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Als Kandidat für das Bundespräsidentenamt wird Joachim Gauck von allen Seiten beleuchtet
© dpa

Kritikwelle im Netz: Volkssport Gauck-Bashing

Was Joachim Gauck einst sagte, wird dieser Tage wieder aktuell. Ob Sarrazin, Occupy, Hartz-IV oder Vorratsdatenspeicherung - frühere Äußerungen des designierten Bundespräsidenten erhitzen die Gemüter. Ein zweiter Blick kann helfen.

Kaum ist er nominiert, schon steht er in der Kritik. Am Tag danach sind es zuvorderst jene Parteien, die an der Nominierung Joachim Gaucks für das Bundespräsidentenamt unbeteiligt waren, die nun nach Gründen suchen, warum sie ihn nicht mittragen können. Die Piraten werfen ihm vor, für die Vorratsdatenspeicherung einzutreten. Die Linke, dass er Hartz-IV und Raubtier-Kapitalismus gut finde. Und selbst Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele fragt sich in der "Frankfurter Rundschau", wie Gauck angesichts der allgemeinen Klage gegen Übermacht und Machtmissbrauch des Finanzsystems "den Protest dagegen auf der Straße ,unsäglich albern’ nennen" könne.

Schon vor den gewohnten politischen Reflexen hat in der Online-Welt die Debatte über Gaucks Eignung zum höchsten Mann im Staate eine beeindruckende Eigendynamik entwickelt. Als Katalysator dienen dabei vor allem ältere Zitate Gaucks, die in Zeitungsinterviews nachzulesen und seit längerem weit verbreitet sind - nun aber wie von Geisterhand zu neuem Leben erwachen. Sie zeichnen das Bild eines herzlosen Neoliberalen, ohne Herz für die Schwächsten der Gesellschaft und Verständnis für die Tücken der Vorratsdatenspeicherung.

Nach der Nominierung Gaucks wurden seine teils uralten Zitate und Satzfragmente über die Vervielfältigungsschleifen von Twitter, Facebook und Co. blitzschnell verbreitet, mitunter gerieten Dichtung und Wahrheit dabei ein wenig durcheinander. Blogger wie Sascha Lobo, Anatol Stefanowitsch oder Patrick Breitenbach recherchierten anschließend minutiös den Weg der Worte und verfolgten sie zu ihrem Ursprung zurück - ein Lehrstück über korrektes Zitieren, aber auch über die Selbstreinigungskraft des Internets. Was wurde also wirklich gesagt?

Nun, da war zum Beispiel jene Einlassung über den ehemaligen Berliner Finanzsenator und Autor des umstrittenen Sachbuches "Deutschland schafft sich ab", Thilo Sarrazin. Ihm attestierte Gauck Ende 2010 im Tagesspiegel-Interview, "Mut bewiesen" zu haben. Allerdings bezog er sich damit nicht auf Sarrazins krude Thesen, sondern vielmehr auf den Willen, das Tabuthema misslungene Integration überhaupt öffentlich zu diskutieren. "Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik", urteilte Gauck seinerzeit. Ungeachtet des populistischen Inhalts könne die politische Klasse aus dem Erfolg von Sarrazins Buch lernen, dass "ihre Sprache der politischen Korrektheit bei den Menschen das Gefühl weckt, dass die wirklichen Probleme verschleiert werden sollen".

Dass Gauck keineswegs die rassistischen und antisemitischen Argumentationsstränge Sarrazins befürwortet, hatte der Pastor zuvor schon in einem Gespräch mit Sueddeutsche.de offenbart. Das Integrationsproblem in Deutschland bestehe eben "nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt - sondern die Abgehängten dieser Gesellschaft". Deshalb riet Gauck dazu, "genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen" - also genau das zu vermeiden, womit Sarrazin sich selbst gründlich diskreditierte. Anderseits nahm Gauck den berüchtigten Polemiker zugleich mit einer fragwürdigen Behauptung in Schutz: "Zu solchen Debatten" gehöre nun einmal "die Zuspitzung und auch die populistische Übertreibung".

Vorratsdatenspeicherung? "notmypresident!"

