Nach dem Terror in Paris: Vorratsdatenspeicherung rückt wieder in den Fokus
Die Vorratsdatenspeicherung schien kaum noch eine Chance zu haben, zu stark war der Widerstand. Dann kamen die Anschläge in Paris. Nun wird sie für die Politik plötzlich wieder interessant - und sogar SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigt sich offen.
Die Solidarität mit den Opfern der Terrormorde von Paris führte in Deutschland alle Demokraten zusammen. Doch in der großen Koalition brach ein heftiger Streit aus, weil die Union unter dem Eindruck der Anschläge den Druck auf die Sozialdemokraten erhöhte, ihren Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung aufzugeben. Völlig überraschend entschärfte SPD-Chef Sigmar Gabriel nun den Konflikt, indem er sich dem umstrittenen Instrument gegenüber offen zeigte.
Was ist Vorratsdatenspeicherung?
Bei diesem Verfahren wird flächendeckend erfasst, wann wer mit wem wie lange telefoniert oder SMS und E-Mails schreibt. Ohne konkreten Verdacht sollen die Unternehmen die Kommunikationsdaten aller Nutzer für mehrere Monate speichern. Dabei geht es zwar nicht um den Inhalt der Kommunikation, also nicht um den Text der E-Mail oder die gesprochenen Worte bei einem Telefonat. Allerdings würden auch so eine Menge an Informationen über Nutzer vorgehalten, nämlich die Rufnummer des Anrufers und des Angerufenen, Beginn und Ende der Verbindung, der Standort des Anrufers bei Mobiltelefonaten und SMS sowie alle Daten, die beim Surfen im Internet anfallen, etwa die IP-Adresse und die Anschlusskennung.
Was ist der Hintergrund des Streits?
Die Kritiker warnen, mit der Speicherung detaillierter Kommunikationsdaten ohne konkreten Verdacht werde jene Freiheit preisgegeben, die gegen die Terroristen verteidigt werden soll. Sie sehen einen massiven Eingriff in die Grundrechte. Ihr Argument: Aus den Daten ließen sich sehr persönliche Informationen ableiten, die den Staat nichts angingen. Die Befürworter entgegnen, jeder Tag ohne Vorratsdatenspeicherung bringe Vorteile für Terroristen.
Kann die Vorratsdatenspeicherung Terroranschläge wie in Paris verhindern?
Diese Frage ist zwischen Gegnern und Befürwortern heftig umstritten. Kritiker verweisen darauf, dass in Frankreich die Vorratsdatenspeicherung längst Gesetz ist und die Morde trotzdem geschehen konnten. Anhänger der Regelung argumentieren, dass kein Befürworter die Vorratsdatenspeicherung zu einem perfekten Schutzmechanismus erkläre. Sie erlaube aber eine effektivere Strafverfolgung, diene zum Beispiel auch aktuell in Frankreich der Aufklärung des Netzwerkes der Täter. Die Datenspeicherung auf Vorrat könne auch bei der Gefahrenabwehr eine große Hilfe sein, etwa wenn ein Mitglied oder Mitglieder einer Gruppe, die Gewalttaten plant, auffällig würden. Die Befürworter wollen das Instrument nicht nur gegen Terrorgefahr, sondern auch gegen schwere Straftaten wie etwa organisierte Kriminalität nutzen.
Was brachte der erste Anlauf zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland?
Im Jahr 2008 war das von der damaligen großen Koalition beschlossene Gesetz zur Speicherung aller Verbindungsdaten in Kraft getreten. Gut zwei Jahre später intervenierte das Bundesverfassungsgericht: Die Daten ermöglichten inhaltliche Rückschlüsse „bis in die Intimsphäre“, es könnten damit Persönlichkeits- oder Bewegungsprofile erstellt werden, erklärten die Richter. Sie erkannten aber auch an, dass die Verbindungsdaten „für eine effektive Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung“ sind. Unter strengen Voraussetzungen, so erklärten sie damals, sei die Speicherung der Daten möglich – dann nämlich, wenn Behörden sie nur mit richterlicher Erlaubnis abrufen dürften.
Welche Rolle spielen Vorgaben aus Brüssel?
Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung umzusetzen. Dies hatte nebenbei auch einen ganz praktischen Grund. Setzt ein Land eine EU-Richtlinie nicht um, drohen Strafzahlungen. Im vergangenen Jahr allerdings verwarf der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Richtlinie und setzte dabei ähnliche Maßstäbe wie das Bundesverfassungsgericht: Die verdachtslose Speicherung diene zwar der „öffentlichen Sicherheit“, müsse aber auf „das absolut Notwendige beschränkt“ werden. Experten halten diese Vorgabe für schwammig. Sie bezieht sich auch auf maximale Speicherfristen, die Datenauswertung durch die Polizei und Ausnahmen bei der Speicherung der Daten etwa bei Anwälten, Priestern, Ärzten oder Journalisten.
Warum hat sich die SPD bewegt?
Wichtige SPD-Politiker wie Justizminister Heiko Maas hatten die Forderung der Union nach der Vorratsdatenspeicherung nach den Anschlägen als unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte abgelehnt und vor „hektischem Aktionismus“ gewarnt. Vizekanzler Sigmar Gabriel aber fürchtete offenbar, die SPD könne in der emotional aufgeladenen Phase nach den Pariser Morden als Bremser im Kampf gegen die Terroristen hingestellt werden – genau in diese Richtung zielten die Argumente der Sicherheitspolitiker aus der Union. Die Ängste der Bürger vor islamistischen Terroristen scheinen für Gabriel nun mehr zu zählen als die hehren Prinzipien. Deshalb erklärte der SPD-Chef jetzt, er sei offen für die Einführung der Datenspeicherung auf Vorrat. Unter „engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ könne sie „ein geeignetes und verhältnismäßiges Instrument zur Strafverfolgung sein“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Unionsfraktionschef Volker Kauder nahm das Angebot sofort an. „Ich bin dankbar dafür, dass es offenbar Bewegung gibt“, sagte er am Donnerstag im Bundestag.
Wie will die große Koalition nun zu einer Regelung kommen?
Die Union verzichtet aus Rücksicht auf den Koalitionspartner auf einen weiteren nationalen Alleingang wie 2008 und will sich an einer künftigen, neuen EU-Richtlinie orientieren. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte die EU-Kommission am Donnerstag auf, schnell einen neuen Vorschlag zu präsentieren. Die von Brüssel angekündigte Überarbeitung der Richtlinie zur Datenspeicherung auf Vorrat müsse nun „zügig“ kommen und dann auch in Deutschland umgesetzt werden.
Wie sind die Regelungen in anderen EU-Ländern?
In Frankreich wurde eine Speicherung von Daten für zwölf Monate zur Terrorbekämpfung schon im Jahr 2006 eingeführt. Auch in weiteren EU-Ländern wie den Niederlanden, Ungarn oder Schweden gelten entsprechende Gesetze. Großbritannien verabschiedete 2014 ein Gesetz, nach dem Kommunikationsunternehmen ein Jahr lang Daten ihrer Kunden speichern müssen, auch wenn diese nicht unter Verdacht stehen, kriminell zu sein. Premierminister David Cameron will noch weiter gehen. Nach den Pariser Anschlägen forderte er, Verschlüsselung im Internet zu verbieten, wenn Behörden nach richterlichem Beschluss kein Zugriff auf verschlüsselte Inhalte möglich sei.