zum Hauptinhalt
James Foley wurde 2012 von der Terrormiliz "Islamischer Staat" gekidnappt und im August 2014 enthauptet.
© AFP

Entführungen aus politischen Motiven: Von Schleyer bis Foley - darf ein Staat seine Bürger opfern?

Der Terror der Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ geht einher mit Drohungen gegen die USA und ihre Verbündeten – Geiselnahmen sollen Druck ausüben. Entführungen aus politischen Motiven sind zur traurigen Routine geworden. Darf ein Staat seine Bürger opfern?

Der schwere alte Mann hatte Tränen in den Augen. Im Mai 2009 saß Helmut Kohl auf einer Bühne im Stuttgarter Schloss und erinnerte sich und sein Publikum an eine der schlimmsten Entscheidungen seiner langen Politikerkarriere. Im Herbst 1977 hatte die „Rote Armee Fraktion“ den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt. Die Terroristen forderten die Freilassung ihrer Gründungsmitglieder aus dem Gefängnis Stammheim. Kohl saß als Oppositionsführer im Krisenstab von Kanzler Helmut Schmidt. Schmidt entschied, hart zu bleiben. Kohl trug den Entschluss mit. Drei Jahrzehnte später presst der Altkanzler, von seinem Treppensturz gezeichnet, immer wieder einen Satz hervor: „Ich habe einen guten Freund verloren!“

Sterben lassen für die Staatsräson – keiner von denen, die diese Entscheidung fällen mussten, hat sie je öffentlich bereut. Aber losgelassen hat die furchtbare Erfahrung sie nie, schon weil sie so neu war für die Republik. Heute ist der Umgang mit Entführung aus politischen Motiven zur traurigen Routine geworden. Doch die Frage, vor der Schmidt und Kohl damals standen, ist die gleiche geblieben: Muss der Staat seine Bürger retten, auch wenn ihn das erpressbar macht?

Die scheinbar abstrakte Frage stellt sich gerade wieder sehr konkret. Auf den Philippinen haben Islamisten der Abu-Sayyaf-Gruppe zwei Deutsche entführt und drohen mit ihrer Ermordung. Es ist nicht das erste Mal, dass die Gruppe Deutsche verschleppt. Die Familie Wallert kam 2000 nach langen Verhandlungen frei. Das Lösegeld zahlte die Muammar-Gaddafi-Stiftung – der libysche Diktator bahnte sich damit zeitweise den Weg zurück in die Weltgemeinschaft.

Doch die Lage hat sich seither verändert. Die Exzesse des „Islamischen Staats“ (IS) im Irak, per Hinrichtungsvideo in alle Welt verbreitet, drohen zum Vorbild zu werden. Deutsche Sicherheitsbehörden halten die Geiselnehmer der Abu Sayyaf zwar eher für „Trittbrettfahrer“, die sich ausrechnen, dass alleine die Erwähnung von IS den Druck zur Zahlung von Lösegeld erhöht. Schließlich, heißt es in Sicherheitskreisen, gab es die „Marke“ IS noch gar nicht, als die philippinischen Gotteskrieger die beiden deutschen Segler verschleppten. Und es gibt bislang keine Hinweise, dass die „Jolo-Gruppe“ von Abu Sayyaf dem Anführer des IS, Abu Bakr al Bagdadi, den Treueeid geschworen hat – anders als eine andere, weitgehend unabhängig agierende Gruppe auf der Insel Basilan.

Doch harmlos sind beide nicht; 2007 wurden sieben einheimische Christen geköpft, als das Lösegeld ausblieb. Und die Sorge von Sicherheitsexperten wird nicht geringer bei dem Gedanken, dass die per Video in alle Welt verbreitete Brutalität von IS Schule machen könne – bei Überzeugungstätern bis zu Kriminellen.

Spätestens seit der Ermordung des französischen Touristen Hervé Goudel durch eine Islamistengruppe in Algerien ist überdies klar: Der Aufruf der „Kalifat“-Terroristen, wahllos Bürger jener Staaten umzubringen, die sich im Kampf gegen IS engagieren, muss bitter ernst genommen werden. Das Auswärtige Amt gab am Freitag neue Reisewarnungen heraus, in denen Reisende dringend zu Wachsamkeit aufgerufen werden. Auf der Liste der gefährlich gewordenen Länder stehen neben Krisenstaaten wie Syrien und Libyen auch beliebte Winterreiseziele wie Ägypten, Kenia, Malaysia oder Thailand.

