Rassismus und Staatsvertrauen: Vom journalistischen Versagen im NSU-Komplex
Das Versagen von Journalisten, Rassismus als zentrales Motiv der NSU-Mordserie zu erkennen, hat mehrere Ursachen: Übergroßes Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden und zu wenig alltägliche Kommunikation mit Migranten gehören dazu. Eine Selbstkritik.
Der Blumengroßhändler Enver Simsek (39) wurde am 11. September 2000 in Nürnberg-Schlüchtern durch acht Schüsse aus zwei Pistolen getötet. Wenige Tage zuvor hatten Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „Den Opfern einen Namen geben“ eine erste umfassende Bilanz der tödlichen Dimension rechter Gewalt zehn Jahre nach dem Mauerfall veröffentlicht und die Schicksale von damals 99 Todesopfern beschrieben.
Als die beiden Zeitungen ihre Recherchen in den Jahren 2001 und 2003 aktualisierten und veröffentlichten, fehlte Enver Simsek in der Liste der zahllosen Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Auch im September 2010, als Tagesspiegel und als neuer Partner des Langzeitrecherche-Projekts die Wochenzeitung ZEIT anlässlich des zwanzigsten Jahrestags des Mauerfalls erneut Bilanz zogen, war Enver Simsek nicht unter den nunmehr 138 Todesopfern rechter und rassistischer Angriffe. In der Liste fehlten auch die Kleinunternehmer Halit Yozgat (21), Mehmet Kubasik (39), Yunus Turgut (25), Habil Kilic (38), Abdurrahim Özüdoğu (49), Süleyman Taşköprü, İsmail Yaşar (50), Theodoros Boulgarides (41) und die Polizistin Michele Kiesewetter (26), von denen wir heute wissen, dass sie Opfer des NSU wurden, weil ihnen im neonazistischen Weltbild als Migranten und Vertreter der Staatsmacht das Lebensrecht abgesprochen wurde.
Die Frage, warum wir ein rassistisches Motiv bei der ab 2006 bundesweit bekannten Mordserie nicht wenigstens Rassismus als mögliches Motiv in Betracht gezogen und die Opfer der Serie in 2010 als Verdachtsfälle genannt haben, wird insbesondere in Podiumsdiskussionen häufiger an uns herangetragen. Sie verweist auf die Kerntugenden unabhängigen Journalismus': Den ersten Anschein der Wirklichkeit zu hinterfragen – insbesondere die Einschätzungen von Verfassungsschutzämtern zur militanten Neonaziszene, aber auch die Verlautbarungen von Polizei und Staatsanwaltschaften zu möglichen Tätern und deren Motiven bei Mord- und Totschlag. Tatsächlich haben sowohl der Tagesspiegel-Redakteur Frank Jansen als auch ich, die wir das Rechercheprojekt seit mehr als zehn Jahren verantwortlich betreuen, im Sommer 2010 über den Reportagen und Analysen von Kollegen anderer Medien zu den damals als „Ceska-Mordserie“ oder „Döner-Mordserie“ bekannten Fällen und der Täterzuschreibung „Organisierte Kriminalität“, „PKK“ oder „Türkische Hizbullah“ gegrübelt.
Rassismus und das journalistische Versagen
Im Nachhinein lassen sich fünf wesentliche Ursachen benennen für unser journalistisches Versagen, Rassismus als zentrales Motiv der Serie zu erkennen:
---> Ein übergroßes Vertrauen in Strafverfolgungsbehörden, sobald Straftaten bzw. mögliche Täter mit dem Etikett „organisierte Kriminalität“ versehen sind. Im Fall der NSU-Mordserie trafen die Zuschreibungen der Behörden auf die auch bei Journalisten vorhandenen alltäglichen Vorurteile und rassistischen Ressentiments insbesondere gegenüber türkischen Männern als einer gesellschaftlichen Gruppe, die in der Berichterstattung in den allermeisten Fällen mit Negativzuschreibungen versehen wird.
