtpolitiker und bisweilen nerviger Populist.
Ein Demokrat aber ist Netanjahu, und als solcher bleibt er der einzige Verbündete, den der Westen im Nahen Osten hat. Dass er selbst in der Siedlungsfrage gesprächsbereiter ist, als viele vermuten, davon zeugen übrigens die Erinnerungen von Dennis Ross – einem Mann, der nicht für einseitige Israel-Liebe bekannt ist. Der ehemalige US-Nahostgesandte ließ in seiner kürzlich erschienenen Biografie durchblicken, dass der Israeli sich 2010 gar zum Abzug aus dem Westjordanland bereit erklärt habe.
Es ist legitim, von Jerusalem einen Baustopp im Westjordanland zu fordern, genauso wie es legitim ist, Netanjahu zu mehr Anstrengungen für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses zu drängen. Kanzlerin Merkel täte dennoch gut daran, ihrem israelischen Gast bei seinem Staatsbesuch ein bisschen mehr zu geben als die üblichen warmen Worte. Danach sieht es derzeit aber nicht aus: Im Sommer einigte sich der Westen mit Israels Erzfeind Iran auf ein Ende des Sanktions-Regimes, während in Brüssel derzeit an Herkunftsbezeichnungen für israelische Waren gearbeitet wird. Nichts anderes als ein schleichender Boykott sei das, fürchten israelische Diplomaten. So geht man mit Verbündeten nicht um – man muss Netanjahu nicht mögen, verdammen sollte man ihn nicht.