Hinter diesen Warnungen steckt nicht nur die Sorge um die eigenen Bürger, sondern auch die Angst vor der nächsten Entführung. Deutschland ist Teil der Koalition gegen IS, wenn auch mit seiner Waffen- und Ausbildungshilfe für die Kurden im Nordirak nur ein sehr kleiner. Und es ist alles andere als klar, ob sich in der aufgeheizten Situation das stillschweigend praktizierte deutsche Prinzip noch durchhalten lässt, dass man eigene Bürger freikauft. Denn so war die Praxis seit langem, und sie entspricht dem Vorgehen der meisten anderen europäischen Länder: Man zahlt oder lässt zahlen, aber redet nicht darüber oder leugnet es sogar.

Ob direkt Geld fließt oder – häufiger wohl – indirekt, macht keinen Unterschied. Wege gibt es viele. Oft spielen die Staaten, in denen die Entführung stattfindet, den Vermittler auch für Finanzflüsse. Manchmal fungieren Firmen oder Einzelpersonen mit guten Kontakten als diskrete Mittelsleute. Häufig haben Geheimdienste mit ihren Verbindungen die Hand im Spiel.

Doch diese Praxis ist alles andere als unumstritten. Zahlungen und Summen sprechen sich herum. Das ermutigt nicht nur gelegentliche Nachahmer – es hat in den letzten Jahren eine regelrechte Entführungsindustrie in Gang gesetzt. Islamistische Terroristen aus dem Al-Qaida-Umfeld nutzen das Kidnapping systematisch als Finanzquelle. Sie geben sich sogar gegenseitig Tipps, wie man Staaten unter Druck setzt.

Wie viel das üble Geschäft einbringt

Das üble Geschäft lohnt sich. Die „New York Times“ hat unlängst zusammengerechnet, dass Al Qaida und Co seit 2008 mindestens 125 Millionen Dollar erpresst haben, davon mehr als 90 Millionen allein in Nordafrika. Frankreich – als frühere Kolonialmacht im Maghreb besonders aktiv – führt diese Liste der Zahler mit fast 60 Millionen Dollar an, gefolgt von den Golfstaaten Katar und Oman und der Schweiz.

Der Artikel lieferte freilich nicht nur Zahlen, sondern warf schon in der Überschrift die Grundsatzfrage auf: „Europas Lösegelder finanzieren den Al-Qaida-Terror“. Die USA – ebenso wie Großbritannien – lehnen Zahlungen an Entführer grundsätzlich ab. Es gab einzelne Deals – zuletzt die Freilassung eines US-Soldaten in Afghanistan im Tausch gegen inhaftierte Taliban-Anführer –, doch Geld scheint bisher wirklich nicht geflossen zu sein. Denn wer damit einmal anfange, so die amtliche Überzeugung, der mache sich nicht nur politisch erpressbar und sichere die Finanzen seiner erbittertsten Gegnern, sondern bringe obendrein immer mehr Staatsbürger in Gefahr.

Tatsächlich sprach im Sommer, als der Artikel erschien, die Statistik für den harten Kurs. Unter 43 Ausländern, die in fünf Jahren in die Hand von Al-Qaida- Gruppen gerieten, waren nur drei Amerikaner und zwei Briten. Einer der Briten – Opfer einer Entführung in Mali – wurde von seinen Kidnappern umgebracht, als sich seine Regierung weigerte zu zahlen. Drei andere Mitglieder seiner Reisegruppe kamen frei – zwei Schweizer, eine Deutsche. Im Schweizer Haushalt, vermerkt die „New York Times“, gab es daraufhin auf einmal einen neuen Sonderposten für humanitäre Hilfe an Mali.

Noch führen solche Fälle nicht zu ernsten Differenzen zwischen Verbündeten. Doch als 49 türkische Geiseln aus der Gewalt der IS freikamen, gab es in US-Medien sehr kritische Fragen. Die in Videos zelebrierte Enthauptung von zwei US-Reportern durch die Islamistenkrieger hat dort die Entschlossenheit eher noch gesteigert, mit Luftangriffen gegen die Mittelalter-Terroristen vorzugehen. Auch die französische Luftwaffe fliegt weiter gegen IS-Stellungen, nachdem der französische Tourist Hervé Goudel von einer IS-Sympathisantengruppe in Algerien umgebracht worden war.

Deutsche Politiker hoffen derweil inständig, dass sie nie zwischen Prinzip und einzelnem Menschenleben wählen müssen. Es ist, so oder so, eine verzweifelte Entscheidung. So verzweifelt, dass Helmut Kohl damals im Bonner Krisenstab angeboten hat, sich gegen seinen Freund Schleyer austauschen zu lassen. Kanzler Schmidt lehnte ab: „Es war verrückt.“

Zur Startseite