---> Eine mangelnde alltägliche Kommunikation mit türkischen MigrantInnen – als Teil einer selbstverständlichen Bandbreite von journalistischen Gesprächspartnern zu allen möglichen Themen – und nicht nur zu Islamismus und Kriminalität. Wäre diese alltägliche Kommunikation – anstelle von blinden Flecken - vorhanden gewesen, hätte die Besorgnis und die Unruhe über die Mordserie sowie Berichterstattung über die Demonstrationen nach den NSU-Morden in Kassel und Dortmund im Frühjahr 2006 die eigene Sensibilität zumindest schärfen können.
---> Ein latentes Misstrauen gegenüber dem durchaus vorhandenen eigenen Wissen und der Analyse neonazistischer Strategien und Propaganda – oder anders gesagt: Eine durch nichts außer Staatsvertrauen begründete Hoffnung, dass alle Ankündigungen zum bewaffneten Kampf, führerlosen Widerstand, neonazistischen Mordaufrufe an Schwarzen, Juden und Türken - trotz des Wissens, das wir nicht nur durch unsere Recherchen zum Todesopfer-Projekt hatten - letztendlich eben lediglich in Einzelfällen auch in die Tat umgesetzt – und ansonsten durch aufmerksame Sicherheitsbehörden verhindert würden.
---> Die unerkannten Täter: Anders als bei den hunderten von Fällen rechter Gewalt, die wir seit dem Jahr 2000 recherchiert haben, waren hier die Täter bis zur Selbstenttarnung des NSU unbekannt – und damit einer der zentralen Rechercheansätze bei der Frage nach einer möglichen rechten oder rassistischen Tatmotivation nicht vorhanden.
---> Neun der zehn NSU-Tatorte befanden sich in den alten Bundesländern: Die Angehörigen der NSU-Opfer, die schon früh Neonazis als mögliche Täter vermuteten, fanden hier keine spezialisierten Opferberatungsstellen für Betroffene rechter Gewalt vor – wie es sie seit dem Jahr 2000 in allen östlichen Bundesländern gibt. Hier hätten die Angehörigen hoffentlich offenere Ohren für ihren Verdacht gefunden als bei den Strafverfolgern – und dadurch unter Umständen auch andere Zugänge zur deutschsprachigen Öffentlichkeit. Die spezialisierten Opferberatungsstellen sind zudem auch Teil eines zivilgesellschaftlichen Frühwarnsystems, wenn es darum geht, Journalisten auf von den Strafverfolgungsbehörden vernachlässigte rechte Gewalttaten hinzuweisen. Doch dieses Frühwarnsystem existiert(e) an den NSU-Tatorten – bis auf Rostock – nicht oder nur unzureichend.
Öffentliche Anerkennung
Was wäre gewesen, wenn wir uns nicht selbst den Blick auf die Realität verstellt hätten und zumindest die neun rassistisch motivierten Morde des NSU als Verdachtsfälle mit möglichen rechten Hintergrund im September 2010 bei der letzten Aktualisierung des Rechercheprojekts genannt hätten? Aus Gesprächen mit Angehörigen von Todesopfern rechter Gewalt wissen wir, wie zentral für sie die öffentliche Anerkennung des Tatmotivs „Rassismus“ oder „Hass auf Linke“ für den Verlust ihrer Kinder, Väter oder Geschwister ist. Diese Anerkennung haben wir den Angehörigen der NSU-Mordopfer viel zu lange versagt und damit ihr Trauma und ihre Isolation verstärkt.
Rechte Gewalt nicht aus den Augen verlieren
Täglich ereignen sich in Deutschland zwei bis drei rechte Gewalttaten: nur ein Bruchteil davon wird medial noch berichtet. Häufig werden die Angriffe in den Polizeimeldungen als „Schlägereien unter Jugendlichen“ oder schlichte „Messerstechereien“ ohne Anlass dargestellt. Aus den Erfahrungen des NSU-Komplexes können Journalisten vor allem lernen, die Meldungen von Strafverfolgern und Verfassungsschutzämtern zu hinterfragen, die Perspektive der Betroffenen mit einzubeziehen und sich vor Augen zu führen, dass das NSU-Netzwerk nur ein Teil einer neonazistischen Bewegung mit dem expliziten Ziel ist, eine demokratische Gesellschaft durch ein rassistisches und antisemitisches Regime zu ersetzen.
Heike Kleffner