Viele Leser findet derzeit auch ein Kommentar Gaucks zur Occupy-Bewegung, der nur selten bis zur Quelle zurückverfolgt wird. Einen Tag nachdem am 15. Oktober weltweit Hunderttausende gegen die Macht der Banken auf die Straße gingen, prophezeite er bei einer Veranstaltung der "Zeit" in Hamburg: "Das wird schnell verebben." Das Ausmaß der Proteste vermöge ihn nicht nachhaltig zu beeindrucken, schließlich habe er "in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren" - eine Referenz an das verstaatlichte Bankenwesen in der DDR, in dem mangelnde Einflussnahme ebenfalls zu Unfrieden führte. Insofern sei die heutige Antikapitalismusdebatte "unsäglich albern", ein "Irrtum" und von "romantischen Vorstellungen" geprägt. Diese Worte fallen Gauck jetzt, wo er ungleich stärker im medialen Fokus steht, auf die Füße. Geprägt vom "real existierenden Sozialismus" in der DDR hegt er nach eigenen Worten aber vor allem eine tiefe Abneigung gegen "politische Erlösungsphantasien", wie sie auch mancher Occupy-Anhänger verbreitet.

Das Glücksversprechen durch Konsum sei eine Illusion, sagt auch Gauck. Aber: "Ich akzeptiere das linke systemkritische Denken so lange, wie es das Vorhandene ernst nimmt und sich mit allen Kräften einsetzt, die Mängel zu überwinden." Auch diese Worte ließ Gauck gegenüber Sueddeutsche.de fallen. "Das Land mag kapitalistisch sein, aber es ist lernfähig", fügte er hinzu und bediente sich einer Metapher: "Wir schaffen den Fußball nicht ab, weil es Raubeine und Foulspiele gibt, aber wir setzen Regeln und sanktionieren den Regelverstoß." Ob es vor diesem Hintergrund klug war, alle Occupy-Anhänger über einen Kamm zu scheren, steht auf einem anderen Blatt.

Für Diskussionsstoff sorgen inzwischen auch wieder die von der "Berliner Zeitung" überlieferten Worte "töricht und geschichtsvergessen", mit denen Gauck im Jahr 2004 die Verwendung des Etiketts "Montagsdemonstration" für die Massenproteste gegen Sozialabbau und Hartz-IV-Gesetze kritisierte. Eingedampft wurde diese Äußerung auf einen vermeintlich demokratiefeindlichen und kaltherzigen Rundumschlag gegen die sozial engagierten Fürsprecher der Schwächsten. Gauck aber rügte lediglich die mitunter inflationäre Verwendung des historisch vorgeprägten Begriffs, siehe auch "Stuttgart 21". Prinzipiell sei er nämlich erfreut, "dass sich Bürger von ihren Sofas erheben und an der demokratischen Willensbildung teilnehmen“ - so gesagt im Tagesspiegel-Interview Ende vergangenen Jahres.

Und dann war da noch diese Sache mit der Vorratsdatenspeicherung. Bei einer Podiumsdiskussion in Wien warnte Gauck im Dezember 2010 vor einer von Angst getragenen "hysterischen Welle", nahm zugleich aber auch den Gesetzgeber in die Pflicht: "Wenn der Staat Rechte beschneidet, dann muss es verhältnismäßig sein. Ich will tragfähige Belege, was das Ganze bringt." Den Bürgern müsse erklärt werden, dass trotz berechtigter Sorgen "die Speicherung von Telekommunikationsdaten nicht der Beginn eines Spitzelstaates ist". Die jahrzehntelange "Übermacht der herrschenden Klasse" in der DDR habe da doch ein wenig anders ausgesehen. Manch einer hätte sich freilich gerade wegen dieser historischen Prägung eine skeptischere Haltung gewünscht.

In der Wiener Diskussionsrunde versuchte sich Gauck als sorgfältig abwägender Fürsprecher des Rechtstaats, obgleich nicht immer erfolgreich. Ein bedingungsloser Befürworter der Vorratsdatenspeicherung und des kritiklosen staatlichen Eingriffs in die Bürgerrechte ist er deshalb noch lange nicht. Gerade in der Netzgemeinde, die auf jegliche Kontroll- und Zensurversuche allergisch reagiert, sorgten die teils widersprüchlichen Formulierungen Gaucks für Befremden. Unter den Schlagwörtern "nogauck" und "notmypresident" finden sich bei Twitter zahllose Schimpftiraden von Nutzern, die sich durch Gauck nicht angemessen repräsentiert fühlen - inzwischen aber auch einige, die nach der Blogger-Exegese reuig zurückrudern.

Je nach Lesart und politischer Couleur lassen sich die Einlassungen Gaucks als naiv oder freigeistig, differenziert oder einseitig deuten. Gegner sehen darin den Beweis, dass der künftige Bundespräsident nicht weniger angreifbar ist als sein Vorgänger. Andere finden die ausgegrabenen Zitate aus dem Kontext gerissen oder gänzlich unproblematisch. Joachim Gauck jedenfalls bekommt in diesen Tagen einen Vorgeschmack darauf, wie sehr die Worte eines Bundespräsidenten auf die Goldschale gelegt werden. Auch wenn er noch im Wartestand ist.

Marc Kalpidis

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